Fiktive Genehmigung

Frist versäumt – Kasse muss zahlen

Entscheidet eine Krankenkasse rechtswidrig zu spät über einen Leistungsantrag, können sich Versicherte die Behandlung selbst beschaffen – auch im Ausland. Sie sind dann nicht mehr an die zugelassenen Leistungserbringer gebunden. Dies hat das Bundessozialgericht im Fall einer Operation zur Hautstraffung in der Türkei entschieden. Von Anja Mertens

Urteil vom 11. September 2018
– B 1 KR 1/18 R –

Bundessozialgericht

Bei schwer übergewichtigen Menschen

führen große Gewichtsabnahmen meist zu überschüssigen Hautpartien wie Fettschürzen. Darunter leiden betroffene Patienten sehr. Oft können die Hautlappen nur mit einer Operation entfernt werden. Die Kosten dafür können gesetzliche Krankenkassen aber nur dann übernehmen, wenn eine solche Operation medizinisch indiziert ist, nicht aber, wenn sie aus ästhetischen Gründen erfolgt.

Beantragt ein Patient bei seiner Kasse die Versorgung mit einer Leistung, muss sie den Antrag sorgfältig prüfen und spätestens drei Wochen nach Antragseingang entscheiden. Holt sie ein Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) ein, sind es fünf Wochen. Hält eine Krankenkasse diese gesetzlichen Vorgaben nicht ein, gilt der Antrag als „fiktiv genehmigt“. Der Versicherte kann sich dann die Leistung selbst beschaffen. So geschehen im Fall eines Mannes, über den das Bundessozialgericht (BSG) zu entscheiden hatte.

Operation in der Türkei.

Der Mann beantragte nach einer massiven Gewichtsabnahme bei seiner Krankenkasse am 27. November 2014 eine Hautstraffung im Bauch- und Brustbereich. Seine Ärzte hatten dies befürwortet. Die Kasse kündigte eine Überprüfung durch den MDK an und forderte den Patienten am 2. Dezember 2014 auf, weitere Unterlagen vorzulegen. Nach deren Eingang beauftragte sie den MDK, ein Gutachten zu erstellen. Am 29. Dezember 2014 teilte die Kasse ihrem Versicherten mit, dass er benachrichtigt werde, sobald das Gutachten vorliege. Der MDK hielt die operative Hautstraffung für nicht erforderlich, und die Kasse lehnte den Antrag mit Bescheid vom 13. Januar 2015 ab und hatte damit die Entscheidungsfrist überschritten.

Der Mann ließ sich in einer Klinik in der Türkei operieren. Er zahlte dafür 4.200 Euro aus eigener Tasche und forderte von seiner Kasse, ihm die Kosten für den selbst beschafften Eingriff zu erstatten. Dies lehnte seine Kasse ab. Daraufhin klagte er, unterlag aber vor dem Sozial- und Landessozialgericht. Nach dem Urteil beider Gerichte habe sein Anspruch auf die Versorgung mit der Hautstraffungs-OP zwar grundsätzlich bestanden, aber während des Türkeiaufenthalts geruht.

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Daraufhin legte der Mann Revision beim BSG ein und bekam dort Recht. Die obersten Sozialrichter stellten fest, dass die Voraussetzungen für die Kostenerstattung erfüllt seien. Der Patient habe davon ausgehen dürfen, dass die begehrte OP zu den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) gehört. Und wegen der ärztlichen Einschätzung habe er sie auch für erforderlich halten dürfen. Seine Krankenkasse hingegen habe die gesetzlich vorgeschriebene Frist nicht eingehalten.

Grundsätzlich müssten Kassen innerhalb von drei Wochen über einen Antrag entscheiden. Hole eine Kasse eine Stellungnahme beim Medizinischen Dienst ein, verlängere sich diese Frist um zwei auf fünf Wochen. Werde dieser Zeitraum überschritten, gelte die Leistung als genehmigt (fiktive Genehmigung, Paragraf 13 Absatz 3a Sozialgesetzbuch V). Im vorliegenden Fall habe die Frist ab dem Zugang des Antrags am 28. November 2014 zu laufen begonnen und somit am 2. Januar 2015 geendet. Der Kassenbescheid vom 13. Januar 2015 sei verspätet erfolgt, und der Patient habe sich die Leistung selbst beschaffen dürfen.

Kein Grund für längere Frist mitgeteilt.

Die gesetzliche Frist habe sich auch nicht dadurch verlängert, dass die Krankenkasse ihren Versicherten aufforderte, eine Fotodokumentation und einen dermatologischen Bericht vorzulegen. Auch habe  sie ihn nicht darüber informiert, um wie viele Tage genau die Fünf-Wochen-Frist voraussichtlich überschritten werde (taggenaue Dauer der Überschreitung). Die Krankenkasse habe nicht mitgeteilt, warum sich die Genehmigung verzögert. Sie hätte mindestens einen hinreichenden Grund angeben müssen, warum über die Leistung trotz Ablaufs der Frist noch nicht entschieden werden könne.

Medizinisch gesehen entsprach der Eingriff in der türkischen Klinik der beantragten Behandlung, so die obersten Sozialrichter.

Stelle sich heraus, dass sich die zunächst prognostizierte Dauer für eine Entscheidung als zu kurz erweist, könne die Kasse dem Antragsteller vor Fristablauf die hinreichenden Gründe mit der geänderten taggenauen Prognose erneut mitteilen, um den Eintritt der Genehmigungsfiktion zu vermeiden. Dies aber  hätte sie tun müssen (Paragraf 13 Absatz 3a SGB V). Stattdessen habe sie den Patienten lediglich darüber informiert, dass er benachrichtigt werde, sobald das MDK-Gutachten vorliege.

Inländische Behandlung muss nicht sein.

Darüber hinaus stellten die obersten Sozialrichter fest, dass der Patient wegen der rechtswidrigen Ablehnung der Leistung nicht verpflichtet gewesen war, sich die fiktiv genehmigte Behandlung nur in Deutschland, in Mitgliedsländern der Europäischen Union, des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) oder der Schweiz zu verschaffen. Ebenso wenig müssten GKV-Versicherte bei einer rechtswidrigen Ablehnung einer Leistung die Bedingungen einer abrechenbaren Auslandsversorgung einhalten. Dem könne auch nicht entgegengehalten werden, dass die Qualitätssicherung und damit der Patientenschutz ausschließlich in Deutschland gewährleistet würde. Denn auch im Ausland praktizierende Ärzte unterlägen den Sorgfalts-, Informations- und gegebenenfalls Schadensersatzpflichten. Diese böten damit „grundsätzlich die Gewähr für eine ordnungsgemäße Leistungserfüllung“.

Anja Mertens ist Rechtsanwältin im Justiziariat des AOK-Bundesverbandes.
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