Initiative Stadt. Land. Gesund.

AOK geht neue Wege bei Versorgung

Eine forsa-Umfrage belegt: Die Menschen auf dem Land machen sich Sorgen um ihre Gesundheitsversorgung. Die AOK forciert deshalb ihre Unterstützung für Projekte, die Lösungen für die Probleme in der Fläche entwickeln. Dafür stehen 2019 und 2020 zusätzlich 100 Millionen Euro bereit. Von Thomas Rottschäfer

Der Lebensmittelladen hat schon vor Jahren aufgegeben. Dann machte der Metzger zu, jetzt gibt auch der Bäcker auf. Im Dorf leben viele ältere Menschen, aber es gibt keinen Hausarzt mehr. Immerhin fährt tagsüber noch viermal ein Bus in die neun Kilometer entfernte Stadt. Das ist längst Realität in vielen ländlichen Regionen. „Die zunehmende Schieflage zwischen Stadt und Land macht den Menschen Sorge“, sagt Martin Litsch. Der Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes sitzt im Haus der Bundespressekonferenz in Berlin. Gemeinsam mit der Vorstandschefin der AOK Bayern, Dr. Irmgard Stippler, kündigt er dort die Initiative „Stadt. Land. Gesund.“ an. „Viele unserer Versicherten leben in ländlichen Regionen. Wir wollen, dass auch künftig auf dem Land eine qualitativ hochwertige Versorgung gut erreichbar bleibt“, erläutert Stippler.

Mit ihrer Initiative knüpft die AOK an die Ergebnisse einer forsa-Umfrage an.

Die Demoskopen haben im Januar 2019 im Auftrag der Kasse 2.000 Menschen repräsentativ zum Stellenwert der Gesundheitsversorgung befragt. Das Ergebnis ist eindeutig: Für 95 Prozent der Befragten ist es am wichtigsten, dass ein Hausarzt erreichbar ist – noch vor Einkaufsmöglichkeiten (93 Prozent) und Internet (90 Prozent). Es folgen Krankenhausversorgung (87 Prozent) und öffentlicher Nahverkehr (83 Prozent).

„Wir wollen, dass auch künftig auf dem Land eine qualitativ hochwertige Versorgung gut erreichbar bleibt.“

Dr. Irmgard Stippler, Vorstandsvorsitzende der AOK Bayern

So weit sind sich Städter und Landbewohner noch einig. Die Schere öffnet sich, wenn es um die Zufriedenheit mit dem bestehenden Angebot geht. Einwohner ländlicher Regionen sind deutlich unzufriedener mit dem öffentlichen Nahverkehr und der Internetversorgung, aber auch mit dem Angebot an Krankenhäusern und Fachärzten.

„Vor allem Menschen in kleineren und mittleren Städten nehmen eine Verschlechterung der Versorgung mit Hausärzten, Fachärzten und Krankenhäusern wahr“, erläutert Litsch.

Rund 100 Millionen Euro wollen die elf AOKs deshalb in den Jahren 2019 und 2020 in Projekte investieren, die dazu beitragen, eine qualitativ hochwertige, erreichbare Gesundheitsversorgung auf dem Land zu sichern.

„100 Millionen zusätzlich“, betont Litsch. „Denn wir fangen ja nicht bei Null an. Die AOK ist als einzige Krankenkasse noch überall in den Städten und auf dem Land vertreten, bereits in vielen Projekten vor Ort engagiert und für Kreise, Städte und Gemeinden in der Regel erster Ansprechpartner, wenn es um Kooperationen geht.“

Zwischen Flensburg und Garmisch-Partenkirchen gibt es inzwischen rund 100 Initiativen und Projekte, in denen es darum geht, die entstehenden Lücken in der ländlichen Gesundheitsversorgung zu schließen.

Exemplarisch stellt der AOK-Bundesverband jetzt 30 von ihnen in einer Broschüre vor, an denen die AOK federführend beteiligt ist. Es geht um bessere Zusammenarbeit zwischen Haus- und Fachärzten, Krankenhäusern, Therapeuten und Pflege. Es geht darum, dass Ärzte mehr Aufgaben an Versorgungsassistenzen delegieren. Es geht um Digitalisierung und Telemedizin und um Arztnetze.

