Interview

„Gewalt in der Pflege geht uns alle an“

Aus dem Schatten hinein ins Licht: Für den Forscher und Stiftungsleiter Dr. Ralf Suhr ist Pflege endgültig in der Mitte der ­Gesellschaft angekommen. Das heißt für ihn aber auch, das Tabuthema Gewalt nicht auszuklammern und mehr in ­Prävention und Fehlerkultur zu investieren.

Herr Dr. Suhr, Sie gehören mit Sicherheit zu den glücklichsten Menschen im deutschen Gesundheitswesen.

Ralf Suhr: Wie kommen Sie darauf?

Sie stehen einer Stiftung vor, die sich ganz der Pflege verschrieben hat, und Pflege ist derzeit ein Megathema: Politiker reden darüber, Medien schreiben darüber und die Gellschaft verfolgt das alles gespannt mit.

Suhr: Das stimmt, war aber lange Zeit anders. Vor zehn Jahren fristete das Thema noch ein Nischendasein. Die meisten  Menschen machten einen Bogen drum herum. Heute ist Pflege allgegenwärtig. Etwa drei Viertel der Menschen in Deutschland sind betroffen – direkt oder indirekt.

Sie auch?

Suhr: Meine Großmutter braucht Unterstützung. Ein Pflegefall ist sie nicht.

Wollten Sie gerade noch ein „Gott sei Dank“ hinzufügen?

Suhr: Nein, wenngleich wir aus Befragungen wissen, dass Pflege auf der persönlichen Ebene noch oft mit Scham und Angst besetzt ist. Das ist verständlich. Wer denkt schon gerne über einen Zustand nach, in dem er auf fremde Hilfe angewiesen ist. Es ist aber auch gefährlich, das Thema für sich auszublenden.

Warum?

Suhr: Wer Pflege nicht wahrhaben will, kann auch die Möglichkeiten nicht aktiv beeinflussen, um Pflegebedürftigkeit im Alter zu vermeiden oder zumindest hinauszuschieben. Pflege ist nicht nur eine Schicksalsfrage. Wir können in den meisten Fällen auch etwas für unsere Gesundheit tun, um möglichst lange fit zu bleiben. Körperlich wie geistig.

Zuletzt sind die Leistungen und Hilfsangebote in der Pflege noch einmal deutlich erweitert worden. Das ist gut. Aber droht Pflege damit nicht auch ein Stück weit entprivatisiert zu werden, weil viele meinen: Staat und Pflegekassen kümmern sich schon, wenn es zum Pflegefall kommt?

Suhr: Diese Gefahr sehe ich nicht. Unsere Untersuchungen zeigen, dass die Mehrheit der Deutschen sagt, dass Pflege wenn geht im familiären Kreis stattfinden sollte. Das passiert im Übrigen auch: Rund 73 Prozent der Pflegebedürftigen werden zu Hause versorgt, zumeist ausschließlich oder auch durch einen der etwa 4,7 Millionen pflegenden Angehörigen. Viele holen sich ambulante Dienste hinzu, was gut ist. Denn die Pflege des kranken Ehemannes oder der dementen Großmutter ist ein Vollzeitjob. Wenn wir über häusliche Pflege reden, sprechen wir über 37 Stunden in der Woche, die das im Schnitt kostet. Das geht an die Substanz.

„Wir müssen über Gewalt in der Pflege reden.“

Was leistet das Zentrum für Qualität in der Pflege, um Menschen in dieser Situation zu helfen?

Suhr: Wir versehen uns als interdisziplinäres Wissensinstitut. Das heißt, wir betreiben Forschung, wollen diese Erkenntnisse aber auch in den Alltag der Menschen transportieren. So haben wir allein im vergangenen Jahr mehr als 65.000 Bücher zu Themen wie Ernährung, Demenz in der Partnerschaft oder Inkontinenz kostenfrei an pflegende Angehörige, professionell Pflegende und an Pflegeschulen verschickt. Der Fokus bei all dem lautet: Was macht gute Pflege aus?

Und wie lautet die Antwort?

