Interview

„Manchmal werde ich Rammbock sein müssen“

Niedrigschwellige Angebote für Pflegebedürftige und Angehörige, mehr qualifiziertes Personal in Heimen und Kliniken: Im G+G-Interview erklärt der neue Pflegebevollmächtigte des Bundes, Andreas Westerfellhaus, wie er für die Pflege kämpfen will – und was er seiner Tochter bei diesem Thema rät.

Herr Westerfellhaus, Gesundheitsminster Jens Spahn hat keinen Parteikollegen, sondern Sie – den ehemaligen Präsidenten des Deutschen Pflegerates – zum neuen Bevollmächtigen für Pflege berufen. Waren Sie überrascht?

Andreas Westerfellhaus: Als Jens Spahn nominiert wurde, habe ich ihn zum neuen Amt beglückwünscht. Ich habe ihm gesagt, wenn er einen Mitstreiter beim Thema Pflege braucht, stehe ich bereit. Als er mir die Frage konkret gestellt hat, gab es natürlich die Anstandssekunde, die man sich für eine Antwort Zeit nimmt. Aber dann folgte schnell ein Ja.

Aber Sie sind nun Teil der offiziellen Pflegepolitik und somit Adressat der Forderungen, die Sie viele Jahre lang selbst für die Pflegeprofession formuliert haben. Wie gelingt der Seitenwechsel?

Westerfellhaus: Der Fokus bleibt ja derselbe. Pflege ist die wichtigste gesundheitspolitische Herausforderung dieses Jahrzehnts. Dafür zu kämpfen, lohnt sich. Egal, auf welcher Seite man steht.

Sie haben nach 40 Jahren noch immer nicht genug von Pflege?

Westerfellhaus: Warum sollte ich? Ich habe schon kurz vor dem Ende meiner Amtszeit als Pflegerats-Präsident gesagt, dass ich weiterhin großes Interesse habe, mich in der Gesundheits- und Sozialpolitik zu engagieren. Zu Hause bleiben und Rasenmähen ist nichts für mich. Dafür sind in+

Wo drückt denn in der Pflege der Schuh am meisten?

Westerfellhaus: Die zentrale Frage ist: Wer erbringt die dringend notwendigen Pflegeleistungen? Wenn wir darauf keine Antwort finden, laufen die Pflegereformen der vergangenen Legislaturperiode ins Leere.

„Mehr Kompetenz für Pflegefachkräfte ist kein Selbstzweck. Es geht um eine bessere Versorgung.“

Und was kann der neue Pflegebevollmächtigte da tun?

Westerfellhaus: Er kann die Politik beharrlich an die noch anstehenden Hausaufgaben in punkto Pflege erinnern und auf Lösungen drängen. Mein Ziel jedenfalls ist es, dass alle, die Pflege direkt oder indirekt angeht – Patienten, Heimbewohner, Angehörige wie auch professionell Pflegende – möglichst rasch merken, dass unser Pflegesystem noch besser wird. Dass sie merken: Politik und Gesellschaft lassen mich nicht im Regen stehen. Das bereitet den Menschen doch die größte Sorge.

So wie kürzlich in einer Folge des „Tatort“, in der ein Mann seine pflegebedürftige, demenzkranke Frau mit einem Kissen erstickt, weil er mit der Pflegesituation überfordert ist?

Westerfellhaus: Ich habe diese Folge gesehen – so wie zehn Millionen andere Zuschauer auch. Mich hat das sehr betroffen gemacht, auch wenn es filmische Fiktion ist. Aber sie spiegelt auch ein Stück weit Realität wider. Und da sage ich ganz klar: Es kann und darf nicht sein, dass Menschen, die in dieser Gesellschaft über Jahrzehnte ihre Leistungen erbringen, Steuern und Beiträge bezahlen und auf den Sozialstaat vertrauen, dann, wenn sie ihn brauchen, in eine Situation geraten, in der sie Angst haben. Jeder sollte darauf vertrauen können, im Falle von Pflegebedürftigkeit menschenwürdig versorgt zu werden.

Machen viele Menschen nicht aber einen großen Bogen um das Thema Pflege, solange sie nicht persönlich betroffen sind?

