Thema des Monats

Gesetze am laufenden Band

Von Beitragssätzen über die Pflege bis hin zu den Arztterminen lässt das Gesundheitsressort nichts anbrennen. Aber was bringen die vielen Neuregelungen den Versicherten und Patienten? Eine Analyse von Kai Senf und Dr. Michael Neumann

Der Verzicht von Kanzlerin Angela Merkel auf den CDU-Parteivorsitz hat zur Folge, dass niemand zuverlässige Prognosen zur Zukunft der Großen Koalition machen kann. Trotz der Beteuerungen aus der Politik ist auch unklar, inwieweit die Rückkehr zur Sacharbeit unter den veränderten Vorzeichen tatsächlich möglich ist. Ein passender Zeitpunkt also für eine gesundheitspolitische Zwischenbilanz.

Ging es lange darum, Politik und Entscheidungen der Mandatsträger nur besser zu erklären, sollen die Menschen nun im Alltag positive Veränderungen tatsächlich wahrnehmen. Auf diese Weise hoffen die großen Parteien, das Vertrauen der Bevölkerung in die Demokratie und ihre Entscheidungsprozesse zurückzugewinnen. Blickt man allerdings auf die internen Querelen in der Innen-, Umwelt- und Verkehrspolitik scheint sich der Realitätsverlust in den vergangenen Monaten zu verstetigen.

Anders in der Gesundheitspolitik: Hier jagt eine Entscheidung die nächste. Versichertenentlastungsgesetz, Pflegepersonal-Stärkungsgesetz, Terminservice- und Versorgungsgesetz, Organspendegesetz, Konzertierte Aktion Pflege sind nur einige Beispiele dafür, wie in kürzester Zeit die für Bürger relevanten Themen von der Ankündigung im Koalitionsvertrag zum Gesetz werden. Vor allem Bundesgesundheitsminister Jens Spahn positioniert sich als Treiber. Auch wenn es für eine umfassende Bewertung zu früh ist, lohnt sich ein Blick über den Tag hinaus: Stoßen die Vorhaben tatsächlich positive Veränderungen zugunsten der Beitragszahler, Versicherten und Patienten an?

Rückblick auf die vergangene Legislatur.

Schon seit Jahren steht die Gesundheitspolitik bei der medizinischen Versorgung und der Pflege vor großen Herausforderungen. Der Gesetzgeber hat einige Anstrengungen unternommen, diese wichtigen Bereiche der Daseinsvorsorge voranzubringen. In den letzten beiden Wahlperioden hat die Politik mit verschiedenen Versorgungsgesetzen versucht, nicht nur den Leistungsumfang zu erweitern und die Qualität der Versorgung zu fördern, sondern auch die Versorgung in strukturschwachen Regionen zu stärken.

Stellvertretend dafür steht die letzte Krankenhausreform, mit der das Ziel eines qualitätsorientierten Strukturwandels einherging. In der Pflege wollte der Gesetzgeber mit dem neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff und Leistungsausweitungen erhebliche Verbesserungen für Pflegebedürftige erreichen. Eine bessere Vergütung und die Reform der Ausbildung sollten schließlich die Attraktivität des Pflegeberufes erhöhen. Aber politische Erfolge haben bekanntlich eine kurze Halbwertzeit, und es ist strittig, wie nachhaltig diese Reformen sind. Dennoch hat die Große Koalition in der vergangenen Amtszeit wichtige Reformschritte im Gesundheitswesen vollzogen, auf die sie heute aufbauen kann.

Der zentralistische Ansatz „gemeinsam und einheitlich“ lebt in den Reformkonzepten fort.

In der laufenden Legislaturperiode ist der Mangel an Pflegekräften in Krankenhäusern und in der Altenpflege noch stärker in den Fokus von Politik und Öffentlichkeit gerückt. Andere Themen wie die Gesundheitsversorgung in strukturschwachen, ländlichen Regionen und die unterschiedlichen Wartezeiten auf Arzttermine für gesetzlich und privat Versicherte spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. Darüber hinaus hat sich in den vergangenen Jahren zunehmend die Erkenntnis durchgesetzt, dass das bestehende Beitragssystem der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) auf den Prüfstand gehört, um mehr Beitragsgerechtigkeit zu erreichen. An diesen Herausforderungen muss sich die Große Koalition messen lassen.

Pflege beherrscht die Politik.

