Verpasst Deutschland den Anschluss? Experten mahnen bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens mehr Tempo an.
E-Health

Mehr Bummelzug als ICE

Sind die Weichen für die Digitalisierung im Gesundheitswesen richtig gestellt? Darüber diskutierten Experten im Rahmen von „AOK im Dialog“ in Berlin – und gelangten zu recht unterschiedlichen Einschätzungen. Von Thomas Hommel

Schenkt man Thomas Gebhart

Glauben, dann nimmt der Digitalisierungs-Zug im deutschen Gesundheitswesen kräftig Fahrt auf. „Wir geben im Moment richtig Gas“, sagte der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesgesundheitsministerium (BMG) bei der Veranstaltung „AOK im Dialog“ in Berlin. Vor rund 120 Gästen im Atrium des AOK-Bundesverbandes verwies Gebhart auf die geplante Verpflichtung der gesetzlichen Krankenkassen, spätestens 2021 eine elektronische Patientenakte für ihre Versicherten anzubieten. „Das ist ein Meilenstein.“

Gleichzeitig kündigte Gebhart für das erste Halbjahr 2019 ein weiteres Digitalisierungsgesetz an. „Damit werden wir weitere wichtige Schritte gehen“, versprach der CDU-Politiker, ohne jedoch konkrete Inhalte für das geplante E-Health-Gesetz II zu nennen. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Dirk Heidenblut zeigte sich dennoch überzeugt, „dass wir mit dem BMG, so wie es jetzt aufgestellt ist, bei dem Thema gut vorankommen“.

Zu wenig Tempo und keine Strategie.

Bei den Vertreterinnen der Opposition verfingen solche Worte nicht. Die gesundheitspolitischen Sprecherinnen von FDP und Grünen kritisierten vielmehr eine fehlende E-Health-Strategie des Ministeriums sowie mangelndes Tempo bei der Umsetzung digitaler Anwendungen. Die Digitalisierung des Gesundheitswesens komme, wenn überhaupt, nur mit der Geschwindigkeit eines Bummelzuges voran.

„Die Akteure blockieren sich gegenseitig, wir hecheln der Entwicklung im Ausland hinterher“, monierte die gesundheitspolitische Sprecherin der FDP-Fraktion, Christine Aschenberg-Dugnus. Die bisherigen Gesetze von Union und SPD folgten keiner in sich logischen Strategie. Sie seien höchstens „Stückwerk“.

Maria Klein-Schmeink, gesundheitspolitische Sprecherin der Grünen, betonte, Deutschland habe es in den vergangenen zehn Jahren versäumt, sich bei der Digitalisierung gut aufzustellen. „Aber es ist vergossene Milch, und die einsammeln zu wollen macht keinen Sinn.“ Auch sie vermisse eine klare Strategie hinter all den Aktivitäten des Gesundheitsministeriums. „Da helfen auch keine schönen Schlagzeilen wie die zu einem geplanten elektronischen Rezept.“

Deutschland sollte auf internationale technische Standards für digitale Anwendungen setzen.

Klein-Schmeink machte aber auch deutlich, dass es bei der Digitalisierung der Gesundheitskommunikation nicht bloß auf Geschwindigkeit ankommt. „Es geht auch darum, die richtigen Schritte zu tun.“ Und das passiere nicht. So sei es ein „grundlegender Strickfehler“, die Patientenvertreter bei der Entwicklung der elektronischen Akte bislang außen vor gelassen zu haben.

Der Vorstandschef des AOK-Bundesverbandes, Martin Litsch, sprach sich derweil dafür aus, dass der Staat klare „Spielregeln“ wie zum Beispiel technische Standards für die Vernetzung und Interoperabilität medizinischer Daten vorgeben müsse. Auf dieser Grundlage könnten Akteure wie die Krankenkassen dann „loslaufen“ und digitale Anwendungen für ihre Versicherten entwickeln.

Rad nicht neu erfinden.

Sylvia Thun, Professorin für Informations- und Kommunikationstechnologie an der Hochschule Niederrhein und Charité-Visiting-Professorin in Berlin, warb in ihrem Impulsvortrag dafür, internationale Standards bei der Vernetzung von Ärzten, Kliniken und anderen Playern anzuwenden. Ein Grundsatz der internationalen Debatte laute: Interoperabiliät – also die Befähigung zur Zusammenarbeit durch gemeinsame  Standards: „Wenn ich Daten nicht interoperabel weitergebe, dann sind sie in der Versorgung schlicht nicht vorhanden“, mahnte Thun.

Daher müsse die Verwendung internationaler Technik-Fachsprachen und Normen auch für die Vernetzung in Deutschland verbindlich gemacht werden, was bislang leider nicht der Fall sei. Überhaupt müsse sich Deutschland mit Blick auf die Digitalisierung beeilen, um international nicht den Anschluss zu verlieren. Auch sei es gefährlich, alles zu zerreden statt zu handeln. „Wir gefährden Patienten damit, dass wir nichts tun.“

Nationale Koordinierungsstelle.

