Debatte

Medizin muss Inklusion fördern

Behinderungen vorzubeugen, sollte ein Kernanliegen des Gesundheitssystems sein, meint Prof. Dr. Andreas Lübbe. Der Onkologe plädiert für mehr Prävention und Rehabilitation. Zugleich verweist er die Hochleistungsmedizin in ihre Schranken.

Nach allgemeinem Verständnis

bedeutet Inklusion, dass jeder Mensch an der Gesellschaft teilhaben kann – unabhängig etwa vom Alter, dem Gesundheitszustand oder einer Behinderung. Eine respektvolle Haltung gegenüber Schwächeren und eine entsprechende Gesetzgebung gehören zu den Voraussetzungen. Aber auch die Medizin kann und muss ihren Beitrag zur Inklusion leisten. Fast 17 Millionen Menschen in Deutschland gelten heute als behindert oder als von einer Behinderung bedroht, mehr als sieben Millionen Menschen sind schwerbehindert, die meisten von ihnen über 65 Jahre alt. Behinderungen entstehen durch Unfälle, Krankheiten oder Behandlungsfolgen. Ihnen vorzubeugen muss ein Kernanliegen in einem gut funktionierenden Gesundheitssystem sein. Auch wenn das Präventionsgesetz gewisse Akzente gesetzt hat, bestehen im Bereich der Krankheitsvorbeugung nach wie vor Defizite.

Prävention verbessern.

Innerhalb der Ärzteschaft spielt Prävention keine nennenswerte Rolle und wird weder in der Aus­bildung noch in der täglichen Praxis gebührend gewürdigt. Stattdessen zeichnet sich die deutsche Hochleistungsmedizin dadurch aus, akute Verschlimmerungen länger bestehender Krankheiten, aber auch Notfälle und neu aufgetretene akute Erkrankungen auf international hohem Niveau zu behandeln. Zugleich offenbart das System eklatante Schwächen in der Versorgung der Hochbetagten und derjenigen, die unter chronisch fortschreitenden und in absehbarer Zeit zum Tode führenden Krankheiten leiden. In der Gesamtbilanz leben Menschen in Deutschland bei vergleichsweise hohen Gesundheitsausgaben nicht länger und erfreuen sich keiner höheren Lebensqualität als Menschen in vielen anderen Nationen. Wir versagen in der gesundheitlichen Versorgung in den ersten und letzten Jahren des Lebens, in denen Menschen in besonderer Weise auf andere angewiesen sind. Aber was bedeutet das alles für die Inklusion?

Lebensentwürfe berücksichtigen.

Medizinische Untersuchungen und Behandlungen müssen sich an dem ausrichten, was dem Einzelnen gerecht wird, ihm also am besten dient und seinem Lebensentwurf so gut wie möglich entspricht. Das bedeutet im Einzelfall, nicht unter allen Umständen jede Krankheit mit maximalem Aufwand beseitigen zu wollen, um dann schließlich Krankheitsfolgestörungen aufzufangen und den Patienten in seinen Teilhabemöglichkeiten zu beschränken. Eine fortgeschrittene Krebserkrankung muss nicht immer einer Chemotherapie unterzogen werden, wenn die erwartete Lebenszeit ohnehin gering ist. Bei einem 85-jährigen Menschen muss eine Herzklappe nicht unter allen Umständen erneuert werden. Vier von fünf über 80-jährige herzoperierte Patienten finden sich nach wenigen Monaten im Pflegeheim wieder. Auch die Lebenswirklichkeit des Ehepartners wird dadurch erheblich beeinträchtigt.  

Individuell beste Lösungen finden.

Es geht also um bessere Aufklärung und um einen verständnisvollen Zugang zum Patienten und seiner Lebenswelt, mithin um eine sorgfältigere, besonnenere Indikationsstellung. Ärzte verfügen nicht nur über die Hoheit der Diag­nose, sondern im Rahmen der individuellen Therapiezielfindung trotz aller Reglementierungen und Leitlinien sehr wohl über die Möglichkeit, individuell die beste Lösung zu finden. Durch eine groß­zügige Verordnung von Hilfs- und Heilmitteln könnten Ärzte Mobilität und Pflege besser unterstützen. Telematik-Konzepte können Patienten, deren Unabhängigkeit eingeschränkt ist, lange Wege ins volle Wartezimmer ersparen. Ärzte können sie so unter Umständen zu Hause beraten, Diagnosen stellen und Rezepte ausstellen. Ein Ausweiten von Rehabilitationsangeboten könnte dazu beitragen, Krankheitsfolgestörungen zu verringern, und dafür sorgen, dass die Patienten weniger Hilfe benötigen.

Folgen der Behandlung bedenken.

Inklusion bedeutet Veränderungen in der Gesellschaft, um einer pluralen und heterogenen Welt besser gerecht zu werden. Die Medizin muss sich dem anpassen und akzeptieren, dass Menschen unterschiedliche Lebensentwürfe haben und sie selbst die Ziele der Behandlung ihrer Krankheit bestimmen, nicht die Ärzte. Ärzte können und sollen Krankheiten verhüten, diagnostizieren und behandeln, aber nur im Lichte des jeweiligen Menschen und dabei bedenken, was die Folgen ihres Handelns langfristig bedeuten.

Andreas Lübbe ist Chefarzt an der Cecilienklinik in Bad Lippspringe.
Bildnachweis: Startseite iStock/vadimguzhva