Das derzeit politisch dominierende Thema ist der Mangel an Pflegekräften in Krankenhäusern und Altenheimen. Trotz diverser Neuregelungen in den letzten beiden Wahlperioden zeichnete sich schnell ab, dass weitere Maßnahmen notwendig sind, um die Situation auf Dauer zu verbessern. Daher ist es richtig, dass mit dem jüngst verabschiedeten Pflegepersonal-Stärkungsgesetz (PpSG) zusätzliche Stellen in der Langzeitpflege und im Krankenhaus gefördert und die Bezahlung des Pflegepersonals spürbar verbessert werden sollen. Wenn es damit gelingt, mehr Menschen für den Pflegeberuf zu gewinnen, wirkt das der Arbeitsverdichtung in Kliniken und Heimen entgegen. Das wäre ein wichtiger Beitrag zur Verbesserung der Qualität in der Versorgung der Patienten und Pflegebedürftigen.

Mehr Geld und mehr Personal allein reichen jedoch nicht aus. Vielmehr muss der Gesetzgeber für Rahmenbedingungen sorgen, die Pflegekäfte entlasten. Folgerichtig wird das Pflege-Sofortprogramm durch die „Konzertierte Aktion Pflege“ ergänzt, mit der Bundesfamilien- und Seniorenministerin Dr. Franziska Giffey, Bundesgesundheitsminister Jens Spahn sowie Bundessozialminister Hubertus Heil bis Sommer 2019 Konzepte zur Gewinnung von Fachkräften und zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Pflege entwickeln wollen. Unterstützt werden sie dabei von den Verbänden der Kranken- und Pflegekassen, der Leistungserbringer und der Pflegeberufe, den Sozialpartnern, Kirchen, Betroffenenverbänden, den Ländern sowie den kommunalen Spitzenverbänden.

Personalvorgaben mit Sanktionen verknüpfen.

Damit die Konzepte für mehr Pflegepersonal dauerhaft greifen, muss das zusätzliche Geld aber an die richtige Stelle fließen. Die zur Förderung der Pflege gedachten Beitragsmittel der Kranken- und Pflegekassen landeten in der Vergangenheit zu oft in anderen Bereichen. So geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hervor, dass die Krankenkassen im Jahr 2016 für Personalkosten rund 160 Millionen Euro mehr überwiesen haben als die Kliniken für ihre Pflegekräfte ausgaben. Statt in zusätzliche Stellen zu investieren, haben Krankenhäuser also beträchtliche Finanzmittel für sachfremde Zwecke eingesetzt.

Positiv zu bewerten ist hingegen der Plan, einen Pflegequotienten einzuführen (Zahl der Pflege-Vollzeitkräfte im Verhältnis zum Pflegeaufwand). Er kann helfen, die Pflegepersonalausstattung in den Krankenhäusern sowie die Patientensicherheit zu verbessern. Das Instrument ist relativ einfach umzusetzen und kann bereits im ersten Jahr der Anwendung zu mehr Transparenz führen. Fraglich ist angesichts der wenigen auf dem Arbeitsmarkt frei verfügbaren Pflegekräfte allerdings der Umgang mit Sanktionen. Mehr Pflegepersonal lässt sich nur gewinnen, wenn sich die Arbeitsbedingungen deutlich verbessern. Dazu gehört, dass Verstöße gegen die Personalvorgaben zu Konsequenzen führen, wie beispielsweise Betten-Sperrungen und Vergütungsabschläge. Hier hätte die Politik mutiger agieren können.

Fallpauschalen sorgen für Transparenz.

Ein weiteres Vorhaben ist wiederum kritisch zu sehen: Der Gesetzgeber plant, die Pflegekosten im Krankenhaus unabhängig von Fallpauschalen vergüten zu lassen. Bezahlt werden soll, was bestellt wird. Diese partielle Wiedereinführung des Selbstkostendeckungsprinzips stellt das System der Diagnosis Related Groups (DRG) als Ganzes infrage, denn es ist absehbar, dass dann auch die Herausnahme anderer Berufsgruppen wie zum Beispiel Physiotherapeuten, Sozialarbeiter oder Ärzte in Zukunft forciert wird. Das DRG-System hat sich im hohen Maße bewährt, es hat die Transparenz und Effizienz im Krankenhausgeschehen verbessert. Heute ist dank der DRGs bekannt, welche Klinik welche Patienten wie behandelt und wofür sie die Mittel der Beitragszahler verwendet. So lässt sich über das DRG-System auch nachweisen, dass die Pflege im Krankenhaus nicht unterfinanziert ist.