Mit Blick auf den vom Bundesgesundheitsministerium moderierte Einigung von Kassen und Kassenärzten kritisierte Thun den Auftrag an die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), „im Benehmen mit den anderen Akteuren“ zu definieren, wie die Daten in der elektronischen Patientenakte strukturiert und gespeichert werden sollen. „Zu sagen, die KBV wird es schon regeln, ist zu einfach.“ Diese Aufgabe dürfe man nicht an einen einzigen Stakeholder vergeben. „Wir brauchen eine große Community von Experten.“

Nach dem Entwurf für das Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) sind die Krankenkassen verpflichtet, ihren Versicherten spätestens ab 2021 eine elektronische Patientenakte (ePA) zur Verfügung zu stellen.

Zudem sollen Patienten künftig per Smartphone oder Tablet mobil auf Daten ihrer ePA zugreifen können. Das AOK-System ist hier mit der Entwicklung für ein Digitales Gesundheitsnetzwerk (DiGeN) bereits auf dem Weg.

Die Kassen müssen ihre Versicherten über die Funktionsweise der ePA, die Art der Datenverarbeitung sowie über Zugriffsrechte und Sicherheitskriterien informieren.

Im Unterschied zum Referentenentwurf stärkt die Gesetzesvorlage die Rolle der Versicherten. So werden diese neben Kassen und Leistungserbringern ausdrücklich als Partner in der digitalen Kommunikation genannt.
 

 Weitere Informationen beim Bundesgesundheitsministerium

Eine Lösung könne eine übergeordnete Koordinierungsstelle für digitale Gesundheitsversorgung sein, welche die Regeln auf Grundlage internationaler Standards vorgebe und so den Digitalisierungs-Zug geordnet und zielstrebig in eine Richtung lenke – eine Idee, die auch beim digitalen Publikumsvoting der Veranstaltung breite Zustimmung erfuhr.

Welche Rolle spielt die gematik?

Gesundheits-Staatssekretär Gebhart wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Gesellschaft für Telematikanwendungen der Gesundheitskarte (gematik) den Auftrag habe, noch bis Ende 2018 die Spezifikation, sprich den technischen Rahmen für die Patientenakte der Kassen festzulegen. „Sie hat diesen gesetzlichen Auftrag bereits in der Vergangenheit bekommen“, so Gebhart.

Die gematik sei als eine Art „Unterabteilung der Selbstverwaltung“ aber nicht die Institution, die es brauche, um Standards zu vereinheitlichen, wendete indes SPD-Mann Heidenblut ein. Es bestehe die Gefahr, dass die gematik auf der bisherigen Gesetzesgrundlage nicht das umsetze, was die Patienten wollten. „Ich bin gespannt, was 2021 tatsächlich in der Akte drin steht.“ Vermutlich müsse die Koalition mit einem Folgegesetz noch einmal „strukturell etwas verändern“.

Auch AOK-Vorstandschef Litsch äußerte sich mit Blick auf die gematik zurückhaltend. Die von der Gesellschaft bis Ende 2018 eingeforderte Spezifikation für die elektronische Patientenakte werde um die 1.200 Seiten lang und sei vermutlich schon angestaubt, bevor das Regelwerk geöffnet werde.

„Die gematik wird versuchen, die Räume eng zu machen und die Anwendungen zu begrenzen.“ Die gematik könne evenutell die Rolle übernehmen, technische Standards für die Player zu definieren, solle aber „bitte nicht die Anwendungen entwickeln“, so Litsch. „Mein Wunsch ist es, dass die Patienten entscheiden, welche Anwendungen sie wollen, und nicht die gematik, die AOK, irgendein Arztnetz oder sonst wer.“

Pflegeprofis und Apotheker einbinden.

Maria Klein-Schmeink von den Grünen betonte, es sei nach wie vor unklar, wie der Gesetzgeber sicherstellen wolle, dass bei der Entwicklung tatsächlich internationale Standards genutzt würden.

Einen „erfahrbaren Nutzen“ für die Patienten könne die elektronische Akte außerdem nur entwickeln, wenn weitere Akteure wie Apotheker, Pflegeberufe und andere Gesundheitsberufe darin einbezogen seien. Diese Anbindung solle – anders als im Bereich der ärztlichen Versorgung – nicht aus Beitragsgeldern, sondern aus Steuermitteln finanziert werden, so die Grünen-Expertin.

„Es geht um eine bessere Versorgung, und die sollte aus Versichertengeldern finanziert werden“, meinte dagegen FDP-Politikerin Aschenberg-Dugnus – und fügte hinzu: „Die Patienten sind schon viel weiter, sie wollen die Patientenakte.“

Gesundheits-Staatssekretär Gebhart wollte in diese Debatte nicht einsteigen. „Wir müssen viel mehr darüber reden, welche Vorteile eine digitale Patientenakte für die Menschen hat, um die Akzeptanz noch zu erhöhen.“ Unberechtigte Zugriffe auf die Daten seien zudem mit „hohen Strafen“ zu belegen, um so Vertrauen in die digitalen Anwendungen zu schaffen.

Thomas Hommel ist Chefreporter der G+G.
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