Westerfellhaus: Pflege obliegt einer immensen Verdrängung. Sagen Sie mal meiner Tochter, die gerade Mutter geworden ist, sie soll an Pflege denken. Die erklärt mir: Papa, das hat noch Zeit.

Und was antwortet ihr der Papa?

Westerfellhaus: Dass Pflege nichts mit dem Alter zu tun hat. Pflegebedürftigkeit kann uns jeden Tag erwischen. Aber klar ist eben auch: Welcher Mensch will sich schon mit einem Zustand beschäftigen, den er nicht erreichen möchte. Wenn ich über die Versicherung für mein neues Auto nachdenke, sage ich: Okay, ist wichtig. Zusatzrente? Klar, ich will ja im Alter einen ordentlichen Lebensstandard. Bei all dem ist die Bereitschaft zur Vorsorge da. Bei der Pflege ist das anders. Aber es bewegt sich etwas.

Inwiefern?

Westerfellhaus: Das Thema Pflege kommt langsam aber sicher in der Mitte der Gesellschaft an. Das liegt auch daran, dass pflegebedürftige Menschen, Angehörige und eine zunehmend selbstbewusster werdende Pflegeprofession das Thema immer mehr in die Öffentlichkeit tragen. Dazu hat auch der Deutsche Pflegetag mit seinen Partnern beigetragen. Schon in der letzten Legislaturperiode hatte Pflege einen deutlich größeren Stellenwert in der öffentlichen Diskussion. Aber da ging es um die Leistungsseite. Die Leistungserbringer wurden vergessen. Meine Berufung zum Pflegebevollmächtigten ist somit ein Signal, die Sicht der Pflegeprofession stärker und sehr viel direkter in die Gesundheitspolitik einfließen zu lassen.

"Pflege hat nichts mit dem Alter zu tun. Pflegebedürftigkeit kann uns jeden Tag erwischen."

Der Pflegebevollmächtigte als Sprachrohr für gut eine Million Pflegeprofis in Deutschland – ist das Ihre Rolle?

Westerfellhaus: Ich bin Sprachrohr, Zuhörer, Anwalt – und ich werde manchmal Rammbock sein. Das ist auch gut so. Denn dadurch entsteht für mich die Möglichkeit, Transmitter in Politik und Gesellschaft zu sein und beiden die große Bedeutung des Themas Pflege vor Augen zu führen. Ich würde mir wünschen, dass Pflegebedürftige, Angehörige und professionell Pflegende dabei felsenfest hinter mir stehen.

In der zurückliegenden Legislaturperiode hat es zahlreiche Reformen gegeben. Viele neue Pflegeleistungen und eine komplett veränderte Sicht auf Pflege in Form eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs sind das Ergebnis. Wie viel an Information und Aufklärung braucht es noch, um den Menschen die Neuerungen nahe zu bringen?

Westerfellhaus: Es gibt bereits viele gute Informationsquellen. Selten ist eine so gravierende Veränderung im Gesundheitsbereich derart reibungslos über die Bühne gegangen wie der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff. Aber die Menschen finden sich oftmals sehr plötzlich in einer Situation wieder, in der sie mit einem Pflegefall konfrontiert sind und einiges zu organisieren haben. Da verliert man leicht den Kopf: Wer hilft mir jetzt weiter? Welche Leistungen brauche ich und wo kriege ich das alles her? Seien wir ehrlich: Nur die wenigsten – mich eingeschlossen – sind darauf wirklich eingestellt. Deshalb ist es wichtig, den betroffenen Menschen mit niedrigschwelligen, unbürokratischen Beratungs- und Hilfsangeboten weiterzuhelfen. Wenn ein Familienmitglied zum Pflegefall wird, dann möchte man ihm rasch helfen und nicht erst wochenlang Dutzende von Antragsformulare ausfüllen. Pflegekassen und Kommunen machen hier bereits einen guten Job – aber natürlich gibt es noch Luft nach oben. Entscheidend ist allerdings: Wenn die vielen neuen Prozesse und Leistungen greifen sollen, brauchen wir dafür ausreichend viele qualifizierte und motivierte Pflegekräfte. Das erwartet die Gesellschaft – und hier sehe ich den größten Nachholbedarf.