In der ambulanten Versorgung ändert sich wenig.

Neben der Pflege ist die vertragsärztliche Versorgung ein politischer Dauerbrenner. Die erheblichen Investitionen in den vergangenen Jahren haben sich kaum bezahlt gemacht: Versorgungslücken auf dem Land, eine mangelnde Sicherstellung der ärztlichen Versorgung in Teilen der Bundesrepublik und die Ungleichbehandlung von gesetzlich und privat Versicherten bei der Terminvergabe in Arztpraxen sind weiterhin Alltagserfahrungen vieler Bürgerinnen und Bürger.

Daher ist es nachvollziehbar, dass hier die Politik erneut aktiv wird. Nach zwei Anläufen in der 17. und 18. Wahlperiode soll nun das Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) einen Durchbruch bringen. Der Gesetzgeber stellt erneut zusätzliche finanzielle Mittel für Leistungsverbesserung zur Verfügung und greift punktuell in die Bedarfsplanung für niedergelassene Ärzte ein. Im Grunde ändert sich aber nur wenig im Herangehen: Der zentralistische Ansatz „gemeinsam und einheitlich“ lebt fort, die Reformkonzepte verlieren sich im Klein-Klein, Überkapazitäten bleiben bestehen und obwohl die Kassenärztlichen Vereinigungen ihren Sicherstellungsauftrag nicht immer im erforderlichen Maß erfüllen, gibt es für die Vertragsärzte mehr Geld.

Vor diesem Hintergrund dürfte dem TSVG hinsichtlich der vertragsärztlichen Versorgung ein ähnliches Schicksal wie den Vorgänger-Gesetzen blühen. Allein in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung sind positive Veränderungen zu erwarten, die die Akutversorgung stärken und die Behandlung für Patienten bedarfsgerechter und flexibler machen.

Fortschritte bei der elektronischen Patientenakte.

Hoffnung auf einen Mehrwert für Versicherte und Patienten liegt in einem anderen Teil des Gesetzes, der sich mit der elektronischen Patientenakte beschäftigt. Künftig sollen Patienten über mobile Endgeräte direkt auf ihre Daten zugreifen können und vollkommen autonom entscheiden, ob und an wen sie die Daten weitergeben. Dieser Schritt war längst überfällig. Darüber hinaus bekommen die Krankenkassen mehr Möglichkeiten, ihren Versicherten passgenaue digitale Informations- und Unterstützungsangebote zu machen.

Zuschläge für Transplantationen höhlen DRG-System aus.

Auch das Thema Organspende beschäftigt Öffentlichkeit und Politik seit längerem. Die Zahl der Organspenden sinkt, immer mehr Menschen warten auf ein Spenderorgan. Nun soll das Gesetz für bessere Zusammenarbeit und bessere Strukturen bei der Organspende (GZSO) die Zahl der Organentnahmen in deutschen Kliniken erhöhen.

Diese Zielsetzung ist grundsätzlich richtig. Insbesondere die Regelungen, die entsprechende Handlungsabläufe optimieren sollen, sind zu begrüßen. Es ist jedoch fraglich, ob sich mit der Erhöhung der Vergütung für Organentnahmen die Zahl der Transplantationen steigern lässt.

Kai Senf im Interview:

Seit 2011 fußt die Vergütung der Entnahmekrankenhäuser auf einer aktuellen Ist-Kosten-basierten Kalkulation der Organentnahmepauschalen durch das Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus. Aufgrund dieser Kalkulation erhielten die Entnahmekrankenhäuser im vergangenen Jahr rund 3.900 Euro für jedes transplantierte Organ.

Wenn jetzt der Gesetzgeber jenseits von allen Kalkulationsgrundlagen eingreift und eine zusätzliche Einnahmequelle – hier der sogenannte Ausgleichszuschlag – schafft, dann führt dies zu einer Verdreifachung der Vergütung auf mehr als 12.000 Euro je transplantiertem Organ. Diese Zuschlags-Regelung höhlt das DRG-System aus – ähnlich wie die mit dem Pflegepersonal-Stärkungsgesetz geplante Herausnahme der Pflegepersonalkosten aus den Fallpauschalen. Der Preis der Leistung ist dann politisch festgelegt und nicht auf Basis von Sachkosten kalkuliert. Für das Vergütungssystem ist dies ein weiterer Tiefschlag und trägt mit dazu bei, die Leistungsorientierung für Krankenhäuser infrage zu stellen.