Suhr: Pauschal lässt sich das nur schwer beantworten. Aber wenn ich einen Versuch wagen darf, würde ich generell sagen: Pflege ist gut, wenn sie die Wünsche und Bedürfnisse eines pflegebedürftigen Menschen beachtet, auf diese Bedürfnisse eingeht und zu möglichst viel Lebensqualität und Selbstständigkeit beiträgt.

Das klingt jetzt aber arg akademisch. Die Wirklichkeit dürfte ein wenig anders aussehen.

Suhr: Ich gehe davon aus, dass das Gros der Menschen, die pflegen – sei es privat oder professionell – das sehr liebevoll tut und sich den genannten Grundsätzen verpflichtet fühlt. Fakt ist aber auch, dass wir, wenn wir über Pflege sprechen, auch über Dinge wie verbale Übergriffe und Vernachlässigung reden müssen.

Wir müssen also über Gewalt in der Pflege reden?

Suhr: Ja. Unsere Stiftung tut das auch seit gut zehn Jahren, wobei unser Hauptanliegen eine stärkere Gewaltprävention in den Einrichtungen ist. Sie ist Grundvoraussetzung für gute Pflege.

„Gewaltprävention darf bei der Reform der Pflegenoten nicht außen vor bleiben.“

Übergriffe, Vernachlässigung – wie drückt sich die Gewalt konkret aus?

Suhr: Zunächst einmal: Sowohl Pflegende als auch Pflegebedürftige können gewaltsam handeln. Die Palette reicht von verbaler Herabwürdigung über Missachtung bis hin zu körperlicher und sexueller Gewalt. Pflegebedürftige, die sich schlecht wehren oder schwer mitteilen können, sind besonders verletzlich. Gewalt bedeutet für sie, dass sie beschimpft oder hart angefasst werden, ihr Selbstbestimmungsrecht missachtet und ihnen Hilfe vorenthalten wird. Ein Beispiel: Ein Heimbewohner klingelt nach einer Pflegekraft, weil er auf die Toilette muss. Er wartet geschlagene 45 Minuten, bis jemand kommt, der ihm hilft. Das ist auch eine Form von Gewalt – machen wir uns nichts vor.

Könnte das nicht auch Ausdruck von zu wenig Personal auf der betreffenden Station sein? Es gibt nicht wenige Pflegekräfte, die berichten, dass sie nachts für Dutzende von Heimbewohnern gleichzeitig zuständig sind.

Suhr: Das will ich gar nicht leugnen. Gewalt in der Pflege hat oft auch strukturelle Ursachen wie einen zu niedriegen Personalschlüssel. Und das ist inakzeptabel. Denn gute Pflege gibt es nur, wenn genügend fachlich versierte und motivierte Fachkräfte zur Verfügung stehen. Alles andere ist eine Illusion. Der Mangel an Pflegekräften ist im Übrigen einer der größten Herausforderungen, vor der wir stehen. Die lässt sich nicht von jetzt auf gleich lösen. Was wir aber sofort tun können, ist, Pflegeeinrichtungen in Deutschland zu mehr Gewaltprävention zu bewegen. Gewalt in der Pflege geht uns alle an.

Sie sehen in diesem Punkt Nachholbedarf?

Suhr: Wir haben uns 2017 in einer Studie die Rahmenbedingungen zur Gewaltprävention in Pflegeeinrichtungen einmal genauer angeschaut. 46 Prozent der befragten Pflegeverantwortlichen gaben an, dass es in ihren Heimen kein speziell zur Vorbeugung und für den Umgang mit Aggression und Gewalt geschultes Personal gibt. 28 Prozent berichteten, dass Gewaltvorkommnisse nicht in ein Fehlerberichtssystem eingespeist werden können. In 20 Prozent der Einrichtungen ist das Thema nicht ausdrücklich Bestandteil des Qualitätsmanagements. Das ist ernüchternd. Dabei gibt es viele Einrichtungen, die engagiert vorleben, dass Gewaltprävention funktioniert.

Was machen die anders?

Suhr: Sie bedienen sich wirksamer Alternativen zu belastenden und gefährlichen freiheitsentziehenden Maßnahmen wie den umstrittenen Fixierungen ans Bett. Auch bei der Fehlerkultur und einer gewaltsensiblen Qualitätssicherung nutzen sie Gestaltungsmöglichkeiten besser aus. Einrichtungen, die hier erfolgreich sind, müssen stärker belohnt und als vorbildlich hervorgehoben werden. Ich halte es für einen Fehler, dass die Gewaltprävention bei der Bewertung und Darstellung von Pflegequalität aktuell kaum Beachtung findet.

