Ausgereift? Das Reformprogramm der Großen Koalition ist noch nicht ganz rund.
Gesundheitspolitik

Herbst der Entscheidungen

Wartezeiten, Pflegestellen, Digitalisierung, Finanzen: Die gesundheitspolitische Pipeline ist gut gefüllt. Doch nach Einschätzung des AOK-Bundesverbandes ist nicht alles, was Union und SPD planen, zu Ende gedacht. Von Thomas Hommel

Weiterentwicklung

des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs (Morbi-RSA), zusätzliches Personal in der Pflege, schnellere Termine bei Haus- und Fachärzten, mehr Schwung in der Digitalisierung: In diesem Herbst stehen gleich mehrere gesundheitspolitische Entscheidungen an.

Was den Konflikt um die weitere Ausgestaltung des Morbi-RSA betrifft, so sieht der AOK-Bundesverband jetzt den Moment für eine Lösung gekommen: „Aus den beiden Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesversicherungsamt lässt sich eine tragfähige Reform ableiten“, erklärte Verbandschef Martin Litsch bei einem Pressefrühstück kürzlich in Berlin. „Damit sorgt die Politik für Planungssicherheit bei den Kassen und schlichtet einen Dauerstreit.“

Alle Krankheiten berücksichtigen.

Laut Jens Martin Hoyer, Vorstandsvize des AOK-Bundesverbandes, enthält das erste Sondergutachten des Beirats beim Bundesversicherungsamt klare Handlungsvorgaben: „Wie von den Gutachtern vorgeschlagen, ist es sinnvoll, künftig alle Krankheiten im Morbi-RSA zu berücksichtigen, bei den Zuschlägen das Alter deutlicher zu gewichten und die Manipulationsresistenz zu stärken.“ Die AOK unterstütze sämtliche Vorschläge aus dem ersten Beiratsgutachten, obwohl sie für das AOK-System Zuweisungsverluste bedeuteten. „Aber für uns steht die Zielgenauigkeit des Morbi-RSA und der Abbau von Risikoselektion an erster Stelle.“

Ein sinnvoller Wettbewerb konzentriert sich auf eine effektive und effiziente Versorgung.

Insgesamt ließen sich die Empfehlungen der Gutachter zügig umsetzen, zeigten sich Litsch und Hoyer überzeugt. Beim zweiten Sondergutachten sieht die AOK-Gemeinschaft indes noch Anpassungsbedarf. So stelle das Gutachten zwar fest, dass die Kassenergebnisse kaum durch die regionale Verteilung von Versicherten beeinflusst werden. Auch fehle eine Begründung, worin ein Anreiz zur regionalen Risikoselektion überhaupt bestehen könne. „Dennoch schlägt der Beirat die kurzfristige Einführung regionaler Ausgleichskriterien vor. Das ist nicht sachgerecht“, so Hoyer. Regionale Ausgleichskriterien im RSA zementierten die Über- und Fehlversorgung in Ballungsräumen und benachteiligten strukturschwache Regionen.

Neben der RSA-Reform müsse die Politik auch den Wettbewerb zwischen den Kassen reformieren. „Ein sinnvoller Wettbewerb zwischen Krankenkassen konzentriert sich vor allem auf eine effektive und effiziente Versorgung.“ Damit das funktioniere, seien entsprechende Handlungsspielräume nötig, so Hoyer.

Strukturreformen gefragt.

Während die AOK beim RSA schnelle Lösungen für möglich hält, seien diese auf den aktuellen Reformbaustellen der Gesundheitsversorgung eher nicht zu erwarten, sagte Verbandschef Litsch. Es sei zwar gut, dass die Bundesregierung die Themen Pflege, Digitalisierung und Wartezeiten beim Arzt mit neuen Paragrafen angehe. „Das finden wir super, denn da muss die Politik ran.“

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn habe „das Glück, dass die gesetzlichen Kassen derzeit finanziell recht gut dastehen“. Die entscheidende Frage sei allerdings: „Bringen wir das Geld an die richtigen Stellen – und zwar so, dass sich die Versorgung dadurch nachhaltig verbessert.“ Eine „Gefälligkeitspolitik“, bei der nach Belieben Geschenke verteilt würden, sei nicht zielführend.

Mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) sollen gesetzlich Versicherte schneller Termine bei ihren Ärzten bekommen. Damit werden die Aufgaben der Terminservicestellen erweitert und niedergelassene Ärzte verpflichtet, mehr Sprechstunden anzubieten. In unterversorgten und von Unterversorgung bedrohten Regionen müssen Kassenärztliche Vereinigungen künftig eigene Praxen eröffnen oder Versorgungsalternativen anbieten. Außerdem wird der Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung erweitert. Schließlich werden die Krankenkassen verpflichtet, für ihre Versicherten elektronische Gesundheitsakten bis spätestens 2021 anzulegen.

 

 Weitere Informationen zum Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG)

 

Offensive für den ländlichen Raum.

Für Patienten wie Versicherte besteht das eigentliche „Topthema“ laut AOK darin, die medizinische Versorgung auf dem Land sicherzustellen. „Was wir brauchen, ist eine groß angelegte Versorgungsoffensive für den ländlichen Raum“, erklärte Litsch. Zwar enthalte der von Gesundheitsminister Spahn vorgelegte Entwurf für ein Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) „ein paar Ansatzpunkte“, um die ärztliche Versorgung zu verbessern. Dazu gehörten etwa die Investitionskostenzuschüsse aus dem Strukturfonds bei Neuniederlassungen von Ärzten. „Realistisch betrachtet bleiben wir damit aber im Klein-Klein stecken. Nachhaltige Verbesserungen durch echte Strukturreformen bleiben weiter aus.“

Der AOK-Vorstandschef betonte, es müsse gezielt in Strukturanpassungen investiert werden. Neben einer besseren Verzahnung ambulanter und stationärer Strukturen gehörten dazu auch mobile Angebote der Ärzte – vergleichbar dem „Bäckerbus“, der als rollende Backstube über das Land fahre. Auch müsse die Fernbehandlung ausgebaut werden. Die AOK-Gemeinschaft engagiere sich hier bereits gezielt – und sie werde dieses Engagement weiter ausbauen.