Weniger Anreize für den Wettbewerb.

Eines der zentralen Wahlkampfthemen der SPD war die Wiedereinführung der paritätischen Finanzierung der Krankenversicherungsbeiträge. Mit dem ersten Gesetz in dieser Wahlperiode, dem GKV-Versichertenentlastungsgesetz (GKV-VEG) wird die hierzu im Koalitionsvertrag getroffene Vereinbarung umgesetzt. Zudem will der Gesetzgeber die Kassenbeiträge für Klein-Selbstständige senken, die Beitragsschulden reduzieren und die Kassenreserven für eine Verringerung der Zusatzbeiträge nutzen. Diese Maßnahmen sind unterschiedlich zu bewerten.

Die Reform des Beitragsrechts für verschiedene Versichertengruppen, insbesondere die Selbstständigen und Personen in obligatorischen Anschlussversicherungen, wird zu einer deutlichen Entlastung für die Betroffenen führen und ist ohne Einschränkung zu begrüßen. Das Gesetz sieht allerdings auch vor, dass ab dem Jahr 2020 Finanzrücklagen einer Krankenkasse, die eine Monatsausgabe überschreiten, explizit über die Senkung der Zusatzbeiträge abgebaut werden sollen. Das bedeutet, dass Kassen, die durch gutes Versorgungsmanagement und eine solide Haushaltsplanung ein Finanzpolster aufbauen konnten, die Gelder über niedrigere Zusatzbeiträge ausschütten müssen. Was zunächst für Beitragszahler erfreulich klingen mag, ist ein tiefer Eingriff in die Finanzautonomie der Krankenkassen. Gleichzeitig wirft die im Wesentlichen von Gesundheitsminister Jens Spahn getriebene und über die Vereinbarungen des Koalitionsvertrages hinausgehende Regelung große wettbewerbliche Fragen auf.

Eingriff in die Beitragsautonomie.

Mit der Einführung des freien Kassenwahlrechts vor 25 Jahren, der sukzessiven Weiterentwicklung des morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleichs und vielen flankierenden Maßnahmen hat die Politik in den vergangenen zwei Jahrzehnten die solidarische Wettbewerbsordnung in der GKV zumindest auf der Finanzierungsseite auf ein vernünftiges Fundament gestellt. Zuletzt hat die Große Koalition in der vergangenen Legislaturperiode die prozentualen Zusatzbeiträge eingeführt, um den Wettbewerb weiter zu beflügeln.

Mit dem GKV-VEG rückt die Bundesregierung nun von diesem Weg wieder ab. Zum einen nimmt sie den Kassen ihre vor vier Jahren eingeführte Beitragsautonomie in Teilen wieder weg. Zwar sollen die Kassen bis zu einem gewissen Grad den Beitragssatz weiterhin selbst kalkulieren. Bei guter Finanzlage schaltet sich dann jedoch die Aufsicht ein. Zum anderen führt die Politik eine Art Obergrenze für Wirtschaftlichkeitsanreize ein. Sind die Finanzergebnisse zu gut, greift der Zwangsmechanismus zum Abbau der Rücklagen. Inwiefern das in die bisherige Logik des GKV-Wettbewerbs passt, bleibt offen.


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Den Beitragszahlern mögen sinkende Zusatzbeiträge attraktiv erscheinen. Doch aus der Geschichte der GKV wissen die gesundheitspolitischen Akteure, dass das System immer wieder finanzielle Höhen und Tiefen durchlebt. Ein Rückgang der Konjunktur, außergewöhnliche Wanderungsbewegungen der Versicherten, neue teure Behandlungsmethoden und kostenintensive Gesetzesvorhaben beeinflussen stets die Haushaltslage der Kassen und sind nicht immer einfach zu prognostizieren. In defizitären Zeiten können Krankenkassen auf Reserven zurückgreifen und so unpopuläre Beitragssprünge vermeiden – was bisher ganz im Sinne der Politik war. Diese Möglichkeit beseitigt der Gesetzgeber nun mit dem GKV-VEG.

