Einwurf

Inklusion ist eine Haltungsfrage

Auf dem Weg zu mehr Inklusion in Deutschland hat sich viel Gutes getan, aber am Ziel sind wir noch lange nicht, sagt Jürgen Dusel. Verbesserungsbedarf sieht der Behindertenbeauftragte beim Wahlrecht und der Barrierefreiheit.

 

Portrait Jürgen Dusel

Wenn Sie sich die Frage stellen,

was die Grundlage einer funktionierenden Demokratie ist, dann kommen Sie sehr schnell zu den Themen Gleichberechtigung, Chancengleichheit, umfassende Mitbestimmung und selbstbestimmte Teilhabe – und zwar in allen Lebensbereichen. Das meine ich mit dem Motto meiner Amtszeit „Demokratie braucht Inklusion“ und das sind auch die Themen, die in der UN-Behindertenrechtskonvention angesprochen sind. Denn dort werden diese Rechte aus der Sicht von Menschen mit Behinderungen präzisiert. Erst wenn diese umfassenden Rechte wirklich für alle Menschen umgesetzt sind, können wir von einer guten Demokratie sprechen. Durch die Ratifizierung von Bundestag und Bundesrat ist die Konvention im Jahr 2009 zu geltendem deutschen Recht geworden. Der Staat hat die Aufgabe, die in der UN-Behindertenrechtskonvention formulierten Rechte so umzusetzen, dass sie auch tatsächlich im Alltag gelebt werden und Menschen mit Behinderungen sich erfolgreich darauf berufen können.

Wenn es um die Ausgestaltung unserer Demokratie geht, ist mir die Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben (Artikel 29) ein besonderes Anliegen. Denn wie sollte der Grundsatz der Konvention „Nichts über uns ohne uns“ wirklich umgesetzt werden, wenn Menschen mit Behinderungen nicht aktiv Politik mitgestalten können? Dafür müssen jedoch einige Voraussetzungen geschaffen werden, sei es bei den Wahlrechtsausschlüssen für bestimmte Personengruppen, bei der Finanzierung von Assistenzleistungen und Hilfsmitteln beim Bundesfreiwilligendienst oder bei der Beteiligung der Verbände an wichtigen Vorhaben der Regierung. Wir werden uns außerdem viel gezielter damit auseinandersetzen müssen, die Digitalisierung als Chance auch für Menschen mit Behinderungen zu begreifen und aktiv zu gestalten – zum Beispiel, wenn es um die Teilhabe am Arbeitsleben geht.

Politik für Menschen mit Behinderungen ist eine Aufgabe für alle Ressorts.

Die Aufgabenliste für mehr Inklusion in Deutschland lässt sich fast beliebig verlängern. Ein dickes Brett ist nach wie vor die Barrierefreiheit in allen Bereichen des Lebens, hier insbesondere die Verpflichtung privater Anbieter von Produkten und Dienstleistungen, die für die Allgemeinheit bestimmt sind – zum Beispiel Arztpraxen oder auch Kinos, Theater, Hotels oder Restaurants. Menschen mit Behinderungen wollen nicht nur mit dem Nötigsten versorgt sein. Sie wollen leben, lieben, diskutieren, sie wollen Zugang zu Kunst und Kultur. Sie wollen wohnen und zwar mittendrin, nicht in abgetrennten Bereichen. Barrierefreiheit muss deshalb ein Qualitätsmerkmal für alle werden, dann haben alle die gleichen Chancen.

Zwar hat sich auf dem Weg zu mehr Inklusion in Deutschland schon viel Gutes getan, aber am Ziel sind wir noch lange nicht. Derzeit blicken wir auf die anstehende zweite Staatenprüfung Deutschlands durch den Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen, die im vergangenen Jahr begonnen hat. Sie wird zeigen, wie es um die Inklusion in Deutschland steht. Bei der ersten Staatenprüfung, die 2015 abgeschlossen wurde, hat die Bundesrepublik einige Hausaufgaben bekommen, sei es im Bereich Arbeitsmarkt, in der Bildung oder auch beim Wahlrecht. Der Ausschuss hatte damals über sechzig kritische Punkte und Empfehlungen formuliert.

Deswegen ist es jetzt sehr wichtig, dass wir in unseren Bemühungen nicht nachlassen und auch in dieser Legislaturperiode die in der UN-Behindertenrechtskonvention beschriebenen Werte und Rechte Richtschnur und Maßstab für die Politik der gesamten Bundesregierung sind. Politik für Menschen mit Behinderungen ist nicht nur eine Angelegenheit der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, sie ist eine Querschnittsaufgabe für alle Ressorts.

Inklusion ist aber nicht nur eine Angelegenheit der Politik. Sie ist zuallererst eine Haltungsfrage, sie braucht Verbündete und Mitstreiter. Jede und jeder einzelne ist gefragt. Nur so kommen wir unserem gemeinsamen Ziel näher.

Weitere Informationen über die Arbeit des Behindertenbeauftragten

Jürgen Dusel ist seit 2018 Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen.
Bildnachweis: Henning Schacht