Es sei aber auch Aufgabe der ärztlichen Selbstverwaltung, die Versorgung durch Ärzte sicherzustellen. Hierfür hätten die Kassenärztlichen Vereinigungen allein 2017 rund 42,6 Milliarden Euro von den gesetzlichen Kassen bekommen. Skeptisch äußerte sich Litsch dazu, dass Ärzte gesondert vergütet werden sollen, wenn sie Patienten behandeln, die über eine Terminservicestelle vermittelt werden. Dadurch entstehe ein Anreiz, solche Patienten bevorzugt aufzunehmen und am Ende vorzugsweise „diesen Kanal“ zu bedienen.

Tempo bei der Patientenakte.

Noch an anderer Stelle meldet der AOK-Bundesverband Nachbesserungsbedarf an: Zwar bringe das TSVG mehr Schwung in die Digitalisierung des Gesundheitswesens, stellte Litsch fest. Der Wettbewerb um neue Lösungen lasse sich aber nur ankurbeln, wenn Paragraf 67 im Fünften Sozialgesetzbuch zum Ausbau der elektronischen Kommunikation zwischen Leistungserbringern und Krankenkassen um die Gruppe der Patienten erweitert werde. „Dann wären die drei relevanten Gruppen versammelt.“ Außerdem sei die Rolle der gematik im Sinne einer Netzagentur neu zu definieren. Die Akten selber seien von den Kassen zu entwickeln und anzubieten. Hier sei Tempo gefragt. „Wir dürfen dieses Feld nicht anderen überlassen.“

Die Kritik der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), die im Digitalen Gesundheitsnetzwerk der AOK vorgesehene dezentrale Speicherung von Daten sei unsicher und lade zu Hackerangriffen ein, sei „falsch“, so Litsch. Vielmehr biete gerade die dezentrale Speicherung ein hohes Maß an Sicherheit. „Dezentrale Datenspeicherung ist der beste Schutz vor Datenklau, denn es gibt bei diesem Modell nicht den einen großen Pott, auf den sie zugreifen können“, betonte AOK-Vorstandsvize Hoyer. Als irreführend wiesen Litsch und Hoyer auch den Vorwurf zurück, das Netzwerk greife zum Datenaustausch in die Praxisverwaltungssysteme der Ärzte ein. „Die Vorstellung, wir krabbeln wie eine Krake über Diagnosen und Rechnungen des Arztes, ist falsch.“ Die Kasse habe keinen Zugriff auf die Daten. Hierzu gebe es im Übrigen strikte Vorgaben. „Würden wir die untergraben, wäre unser Projekt tot.“

Mit dem Gesetz zur Stärkung des Pflegepersonals (PpSG) will die Große Koalition erste Schritte bei der Behebung des Fachkräftemangels einleiten. So sollen in der stationären Altenpflege ab dem kommenden Jahr 13.000 Stellen neu geschaffen und von den gesetzlichen Krankenkassen ohne finanzielle Beteiligung der Pflegebedürftigen finanziert werden. Der Verteilungsschlüssel soll wie folgt aussehen: Einrichtungen mit bis zu 40 Bewohnern bekommen eine halbe Stelle zusätzlich, Einrichtungen mit 41 bis 80 Bewohnern eine ganze, Einrichtungen mit 81 bis 120 Bewohnern eineinhalb und Einrichtungen mit mehr als 120 Bewohnern zwei Pflegestellen. Der Kabinettsentwurf beziffert die Mehrausgaben der Krankenkassen bis einschließlich 2022 auf knapp neun Milliarden Euro. Am stärksten schlagen die rund 640 Millionen Euro jährlich für die Finanzierung der zusätzlichen Stellen in Pflegeheimen zu Buche. Auf die Pflegeversicherung kommen im gleichen Zeitraum 900 Millionen Euro zusätzlich zu.

 

 Weitere Informationen zum Gesetz zur Stärkung des Pflegepersonals (PpSG)

Pflegekompetenz gezielt nutzen.

Zurückhaltend bewertet der AOK-Vorstand das geplante Pflegepersonal-Stärkungsgesetz (PpSG). Der Ansatz, für mehr Personal in Kliniken und Pflegeeinrichtungen zu sorgen, sei grundsätzlich zu begrüßen. Schnelle Lösungen seien aber nicht zu erwarten, so Litsch. Schon heute seien Tausende Pflegestellen unbesetzt. Die Wiederbesetzung einer dieser Stellen dauere im Schnitt 170 Tage. „Neue Pflegekräfte kann man sich nicht schnitzen, es wird also keine einfachen Lösungen geben. Darauf und auf die programmierten Beitragserhöhungen muss die Politik die Menschen vorbereiten.“

Ein grundsätzliches Problem bestehe darin, so Litsch weiter, „dass wir die Pflegekompetenz auf zu viele Stellen verteilen, weil wir uns zu viele Krankenhäuser leisten“. Daher brauche es – auch vor dem Hintergrund der Personalengpässe – einen Qualitätsumbau der Kliniklandschaft, der mit einer Konzentration von Leistungen einhergehe.

Thomas Hommel ist Chefreporter der G+G.
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