Wirtschaftliches Handeln nachrangig.

Bei den bisherigen gesetzgeberischen Vorhaben liegt der Fokus darauf, Versorgungslücken und -engpässe zu vermeiden oder zu beheben, um die Situation für Patienten und Pflegebedürftige zu verbessern. Der Erfolg bleibt abzuwarten. Der Aspekt der wirtschaftlichen Leistungserbringung findet in der aktuellen Gesundheitspolitik dagegen kaum Beachtung. In Zeiten voller Kassen mag es verlockend sein, Probleme mit Geld zu lösen. Allerdings sollte man sich davor hüten, unwirtschaftliche Strukturen, die der Gesundheitsversorgung nicht dienen, künstlich zu erhalten. Um die GKV auch in Zeiten einer schlechteren wirtschaftlichen Lage funktionsfähig zu halten, muss der Gesetzgeber wirtschaftliches Handeln weiterhin fördern.

Für die Politik scheint in ihren aktuellen Gesetzesvorhaben zudem der Aspekt der medizinischen Qualität zweitrangig zu sein. Zwar kann auch mehr Personal einen Beitrag zur Verbesserung der Qualität leisten. Allerdings fehlen bisher weitergehende gesetzgeberische Initiativen, um die Qualität der Gesundheitsversorgung zu sichern und zu erhöhen.

Politik beschränkt Gestaltungsmöglichkeiten.

Statt den Wettbewerb anzufachen, um Qualität und Wirtschaftlichkeit zu verbessern, statt den Akteuren im Gesundheitswesen, insbesondere den Krankenkassen, mehr Freiheiten zu gewähren, um die gesundheitliche Versorgung ihrer Versicherten voranzubringen, hält sich der Trend zu Zentralismus und staatlicher Regulierung. Auch unter Jens Spahn setzt die Gesundheitspolitik den Weg „gemeinsam und einheitlich“ fort. Die Freiräume der gemeinsamen Selbstverwaltung der Kassen, Kliniken und Ärzte werden sukzessive immer weiter eingeschränkt. Bezüglich der Selbstverwaltung begründet die Politik ihr Vorgehen mit deren Versagen. Allerdings übersieht sie dabei, dass das Handeln der Selbstverwaltung nur so gut sein kann, wie es der Gesetzgeber ermöglicht. Rechtliche Vorgaben, die immer stärker einzelfallbezogene, extrem kleinteilige Vorschriften machen, behindern die Selbstverwaltung eher.

GKV-Versichertenentlastungsgesetz (GKV-VEG)

Der Entwurf eines Gesetzes zur Beitragsentlastung der Versicherten in der gesetzlichen Krankenversicherung zielt darauf ab, die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung wieder zu gleichen Teilen von Arbeitgebern und Mitgliedern zahlen zu lassen.

Die Beitragsbelastung gesetzlich versicherter Selbstständiger soll sinken: Der Mindestbeitrag pro Kalendertag reduziert sich auf die Hälfte. Ungeklärte Mitgliedschaftsverhältnisse sollen bereinigt werden, um Beitragschulden in der gesetzlichen Krankenversicherung zu senken. Die für die aufzuhebenden Mitgliedschaften erhaltenen Zuweisungen müssen die Krankenkassen an den Gesundheitsfonds zurückzahlen.

Das GKV-VEG soll am 1. Januar 2019 in Kraft treten.

Gesetz für bessere Zusammenarbeit und bessere Strukturen bei der Organspende (GZSO)

Der GZSO-Entwurf sieht vor, bundeseinheitliche Regelungen für die Freistellung der Transplantationsbeauftragten in Entnahmekliniken zu definieren. Die entstehenden Kosten soll die GKV vollständig refinanzieren.

Das GZSO soll zudem die Position des Transplantationsbeauftragten stärken. Entnahmekrankenhäuser erhalten einen Anspruch auf pauschale Abgeltung der von ihnen im Rahmen der Organentnahme und deren Vorbereitung erbrachten Leistungen sowie eine Grundpauschale.

