Orphan Drugs

Medikamente für Kinder im Blick

Mädchen und Jungen mit seltenen Krankheiten erhalten oft Arzneimittel, die für Erwachsene zugelassen sind. Nun geht die EU-Kommission der Frage nach, wie sich die Entwicklung von Präparaten für Kinder besser fördern lässt. Von Thomas Rottschäfer

Die Pharmaindustrie

hat die Entwicklung von Medikamenten für seltene Erkrankungen (Orphan Drugs) lange links liegen lassen. Kleine Zielgruppen versprachen keine großen Geschäfte. Die Europäische Union (EU) fördert deshalb bereits seit dem Jahr 2000 Erforschung, Entwicklung und Vermarktung von Orphan Drugs.

„Zu den Maßnahmen gehören zum Beispiel längere Patentschutzzeiten, exklusive Marktrechte über zehn Jahre oder die vereinfachte Zulassung unter Vorlage deutlich eingeschränkter Forschungsdaten zur Unbedenklichkeit und Wirksamkeit von Arzneimitteln“, erläutert der Vertreter der AOK in Brüssel, Evert Jan van Lente.

Im Jahr 2007 kam eine weitere EU-Verordnung hinzu, um speziell die Entwicklung von Kinderarzneimitteln zu unterstützen. „In vielen Fällen überschneiden sich beide Bereiche, da zahlreiche Kinderkrankheiten gleichzeitig als seltene Leiden einzustufen sind“, so van Lente.

Indikationen ausgeweitet.

Die Orphan-Drug-Anreize haben Wirkung gezeigt. In den vergangenen Jahren haben immer mehr Hersteller den Markt für sich entdeckt und ein besonderes Geschäftsmodell entwickelt: Häufig wird ein Orphan Drug für eine kleine Teilpopulation einer an sich nicht seltenen Erkrankung zugelassen. Nach der Markteinführung wird dann das Zulassungsspektrum erweitert.

Innerhalb der EU gilt eine Erkrankung als selten, wenn nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen betroffen sind. Weil es je nach Definition zwischen 6.000 und 8.000 seltene Krankheiten gibt, ist der Kreis der Betroffenen groß. Allein in Deutschland sind es laut Bundesgesundheitsministerium rund vier Millionen Menschen, EU-weit bis zu 30 Millionen. In der aktuellen Befragung möchte die EU-Kommission wissen, wie die Versorgung bewertet wird und wie man sie verbessern könnte.
 

 Weitere Informationen zur aktuellen Befragung der EU-Kommission

Evert Jan van Lente: „Die pharmazeutische Industrie entwickelt in erster Linie Produkte, die hohe Renditen versprechen. Derzeit wird vor allem in Krebsmedikamente investiert.“ Nach Zahlen des Verbandes der forschenden Arzneimittelhersteller (vfa) besitzen aktuell 110 Medikamente in der EU den Orphan-Drug-Status. Hinzu kommen 45 Medikamente, die diesen Status nach zehn Jahren nicht mehr haben, aber fast alle noch auf dem Markt sind. Nach vfa-Angaben stecken aktuell rund 1.900 Arzneimitteltherapien mit Orphan-Drug-Status in der Zulassungspipeline der EU-Arzneimittelagentur (EMA).

Kostenlawine droht.

Die Krankenkassen warnen vor einer Kostenlawine. In Deutschland waren 2017 sieben der zehn teuersten Markteinführungen Orphan-Drugs – laut Arzneiverordnungs-Report 2018 alle mit Jahrestherapiekosten über 100.000 Euro, das teuerste mit 750.000 Euro.

Doch Kinder mit seltenen Erkrankungen haben davon bisher kaum profitiert. Die pharmazeutischen Hersteller sind zwar seit dem Jahr 2007 verpflichtet, für alle neuen Arzneimittel auch einen gesonderten Studienplan für Kinder zu erarbeiten. „Doch Studien mit Kindern sind aus vielerlei Gründen schwierig“, betont van Lente. Deshalb werden sie oft hinausgezögert oder finden gar nicht statt. Ohne wissenschaftliche Evidenz für die Anwendung bei Kindern erhalten sie dann auch keine entsprechende Zulassung. Gibt es keine Alternative, verordnen Kinderärzte entsprechende Medikamente notgedrungen im sogenannten „Off-Label“-Gebrauch.

Mehr öffentliche Gelder für Forschung.

Nach einem EU-Report zur Bilanz nach zehn Jahren Kinderarzneimittel-Verordnung funktionieren Forschung und Entwicklung dann, wenn sich die Bedürfnisse von Kindern und Erwachsenen überschneiden.

In einer „Roadmap für die nächste Dekade“ wird deshalb vorgeschlagen, die Anreize beider Verordnungen miteinander zu kombinieren. In der aktuellen Konsultation der EU geht es darum, wie man die EU-Rechtsvorschriften entsprechend gestalten sollte. Hilfreich wäre nach Darstellung des AOK-Europaexperten mehr öffentlich finanzierte Forschung und Entwicklung: „Wenn Lizenzen an mehrere Unternehmen vergeben werden, lassen sich auch moderate Preise durchsetzen.“

Thomas Rottschäfer ist freier Journalist mit Schwerpunkt Gesundheitspolitik.
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