Darf’s ein bisschen mehr sein? Ja, sagen Experten mit Blick auf die Finanzierung der Pflegeversicherung.
Finanzierung

Nachschlag für die Pflege

Die jüngste Anhebung des Beitrags zur Pflegeversicherung deckt die Mehrausgaben nach der Pflegereform von 2017. Doch sie bietet wenig Spielraum für weitere, von der Politik versprochene Verbesserungen, wie die Analyse von Dr. Antje Schwinger und Martina Sitte zeigt.

Die Zahl pflegebedürftiger

Menschen steigt, sie erhalten künftig mehr Unterstützung, und die Arbeitsbedingungen in der Pflege sollen sich verbessern. Das alles will finanziert sein. Doch die Pflegekassen verzeichneten zuletzt 2017 und 2018 gravierende Defizite. Nun hat der Gesetzgeber den Beitragssatz der Pflegeversicherung nach einer stufenweisen Erhöhung in den Jahren 2015 und 2017 erneut um 0,5 Prozentpunkte angehoben. Versicherte und Arbeitgeber zahlen seit Jahresbeginn 2019 einen Beitragssatz von 3,05 Prozent (kinderlose Versicherte 3,3 Prozent).

Reformfolgen waren vorhersehbar.

Das Bundesgesundheitsministerium begründet die Erhöhung mit dem Erfolg der Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffs nach dem Zweiten Pflegestärkungsgesetz (PSG II) 2017. Die meisten der aus dem PSG II resultierenden Kosten sind darauf zurückzuführen, dass sich nach der Überleitung der drei Pflegestufen in fünf Pflegegrade die durchschnittliche Schwere der Pflegebedürftigkeit erheblich verändert hat. Darüber hinaus steigen teilweise die Leistungssätze in den verschiedenen Leistungsarten.

Die Ausgaben der Pflegeversicherung haben daher allein im Reformjahr 2017 um insgesamt 7,5 Milliarden Euro zugenommen. Mit 44 Prozent macht das Pflegegeld knapp die Hälfte des Ausgabenzuwachses aus. Für diese Leistung, auf die Menschen Anspruch haben, die sich zu Hause pflegen lassen, bringen die Kassen aktuell zehn Milliarden Euro jährlich auf.

Der Anstieg der Ausgaben in der vollstationären Pflege betrug demgegenüber nur 18 Prozent, insbesondere weil die stationären Leistungssätze deutlich geringer angehoben wurden als die ambulanten. Die Ausgaben für die Leistungen der sozialen Sicherung der pflegenden Angehörigen, insbesondere Beiträge zur Rentenversicherung, sind im Jahr 2017 um 50 Prozent auf 1,5 Milliarden Euro gestiegen.

Diese Effekte waren durchaus vorhersehbar und wären bei der Abschätzung der Reformkosten zu berechnen gewesen. Grund für die Beitragsanhebung können insofern nicht unvorhergesehene Ausgaben wegen des Erfolgs der Reform sein. Vielmehr hat der Gesetzgeber die Kosten der PSG-II-Reform zu niedrig veranschlagt. Die Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs war letztlich nicht voll finanziert. Eine ehrliche Analyse der Ursachen steht jedoch aus.

Ausgaben steigen weiter.

Erst die aktuelle Anhebung des Beitragssatzes mit jährlichen Mehreinnahmen von rund 7,6 Milliarden Euro kann die resultierenden Mehrausgaben decken. Aller Voraussicht nach ist damit die Beitragssatzstabilität zunächst – zumindest bis 2022 – sichergestellt. Doch laut Bundesgesundheitsministerium sollen von den 0,5 Prozentpunkten Beitragssatzerhöhung 0,2 Prozent (rund zwölf Milliarden Euro) für weitere, im Koalitionsvertrag vereinbarte Verbesserungen in der Pflege zur Verfügung stehen. Insbesondere geht es dabei um Mittel für die kontinuierliche Anpassung der Sachleistungsbeträge (Beträge für die professionellen Pflegeleistungen) an die Personalentwicklung und die weitere Entlastung pflegender Angehöriger.

Dies ist allerdings wenig realistisch. Denn durch die aktuelle Erhöhung der Beiträge fließen bis zum Jahr 2022 zwar insgesamt mehr als 30 Milliarden Euro zusätzlich in die Pflegeversicherung. Prognosen des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) zeigen aber, dass gleichzeitig auch die Ausgaben von rund 38,5 Milliarden Euro im Jahr 2017 auf 49 bis 50 Milliarden Euro im Jahr 2022 steigen werden (siehe Grafik).

Der Handlungsdruck wird sich erhöhen.