Pflegepersonal-Stärkungsgesetz (PpSG)

Ab 2020 soll für jedes Krankenhaus das Verhältnis zwischen der Zahl der Pflegekräfte und dem anfallenden Pflegeaufwand errechnet und veröffentlicht werden. Unterschreitet ein Krankenhaus eine bestimmte Personalgrenze, drohen Honorarkürzungen. Ab dem Jahr 2018 sollen die Krankenkassen Tarifsteigerungen für die Pflegekräfte in Krankenhäusern vollständig refinanzieren. Die Finanzierung der Pflegepersonalkosten der Krankenhäuser soll ab dem Jahr 2020 auf eine neue, von den Fallpauschalen unabhängige, krankenhausindividuelle Vergütung der Pflegepersonalkosten umgestellt werden.

Jede vollstationäre Pflegeeinrichtung erhält zusätzlich Pflegepersonal, das von der Krankenversicherung pauschal vollfinanziert wird. Verbindliche Kooperationsverträge sollen die Zusammenarbeit niedergelassener Ärzte mit stationären Pflegeeinrichtungen stärken.

Das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz soll am 1. Januar 2019 in Kraft treten.

Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG)

Die Terminservicestellen der Kassenärztlichen Vereinigungen sollen künftig zur Vermittlung von Terminen bei Haus- und Kinderärzten verpflichtet werden und bei der Suche nach einem dauerhaft behandelnden Haus-, Kinder- und Jugendarzt helfen.

Niedergelassene Vertragsärzte sollen verpflichtet werden, statt bisher wöchentlich 20 Stunden künftig mindestens 25 Stunden pro Woche für Kassenpatienten frei zu halten. Arztgruppen der unmittelbaren und wohnortnahen Versorgung wie konservativ tätige Augenärzte, Frauenärzte, Orthopäden und Hals- Nasen-Ohren-Ärzte müssen mindestens fünf Stunden als offene Sprechstunde ohne vorherige Terminvereinbarung anbieten.

Weitere Regelungen des Gesetzes beschäftigen sich mit der Schaffung eines neuen Schiedsgremiums bei Konflikten zwischen Krankenkassen, Kassenärzten und Kliniken, mit Neuerungen beim Zahnersatz und der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung sowie der Einführung einer elektronischen Patientenakte.

Das TSVG soll am 1. April 2019 in Kraft treten.

 Quelle und weitere Informationen im Gesetzgebungskalender Gesundheitspolitik

Der Rückbau von Gestaltungsfreiräumen setzt sich nahtlos im GKV-System fort. Ob sie vorschreibt, Kassenreserven abzuschmelzen oder selektivvertragliche Gestaltungsmöglichkeiten einschränkt: Die Politik wünscht offensichtlich künftig weniger Wettbewerb zwischen den Krankenkassen.

Besonders bemerkenswert ist dabei, dass sie auch vor Eingriffen in die finanzielle Planungshoheit der Krankenkassen nicht zurückschreckt, wenn sie die Kassenrücklagen als Verfügungsmasse sieht. Es stellt sich daher tatsächlich die Frage, ob die Politik noch an die Vorteile einer pluralen, wettbewerblich organisierten GKV-Landschaft glaubt. Sie darf jedoch nicht vergessen, dass der GKV-Wettbewerb mit dem Ziel eingeführt wurde, Wirtschaftlichkeit, Qualität und Effizienz in der Gesundheitsversorgung zu erhöhen. Dieses Ziel setzt man mit schleichender Überregulierung aufs Spiel.

Hoffnung in Sicht?

Auch im nächsten Jahr wird die Gesetzgebungsmaschinerie weiter auf Hochtouren laufen. Ein Eckpunktepapier zur Sicherung und Weiterentwicklung der Heilmittelversorgung liegt bereits vor. Die darin enthaltenen Vorschläge treiben den Zentralismus im Gesundheitswesen ebenfalls voran und beschneiden regionale Gestaltungsräume der Krankenkassen. Im Bereich E-Health und Arzneimittel stehen Gesetzgebungsvorhaben an, die hoffentlich wieder eine andere Richtung einschlagen.

Es kann bei Reformen, die Versicherten und Patienten dienen sollen, nicht nur darum gehen, möglichst viel Geld im Gesundheitswesen zu verteilen. Notwendig sind mehr wettbewerbliche und regionale Gestaltungsfreiheiten, die unter Einhaltung der solidarischen Grundprinzipien der GKV Qualität, Innovation und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen voranbringen.

