Ärztliche Aufklärung

Klinik muss Schadenersatz zahlen

Bei neuen, noch nicht allgemein eingeführten Operationsverfahren müssen Ärzte explizit darauf hinweisen, dass die Risiken nicht abschätzbar sind und unbekannte Komplikationen auftreten können. Andernfalls ist die Einwilligung des Patienten unwirksam und der Eingriff rechtswidrig. Dies hat das Oberlandesgericht Hamm entschieden. Von Anja Mertens

Urteil vom 26. Januar 2018
– 26 U 76/17 –
Oberlandesgericht Hamm

Die medizinische Forschung

hat beachtliche Fortschritte erzielt. Studien, Forschungsvorhaben und Zukunftsvisionen in der Medizin wecken große Hoffnungen: Chancen für den Schutz und die Bewahrung menschlichen Lebens, für die Heilung und Linderung von körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen. Jeder Fortschritt und jede technische Möglichkeit bergen aber auch die Gefahr in sich, zum Schaden der Gesundheit angewandt zu werden.

So geschehen im Fall einer Patientin. Die heute 62-Jährige litt an einer Belastungsharninkontinenz. Symptomatisch dafür ist, dass Urin beim Husten, Lachen, Niesen oder plötzlichen Körperbewegungen austritt. Die Ursachen hierfür liegen häufig in einer Bindegewebsschwäche oder Schwächung der Beckenboden­muskulatur infolge des Absinkens der inneren Organe wie der Blase oder der Gebärmutter. Im April 2008 ging die Patientin in die urodynamische Sprechstunde eines Krankenhauses. Dort schlug ihr der untersuchende Arzt vor, ein synthetisches, vom Körper nicht abbaubares Spezialnetz im Beckenbodenbereich zu implantieren, das ins Gewebe einwächst. Das Netz bringe gesenkte Organe in die richtige Position und übernehme die stützende Funktion der Beckenbodenmuskeln und der Bänder. Hierbei handelt es sich um eine im Jahr 2008 nicht all­gemein eingeführte sogenannte Neulandmethode. Nach einem ärztlichen Auf­klärungsgespräch stimmte die Frau der empfohlenen Operation zu, unterschrieb die Aufklärungs- und Einverständnis­formulare und ließ sich noch im gleichen Monat operieren. Im Juli suchte die Patientin erneut die Klinik auf, weil sie seit der Operation an Schmerzen beim Geschlechtsverkehr (Dyspareunie) litt. Die Ärzte vermuteten, dass die Schmerzen durch eine Strangbildung im Bereich des Vaginalstumpfes verursacht würden. Da sich keine Besserung einstellte, entfernten Ärzte einer anderen Klinik im Dezember 2008 einen Teil des implantierten Netzes. Im März und April 2009 folgten vier weitere Operationen. Doch die Schmerzen blieben.

Haftungsrelevante Vorgaben des Medizinproduktegesetzes, Anforderungen an die ärztliche Sorgfalt und die Organisation der Gesundheitseinrichtung, Beurteilung kon­kreter Fälle – diese und weitere Themen be­handelt das Seminar „Haftung bei fehlerhaften Medizinprodukten“. Es fand am 15. Juni in Stuttgart statt.  Veranstalter ist die Deutsche Anwaltakademie.

Schmerzensgeld gefordert.

Schließlich verklagte die Patientin das erstbehandelnde Krankenhaus vor dem Landgericht und forderte unter anderem mindestens 50.000 Euro Schmerzensgeld. Sie sei unzureichend über alternative Behandlungsmethoden und Risiken der Neulandmethode aufgeklärt worden. Der Eingriff habe ihre Inkontinenz verschlimmert. Bis zur Entfernung des vorderen Netzes sei kein Geschlechtsverkehr mehr möglich gewesen und danach nur noch unter Schmerzen. Gestützt auf ein gynäkologisches Sachverständigengutachten verurteilte das Landgericht das Krankenhaus dazu, der Patientin 35.000 Euro Schmerzensgeld zu zahlen sowie für zukünftige Schäden und vorgerichtliche Anwaltskosten aufzukommen. Begründung: Der operative Eingriff im April 2008 sei nicht von einer wirksamen Einwilligungserklärung gedeckt gewesen. Die Patientin sei nicht darüber aufgeklärt worden, dass es keine Standardoperation gewesen sei und kaum Erfahrungen über Risiken und mögliche Komplikationen vorlägen. Gegen dieses Urteil legte die Klinik Berufung beim Oberlandesgericht ein. Die Patientin sei über die Neuartigkeit der Methode aufgeklärt worden und hätte erkennen müssen, dass die Risiken noch nicht mit Langzeitstudien belegt werden könnten.

Bei neuen Methoden, die kein Standard sind, muss die ärztliche Aufklärung äußerst sorgfältig erfolgen.

Zur besonderen Aufklärung verpflichtet.

Das Oberlandesgericht wies die Berufung zurück. Der Eingriff sei rechtswidrig gewesen, weil die Patientin nicht wirksam in die Behandlung eingewilligt habe. Die Patientin sei zwar darüber informiert worden, dass es noch andere operative und gegebenenfalls konservative Behand­lungs­alternativen gebe. Die Ärzte hätten sie jedoch nicht darüber aufgeklärt, dass die Erprobungsphase der Neuland­methode nicht abgeschlossen sei und zum Zeitpunkt der Operation noch keine belastbaren Informationen über kon­krete Risiken vorlägen. Nach Angaben des medizinischen Sachverständigen sei die Netztechnik seinerzeit in Operations­büchern als „originell und außerordentlich verheißungsvoll“ dargestellt worden, aber die klinische Erprobung habe noch angedauert. Letztendlich sei zu diesem frühen Zeitpunkt noch gar nicht absehbar gewesen, ob diese Operationsmethode auf Dauer angewendet werde. So sei zunächst nicht bekannt gewesen, dass das Einsetzen eines synthetischen Netzes im Beckenbodenbereich massive gesundheitliche Probleme nach sich ziehe. Die Probleme derartiger Kunstnetzeinlagen seien erstmals im Oktober 2008 thematisiert worden. Erst 2011 habe es eine Warnung an die Chirurgen mit klarer Vorstellung zur operativen Vorgehensweise gegeben. Zu diesem Zeitpunkt wäre klar gewesen, dass dieses Verfahren nicht mehr zum Einsatz komme.

Patient muss abwägen können.

Die Anwendung neuer Therapien sei für den medizinischen Fortschritt zwar unerlässlich, so das Oberlandesgericht. Diese dürften jedoch bei Patienten nur dann angewendet werden, wenn ihnen zuvor unmissverständlich verdeutlicht wurde, dass die Neulandmethode möglicher­weise unbekannte Risiken berge. Patienten müssten für sich abwägen können, ob sie sich nach einer herkömmlichen Methode mit bekannten Risiken operieren lassen möchten oder nach der neuen Methode mit möglichen Vorteilen, aber auch unbekannten Gefahren.

Kommentar: Mit seiner Entscheidung setzt das Oberlandesgericht Hamm konsequent die Rechtsprechung zu den gesteigerten Sorgfaltspflichten bei der Aufklärung über neue Behandlungs­methoden fort. Ärzte müssen diese Anforderungen erfüllen. Denn es geht in erster Linie darum, das Selbstbestimmungsrecht der Pa­tienten zu wahren. Nur ein informierter Patient kann wirksam in eine Behandlung einwilligen.

Anja Mertens ist Rechtsanwältin im Justiziariat des AOK-Bundesverbandes.
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