Und was fordern Sie konkret?

Suhr: Die Politik hat sicherzustellen, dass sich mit der Reform der Pflegenoten hier etwas grundlegend ändert. Gewaltprävention muss ein zentraler Punkt der pflegepolitischen Agenda sein. Das darf bei der Reform der Pflegenoten nicht außen vor bleiben.

„Wir sollten alles tun, um pflegende Angehörige so gut es geht zu informieren.“

In den vergangenen Jahren gab es drei Pflegereformen. Aus einer Befragung Ihres Instituts geht nun hervor, dass zwar 90 Prozent der Befragten von den Reformen wissen, aber Leistungsausweitungen anscheinend nur bedingt wahrnehmen und Angebote teilweise nicht nutzen. Was läuft da schief?

Suhr: Unsere Analysen zeigen Licht und Schatten. Angehörige berichten von Verbesserungen seit dem Start der Reformen. Zugleich stellen wir fest, dass die Leistungsausweitungen noch nicht in erhofftem Maße in der häuslichen Pflege angekommen sind. Dabei spielt sicher auch eine Rolle, dass notwendige Angebote wie Tagespflegeeinrichtungen nicht überall in ausreichen­dem Umfang vorhanden sind.

Liegt womöglich auch ein Informationsdefizit vor?

Suhr: Mit Sicherheit. Es lässt schon aufhorchen, dass 44 Prozent der Befragten angeben, dass sie sich nicht wirklich gut über ihre Ansprüche als Pflegende informiert fühlen. Professionelle Beratung ist und bleibt somit ein zentraler Schlüssel zu guter Pflege. Denn nur wer weiß, welche Leistungen er wie und wo bekommt, kann Pflege auch bestmöglich organisieren.

Pflegekassen wie die AOK tun auf diesem Feld bereits sehr viel. Müssen sie noch mehr tun?

Suhr: Ich sehe da alle in der Pflicht, denn es handelt sich um eine Bring- und Holschuld. Pflegeberatung durch die Kassen und Pflegeschulungen in der eigenen Häuslichkeit, an denen Angehörige teilnehmen – beides ist wichtig. Pflegende Angehörige haben auf die Angebote einen Anspruch. Sie müssen ihn aber auch einlösen.

Was sie nicht tun?

Suhr: Was sie nur begrenzt tun. Unsere Zahlen besagen: Pflegeberatung haben weniger als die Hälfte der Befragten – genauer gesagt 42 Prozent – genutzt. Einen kostenlosen Pflegekurs besuchen sogar nur acht Prozent. Das ist mit Sicherheit zu wenig, gerade angesichts der besonderen Belastungen, denen pflegende Angehörige ausgesetzt sind. Diejenigen, die geschult sind, nehmen die Belastungen häuslicher Pflege nicht so stark wahr wie jene, die die Schulungen nicht machen.

Die 83-jährige Ehefrau, die ihren 90-jährigen Mann zu Hause pflegt, hat womöglich keine Kraft mehr, sich abends noch in Fragen zu Inkontinenz und Demenz schulen zu lassen?

Suhr: Richtig. Aber wir sollten dennoch alles tun, um pflegende Angehörige so gut es geht zu informieren, aufzuklären und auch zu schulen. Im Bereich der Medizin spricht man seit geraumer Zeit von der wachsenden Bedeutung der Health Literacy – der Kompetenz also, gesundheitsrelevante Informationen zu verstehen und angemessen damit umzugehen. Über Care Literacy – die Kompetenz zu pflegen – spricht kaum einer. Dabei wissen wir seit Langem: Wir müssen auch häusliche Pflege lehren, um den Pflegealltag der Menschen zu erleichtern. Nur so können wir verhindern, dass aus einem pflegenden Angehörigen irgendwann selbst ein Pflegefall wird.

Thomas Hommel führte das Gespräch. Er ist Chefreporter der G+G.
Marc-Steffen Unger ist Fotojournalist.