Besondere Aufmerksamkeit wird 2019 die geplante Reform des Risikostrukturausgleichs bekommen. Für die Krankenkassen dürfte es eine der wichtigsten Reformen in dieser Legislaturperiode sein. Hier wird sich entscheiden, ob die Politik die Finanzarchitektur der GKV sinnvoll weiterentwickelt und an der bisherigen Maxime „weniger Risikoselektion und mehr Wirtschaftlichkeit“ festhält, oder ob es künftig wieder Anreize für Krankenkassen geben soll, Versicherte mit einer bestimmten Erkrankung oder aufgrund ihrer Einkommensverhältnisse zu benachteiligen.

Für die Zukunft einer am Wohl von Versicherten und Patienten orientierten Gesundheitsversorgung sollten die politischen Entscheidungsträger mit der RSA-Reform einen wichtigen Eckpfeiler der solidarischen Wettbewerbsordnung in der GKV stärken. Dafür ebnen ihnen die vorliegenden Gutachten des Wissenschaftlichen Beirates zur Weiterentwicklung des Risikostrukturausgleichs den Weg.

Interview
„Es fehlen neue Visionen“

Kurzfristige öffentliche Zustimmung ist nach Einschätzung von Nils Bandelow das Ziel der jüngsten gesundheitspolitischen Gesetzesvorhaben. Im Interview mit Änne Töpfer spricht der Politikwissenschaftler über die Stärken und Schwächen der aktuellen Politik.

Herr Professor Bandelow, welche gemeinsame Linie lassen die jüngsten gesundheitspolitischen Gesetzesvorhaben erkennen?

Nils Bandelow: Die jüngsten gesundheitspolitischen Gesetzesvorhaben zielen zunächst auf kurzfristige öffentliche Zustimmung. Sie setzen grundsätzlich die Strategie der letzten Jahre fort, den Kassenüberschuss großzügig zu verteilen und dadurch das Konfliktniveau zu reduzieren. Bei den drei aktuellen Gesetzentwürfen GKV-VEG, PpSG und TSVG erweckt das Gesundheitsministerium den Eindruck, die jeweils ursprünglich von der SPD eingebrachten Maßnahmen nicht nur umzusetzen, sondern den Koalitionsvertrag übererfüllen zu wollen. Damit verbunden ist die Konkurrenz zwischen Karl Lauterbach und Jens Spahn um die Zuschreibung der Urheberschaft.

Prof. Dr. Nils C. Bandelow ist Leiter des Lehrstuhls für Vergleichende Regierungslehre und Politikfeldanalyse an der Technischen Universität Braunschweig.

Welche Stärken und welche Schwächen sehen Sie in der aktuellen Gesundheitspolitik?

Bandelow: Die Regelungen beinhalten die Stärkung des im internationalen Vergleich immer noch sehr guten deutschen GKV-Systems. Es fehlen aber weiterhin neue Visionen. Die grundlegenden Herausforderungen der Digitalisierung, der nachhaltigen Verzahnung der Sektoren, der Fachkräftegewinnung und der weiterhin ungeklärten Überwindung des spezifisch deutschen Systembruchs zwischen gesetzlicher und privater Versicherung bleiben bisher ungelöst. Kurzfristig verspricht die für die Krankenkassen besonders spannende Frage der Weiterentwicklung des Morbi-RSA auch auf politischer Ebene – zwischen Parteien und zwischen den Bundesländern – mehr Konfliktpotenzial zu haben als die bisherigen Maßnahmen.

Wie verändert sich das Image von Gesundheitsminister Jens Spahn?

Bandelow: Das Image des neuen Gesundheitsministers hat sich in seiner kurzen Amtszeit mehrfach geändert. In der ersten Phase hat er mit öffentlichen Stellungnahmen zu Themen außerhalb seiner Ressortverantwortung gezielt provoziert. Dies hat die bereits vorher zu beobachtende Polarisierung bei der Beurteilung des Ministers verstärkt. Die zuletzt stärkere Konzentration auf Ressortthemen kann dem Minister helfen, wenn er es schafft, auch über seine ursprüngliche, konservative Kernklientel hinaus Zustimmung zu gewinnen. Es ist zu erwarten, dass nach den personellen Klärungen an der CDU-Spitze die eigentliche Ressortpolitik wieder stärker vom Eindruck der Ambitionen des Gesundheitsministers Jens Spahn gelöst wird.

Kai Senf ist Geschäftsführer Politik und Unternehmensentwicklung im AOK-Bundesverband.
Michael Neumann leitet die Abteilung Politik im AOK-Bundesverband.
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