Kann eine Videosprechstunde das wachsende Unbehagen lindern?

Irmgard Stippler ist optimistisch. „Die forsa-Umfrage belegt, dass die Bevölkerung offen ist gegenüber innovativen Versorgungsformen. Die Videosprechstunde kann sich bereits jeder Zweite vorstellen. Eine mit Ärzten abgestimmte Betreuung durch speziell qualifizierte medizinische Fachkräfte oder mobile Arztpraxen erreichen Zustimmungswerte von 91 beziehungsweise 82 Prozent.“ „Die Menschen akzeptieren solche Angebote nicht nur, sie erwarten auch, dass ihre Krankenkasse sich dafür engagiert“, ergänzt Litsch.

„Die zunehmende Schieflage zwischen Stadt und Land macht den Menschen Sorge.“

 

Martin Litsch, Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes

Das volle Versorgungsprogramm über die Landschaft verteilen könne man natürlich nicht, unterstreicht der Chef des AOK-Bundesverbandes. Das sei den Menschen aber durchaus klar: „Die Befragten sagen, dass ihnen bei der Arztwahl gute Behandlungsqualität wichtiger ist als schnelle Erreichbarkeit.“ Wo es keinen Arzt mehr in der Nachbarschaft gebe, müsse man deshalb kluge Ideen entwickeln, um Distanzen zu überwinden und Erreichbarkeit herzustellen, zum Beispiel auch durch Fahrdienste.

Von der Bundespolitik erwartet der Chef des Bundesverbandes

diese klugen Ideen nicht: „Berlin beißt sich schon seit längerem die Zähne daran aus, den Landarztberuf wieder attraktiver zu machen. Trotz der zentralistischen Vorgaben und der Anreize mit der Gießkanne ist der durchschlagende Erfolg bei der Arztniederlassung bisher ausgeblieben. Die Gesetzgebung war wenig nachhaltig.“ Auch das Terminservice- und Versorgungsgesetz werde keinen Run der Ärzte auf die Dörfer auslösen.

Von agneszwei über Telekardiologie bis zur virtuellen Diabetesambulanz: Hier geht es zur interaktiven Grafik mit den Projekten der elf AOKs.

Bayerns AOK-Chefin appelliert in Berlin an die Bundespolitik, mehr Spielraum für passgenaue regionale Versorgungslösungen zuzulassen. „Es gibt keine bundesweiten Blaupausen. Die Situation in der Eifel ist eine andere als im Sauerland oder in der Lausitz. Lösungen bekommen wir nur hin, wenn alle maßgeblichen Gesundheitsberufe und -bereiche mit ihren Einrichtungen und Institutionen vor Ort kooperieren und eng zusammenarbeiten. Weder eine Berufsgruppe noch ein Gesundheitssektor allein, auch keine einzelne Krankenkasse kann die Versorgung der Zukunft gestalten.“

Die 100 Millionen Euro investieren die AOKs zusätzlich

zur ohnehin laufenden Finanzierung der Projekte. Es ist dennoch mehr als ein symbolischer Wert. Doch Litsch und Stippler machen in Berlin auch deutlich, dass die Finanzierbarkeit einer flächendeckenden Gesundheitsversorgung in erster Linie von einem funktionierenden Risikostrukturausgleich in der GKV abhängt.

Die AOK befürchtet, dass durch die im Raum stehende Einführung einer sogenannten Regionalkomponente im morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich rund eine Milliarde Euro aus eher unterversorgten ländlichen Regionen wie der Uckermark oder dem Bayerischen Wald in tendenziell eher überversorgte Metropolen wie München umgeleitet werden.

„Derartige Metropolzuschläge passen weder zur Gefühlslage der Bevölkerung auf dem Land noch in die aktuelle politische Landschaft", betont Martin Litsch. Das sei ein fragwürdiges politisches Signal und „versorgungspolitisch wahnwitzig“: „Mit Geld, das wir für eine bedarfsgerechte Versorgung auf dem Land dringend brauchen, würde die verkrustete Überversorgung in den großen Städten zementiert.”

Thomas Rottschäfer ist freier Journalist mit Schwerpunkt Gesundheitspolitik.
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