Der überwiegende Teil der zusätzlichen Mittel ist durch die gesetzlich verankerten Leistungen gebunden. Für darüber hinausgehende, künftige Verbesserungen stehen laut WIdO-Berechnungen je nach Szenario (Entwicklung der Zahl der Pflegebedürftigen und andere Parameter) bis ins Jahr 2022 lediglich zwischen 6,6 und 3,8 Milliarden zur Verfügung. Diese Summe liegt deutlich unter den vom Ministerium berechneten zwölf Milliarden Euro.

Die Dynamik aus Leistungsverbesserungen in der ambulanten Pflege (unter anderem flexiblerer Einsatz von Kurzzeit- und Verhinderungspflege, Finanzierung von Angeboten zur Unterstützung im Alltag und im Haushalt) und damit einhergehend die Zunahme von ambulanten Versorgungsangeboten, die die vollstationäre Pflege ersetzen (Tendenz zur „Ambulantisierung“), der Anstieg der Zahl pflegebedürftiger Leistungsempfänger aufgrund des demografischen Wandels sowie die fehlende Anpassung der Leistungen an die Preisentwicklung führen bereits heute zu einem stark wachsenden Finanzbedarf der Pflegeversicherung und in der Pflege insgesamt.

Grafik: Prognose der Finanzentwicklung der Soziale Pflegeversicherung

Kein Geld übrig: Zwar steigen die Einnahmen der Pflegeversicherung bis 2022 auf 51,3 Milliarden Euro. Doch die Ausgaben für die gesetzlich festgeschriebenen Leistungen ziehen nach. Das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) berechnet, dass bei drei Prozent mehr Pflegebedürftigen ambulant (Szenario A) im Jahr 2022 die Ausgaben bei 49,5 Milliarden Euro liegen. Bei 1,5 Prozent mehr Pflegebedürftigen ambulant (Szenario B) steigen sie auf 50,6 Milliarden Euro. 

Quelle: WIdO 2018

Die steigenden Personalkosten (auch durch das neue Personalbemessungsverfahren), die wachsenden Eigenanteile der Pflegebedürftigen sowie die uneinheitliche und teilweise unzureichende Investitionskostenfinanzierung von Pflegeeinrichtungen durch die Länder werden zudem den Handlungsdruck weiter erhöhen.

Strukturen in den Blick nehmen.

Damit die Pflegeversicherung auch in Zukunft ihre Aufgabe erfüllen kann, muss die Politik die Finanzierung mit Wirkung auf die nächste Legislaturperiode überprüfen und weiterentwickeln. Aktuell in der Diskussion sind beispielsweise die Einführung eines Bundeszuschusses, ein fixer Eigenanteil oder die Auflösung des Pflege-Vorsorgefonds. Weil nicht unbegrenzt mehr Geld in die Pflege fließen kann, müssen auch die Leistungsstrukturen in den Blick genommen werden.

Es stellt sich beispielsweise die Frage, inwiefern die Mittel heute zielgerichtet eingesetzt werden, etwa zur Unterstützung von ambulanten Pflegearrangements. Trägt beispielsweise das Pflegegeld in der gegenwärtigen Form wirklich dazu bei, das häusliche Pflegesetting ausreichend zu stabilisieren? Möglicherweise wären verstärkte Unterstützungs- und Entlastungsangebote (zum Beispiel die Vollfinanzierung von Tages- und Nachtpflege, haushaltsnahe Dienste) oder echte Lohnersatzleistungen für erwerbstätige Angehörige, die Pflegezeit nehmen, weitaus wirksamer.

Fehlanreize beseitigen.

Dringend diskutiert werden sollte zudem eine Auflösung der Sektorierung ambulant und stationär. Wenn Pflegedürftige sich zu Hause versorgen lassen, können sie heute in Konsequenz des jahrelangen Ausbaus des ambulanten Pflegesettings mehr als doppelt so hohe Beträge aus der Pflegeversicherung beziehen als bei vollstationärer Pflege, ohne dass damit eine Vollversorgung verbunden ist.

Dies erzeugt im Zusammenhang mit den von den Krankenkassen finanzierten Leistungen der häuslichen Krankenpflege den Anreiz, dass vollstationäre Einrichtungen sich leistungsrechtlich in ambulante Versorgungsformen umwandeln, ohne dass damit ein pflegerisch-betreuerischer Zusatznutzen verbunden sein muss (Ambulantisierung).

Mit einer Beitragssatzerhöhung ist es also nicht getan. Politik und Wissenschaft sollten die Weiterentwicklung der Finanzierungs- wie auch der Leistungsstrukturen der Pflegeversicherung angehen. Die Frage nach dem Was und Wie wird die eigentliche Herausforderung darstellen und sollte in den kommenden Diskursen einen entsprechenden Stellenwert erhalten.

Antje Schwinger leitet den Forschungsbereich Pflege im Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO).
Martina Sitte ist Referentin in der Abteilung Politik im AOK-Bundesverband.
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