Von heute auf morgen werden aber nicht Tausende neue Pflegefachkräfte examiniert sein und auf dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen.

Westerfellhaus: Es braucht wie so häufig im Gesundheitswesen  den langen Atem. Aber was ist die Alternative? Die Hände in den Schoß legen und sagen: Sorry, wir können nichts tun? Nein. Es braucht qualifiziertes Personal. Und ich warne davor, zu sagen: Wir haben jetzt weniger qualifizierte Leute in der Pflege, also definieren wir mal eben neu, was unter einer Fachkraft zu verstehen ist. Eine Pflegefachkraft hat für mich immer eine mindes­tens drei­jährige Ausbildung absolviert. Da beißt die Maus keinen Faden ab.

Und wie kriegt man das hin – mehr Personal?

Westerfellhaus: Es ist ein großer, bunter Blumenstrauß an Maßnahmen, um junge Menschen für den Pflegeberuf zu begeistern und zu gewinnen. Das fängt mit der Ausbildung an. Wir müssen schon in den Jobbörsen, was ja viele Schulen tun, zeigen, was  attraktiv am Pflegeberuf ist. Auch die Pflegeausbildung ist weiterzuentwickeln. Dazu gehört für mich die Einbindung neuer Lerninhalte, neuer Lernstrukturen wie E-Learning oder Blended Learning, aber auch die Einbringung digitaler Kommunikationsmöglichkeiten. Wir müssen jungen Menschen zeigen: Der Pflegeberuf ist attraktiv, das ist erfüllende Arbeit an und mit Menschen, aber der Beruf ist auch modern ausgestaltet.

Ihr Vorgänger im Amt des Pflegebevollmächtigten, Karl-Josef Laumann, hat sich für eine stärkere Berufsvertretung der Pflege in Form von Kammern ausgesprochen. Löst das wirklich die Probleme der Pflegeprofession?

Westerfellhaus: Der Zug in Richtung Selbstverwaltung rollt, der ist nicht mehr aufzuhalten. Und das war auch nie Selbstzweck, wie man den Pflegeverbänden, die sich für Berufskammern stark gemacht haben, unterstellt hat. Die Pflegeprofession hat wie andere Berufsgruppen im Gesundheitswesen auch das Recht, sich selbst zu verwalten, Spielregeln der Berufsausübung zu definieren und zu überwachen und sich eine starke Stimme gegenüber anderen Leistungserbringern und der Politik zu verschaffen. Es kann nicht sein, dass andere für die Pflege und über die Pflege sprechen, nur nicht die Pflegeprofession selbst.

Zankapfel zwischen Pflege- und Ärzteverbänden ist seit Langem die Forderung nach mehr Eigenständigkeit der Pflege. Stichwort Delegation und Substitution. Mischen Sie sich hier weiter ein?

Westerfellhaus: Mehr Kompetenz für Pflegefachkräfte ist kein Selbstzweck – nach dem Motto: Nun gebt denen mal ein bisschen mehr Eigenständigkeit und dann sind die glücklich. Eine Neuverteilung von Aufgaben muss immer ein Mehr an Versorgungsqualität zum Ziel haben. Deswegen mische ich mich ein. Professionelle Pflege hat Kompetenzen, die andere nicht haben. Und wenn das so ist, gehört sie auch eingesetzt.

Haben Sie ein Beispiel parat?

Westerfellhaus: Nehmen Sie die Versorgung chronischer Wunden. Mir soll bitte mal einer erklären, warum der ambulante Pflegedienst, der qualifiziert dafür ist und als allererstes beim Patienten aufschlägt, nicht auch derjenige ist, der die chronische Wunde diagnostiziert und Entscheidungen für weitere therapeutische Schritte trifft – bei Bedarf unter Einbeziehung eines Gefäßchirurgen oder Internisten. Das ist für mich patientenorientierte Versorgung. Den Patienten oder Pflegebedürftigen interessiert doch nicht so sehr die Frage, wer seine Wunde versorgt. Er möchte, dass seine Wunde kompetent und ordentlich versorgt ist. Und das kann Pflege gut.

Thomas Hommel führte das Gespräch. Er ist Chefreporter der G+G.
Stefan Boness ist freier Fotograf.