Debatte

Widerspruchslösung rettet Leben

Obwohl viele die Organspende befürworten, haben nur wenige einen entsprechenden Ausweis. Der Soziologe Prof. Dr. Andreas Diekmann empfiehlt, dass in Deutschland wie bei einigen europäischen Nachbarn jeder als potenzieller Spender gelten sollte, der dem zuvor nicht widersprochen hat.

Viele Monate oder Jahre warten

schwer kranke Menschen auf ein Spenderorgan. Die Bereitschaft zu Organspenden ist auf einen Tiefpunkt gesunken. Die Skandale um die Verletzung der Regeln bei der Auswahl von Empfängern haben die Öffentlichkeit erschüttert. Der eigentliche Skandal ist aber, dass die Knappheit potenzieller Organspenden überhaupt nicht thematisiert wird. Die Politik flüchtet sich in Kampagnen mit Prominenten, die mit Organspenderausweis auf Plakaten posieren. Der Erfolg solcher Kampagnen dürfte sehr gering sein.

Die Bereitschaft zu postmortalen Organspenden ist ein „Kollektivgut“. Jede und jeder könnte einmal in die Situation kommen, ein Spenderorgan zu benötigen. Die Verteilung wird durch Kriterien von Fairness geregelt. Man könnte nun auf Grundlage des Prinzips der Reziprozität das Einverständnis erhöhen. Nur wer im Besitz eines Spenderausweises ist, darf im Falle des Falles eine Transplantation erwarten oder zumindest in der Warteschlange vorrücken. Diese Versicherung auf Gegenseitigkeit wird allerdings von keinem unserer europäischen Nachbarn praktiziert und dürfte auch bei uns politisch kaum durchsetzbar sein.

Studien belegen eine erhöhte Spenderbereitschaft.

Weitere Bedingungen müssen erfüllt sein.

Anders verhält es sich mit der Widerspruchsregelung, die zum Beispiel in Österreich, Italien, Portugal und Spanien geltendes Recht ist. Dass das Prinzip „opt out“ im Vergleich zum „opt in“ der Zustimmungsregel die Bereitschaft zu Organspenden erhöht, zeigen wissenschaftlich kontrollierte Untersuchungen. So fanden die Ökonomen Alberto Aberdie und Sebastian Gay bei einem Vergleich von 22 Ländern über zehn Jahre und bei Berücksichtigung weiterer Merkmale wie Gesundheitsausgaben, Blutspenden und anderem mehr eine um 25 bis 30 Prozent erhöhte Bereitschaft zu Organspenden bei der Widerspruchs- im Vergleich zur Zustimmungsregel. Ein interessanter Fall ist Schweden. Hier galt ab 1986 die Zustimmungsregel, bis 1996 erneut auf die Widerspruchsregelung umgestellt wurde. Aberdie und Gay berichten, dass die Spenderrate nach Einführung der Zustimmungsregel zurückging und nach 1996 wieder anstieg.

Eine Umstellung auf die Widerspruchsregelung zu Organspenden nach dem Tod kann die Rettung einer Vielzahl von Leben oder zumindest die Verbesserung der Gesundheit stark leidender Menschen bewirken. Sie ist aber kein Allheilmittel, wie die Unterschiede in den Transplantationsraten zwischen Ländern mit Widerspruchsregelung zeigen. Spanien und Österreich stechen durch sehr hohe Raten hervor, während Bulgarien, die Türkei und Griechenland, alles Länder mit Widerspruchsregelung, sehr niedrige Raten aufweisen. Zweifellos sind auch andere Bedingungen zu erfüllen, insbesondere die Sorge von Kliniken für entsprechend fortgebildete und sensible medizinische Fachkräfte, die als Beauftragte für Organspenden fungieren. Außerdem müssen im Klinikalltag Ressourcen für die Entnahme von Spenderorganen zur Verfügung stehen. Gegner der Widerspruchsregelung sehen sie als Eingriff in die Freiheit, die der Staat tunlichst unterlassen sollte. Es gibt aber andere freiheitsbegrenzende Regelungen, vom Brandschutz für Gebäude über den Vorrang für Krankenfahrzeuge mit Blaulicht im Straßenverkehr bis zur Gurtpflicht. Auch die Gurtpflicht war bei ihrer Einführung umstritten. Sie hat jedoch zahlreiche Leben gerettet und wird heute allgemein akzeptiert. Freiheit und die Rettung von Leben sind hohe Rechtsgüter, die im Konfliktfall ausbalanciert werden müssen.

Erleichterung für Angehörige.

Nur eine Minderheit ist heute im Besitz eines Spenderausweises. Befragungen ergeben aber, dass die überwältigende Mehrheit der Deutschen im Prinzip Organspenden zustimmt. Diese Diskrepanz beseitigt die Widerspruchsregelung. Sie ist oft auch eine Erleichterung für Angehörige. Wer aber aus Gewissensgründen, religiösen Gründen, aus Angst vor einer Hirntoddiagnose oder anderen Gründen grundsätzlich nicht zur Spende bereit ist, kann mit sehr geringem Aufwand widersprechen. Diesen Aufwand muss es wert sein, wenn durch die Neuregelung gleichzeitig viele Menschenleben gerettet werden können.

Andreas Diekmann ist emeritierter Professor für Soziologie an der ETH Zürich und derzeit Fellow des Wissenschaftskollegs zu Berlin.
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