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Kommentar

Der umstrittene Pieks

Die Impfraten in Deutschland und vielen anderen europäischen Ländern sind erschreckend niedrig. Eine Pflicht zum Impfen sei aber kein probates Gegenmittel, meint Rebecca Beerheide.

Es ist nur ein Nadelstich,

der großes Geschrei auslöst: Um das Impfen tobt seit Jahren ein Glaubenskrieg. Gegner wie Befürworter stehen sich in unüberbrückbaren Diskussionen gegenüber. Die Zahl der Skepti­ker steigt, Durchimpfungsraten sinken. Wer im Internet nach dem Begriff „Impfen“ sucht, findet viel mehr Kritisches als neutrale Informationen. Impfgegner haben ihre Webseiten so programmiert, dass Google sie schneller findet. Die sachlichen Informationen von Medizinern oder Krankenkassen dringen da nicht mehr durch. Der Skeptiker liest bei einer schnellen Recherche nur über mögliche, aber sehr geringe Gefahren. Ausgeblendet wird dabei das Positive für die eigene Gesundheit sowie die der gesamten Bevölkerung.

Impfen gehört zur Erfolgsgeschichte der Medizin.

Öffentliche Anlässe wie vor Kurzem die Europäische Impfwoche werben für die Vorsorge mit dem kleinen Pieks. Veröffentlicht wurden dieses Jahr aber erschreckend niedrige Durchimpfungsraten in Deutschland und bei den europäischen Nachbarn. Überall fehlt vor allem die zweite Masernimpfung. So exportiert Europa, als hochentwickelter Industriekontinent, die Masern und ihre Spätfolgen in weniger entwickelte Regionen der Welt. Das ist die schlechte Seite der Globalisierung.

Dabei gehört Impfen zur Erfolgsgeschichte der Medizin. Der Erfolg verkehrt sich leider ins Gegenteil: Aus dem kollektiven Gedächtnis ist verschwunden, wie schlimm Kinderlähmung, Diphtherie oder Tuberkulose sind. Auch in der medizinischen Versorgung wird das Wissen über diese Krankheiten weniger – fatal zu Zeiten, in denen diese Krankheiten doch noch nicht ausgerottet sind.

Zu Anlässen wie der Europäischen Impfwoche wird auch die Impfpflicht als Weg für bessere Impfraten diskutiert. Doch Pflichten bei der Gesundheitsvorsorge lösen selbst bei Befürwortern Abwehrreflexe aus. Statt einer starren Impfpflicht sollte es intelligente Einladungssysteme geben, mit denen Eltern und Erwachsene an die jeweiligen Impftermine erinnert werden – demnächst natürlich auch digital. Denn die meisten, bei denen der Impfschutz Lücken aufweist, haben den Termin für die zweite oder dritte Impfung schlicht vergessen. Sollte also aus der Vergesslichkeit vieler eine Pflicht für alle werden? Lieber nicht! Denn das würde Gegner und Zweifler nur bestätigen – und das Geschrei um den kleinen Pieks noch lauter werden lassen.

Rebecca Beerheide ist Leiterin der politischen Redaktion beim Deutschen Ärzteblatt.
Bildnachweis: privat