Portrait
Vorstand gefragt!

„Wir wollen digitale Technik behutsam einsetzen“

In vielen Projekten engagiert sich die AOK PLUS für smarte digitale Lösungen, mit denen sich die Patientenversorgung verbessern lässt. Vorstandschef Rainer Striebel ist überzeugt: Nur wenn die Vorteile für alle Beteiligten greifbar sind, entsteht die nötige Akzeptanz für neue Versorgungsformen.

G+G: Herr Striebel, wie nutzt die AOK neueste digitale Entwicklungen, um die Patientenversorgung – beispielsweise im Bereich der Pflege – zu verbessern?

Rainer Striebel: Ich bin davon überzeugt, dass gerade im Gesundheitswesen der persönliche Kontakt von Mensch zu Mensch überaus wichtig ist. Auf der anderen Seite kann digitale Technik in bestimmten Bereichen das Leben einfacher machen. Man muss sie allerdings behutsam einsetzen, denn die Digitalisierung löst bei vielen Menschen immer noch Ängste aus. Das wollen wir auf jeden Fall ernst nehmen. Deshalb müssen wir unseren Kunden zu allererst deutlich machen, welche ganz konkreten Vorteile sie von digitalen Angeboten haben. Ohne die Akzeptanz der Patienten und Leistungserbringer kann digitale Technik nicht erfolgreich eingesetzt werden. In Leipzig testen wir deshalb beispielsweise im Projekt Telekonsil, wie Pflegeeinrichtungen bei Bedarf mit dem Hausarzt per Video kommunizieren und Vitaldaten übertragen können. Dort haben wir zwei Hausarztpraxen und drei Pflegeeinrichtungen mit Technik-Paketen ausgestattet. Der Hausarzt kann die Technik auch nutzen, um bei Bedarf einen Facharzt einzubinden. Bei entsprechender Akzeptanz wollen wir solche Angebote dann perspektivisch auch an vielen anderen Orten in Thüringen und Sachsen anbieten.

G+G: Welche Chancen bietet die Digitalisierung aus Ihrer Sicht für die medizinische Versorgung in den ländlichen Regionen Sachsens und Thüringens?

Striebel: Sie kann die Versorgung insbesondere älterer Menschen, die ja oft auch weniger mobil sind, verbessern – und gleichzeitig die Ärzte entlasten. Unser Projekt TeleDoc PLUS ist dafür ein gutes Beispiel. Hier können Ärzte in ganz Thüringen ihre Praxisassistenten mit einem Telemedizin-Rucksack ausstatten – das ist bundesweit einmalig, das macht so keine andere Kasse. Die Praxisassistentinnen können dann im Auftrag des Arztes die Patienten zuhause oder auch in einer Pflegeeinrichtung aufsuchen. Ihr Rucksack beinhaltet medizinische Messgeräte, mit denen beispielsweise Puls, Blutzucker, Gewicht, Blutdruck, Lungenvolumen oder Herzfunktion erfasst und direkt an den Arzt übermittelt werden können. Bei Bedarf lässt sich der Hausarzt per Video zuschalten. Den Patienten erspart das den oft beschwerlichen Weg in die Praxis und die Ärzte können Routinearbeiten delegieren und haben mehr Zeit in ihrer Praxis, zum Beispiel für die Versorgung von Akutfällen.  

G+G: Die AOK PLUS scheint sehr fokussiert auf digitale Lösungen. Warum ist Ihnen das Thema so wichtig?

Striebel: Die Versorgung in der Fläche wird aufgrund der demografischen Entwicklung künftig immer herausfordernder. Ich bin davon überzeugt, dass es ohne digitale Lösungen in einigen Jahren kaum noch gelingen kann, die Versorgung der Menschen auf dem heutigen Niveau sicherzustellen. Das gilt insbesondere für entlegene ländliche Gebiete, in denen ärztliche und pflegerische Angebote manchmal nur mit größerem Aufwand erreichbar sind. Aus diesem Grund versuchen wir heute schon in diversen Projekten, die ärztliche Versorgung unabhängiger von Zeiten und Orten zu machen.

G+G: Wie nehmen die Leistungserbringer Ihre Vorschläge auf?

Striebel: Wenn sich durch digitale Lösungen lange eingeschliffene Prozesse ändern müssen, gibt es auch Widerstände. Wir versuchen den Leistungserbringern zu vermitteln, dass digitale Lösungen sie im Alltag entlasten können und lediglich eine Ergänzung zur bisherigen medizinischen Versorgung darstellen. Nur wenn die Leistungserbringer den Einsatz der neuen Technik als Win-Win-Situation erleben, gibt es eine realistische Chance, entsprechende Projekte zu realisieren. Dafür braucht es einen vertraglichen Rahmen, bei dem auch der Gesetzgeber durch Schaffung von mehr Flexibilität für die Akteure mithelfen kann. Eine andere wichtige Voraussetzung ist, dass man miteinander im kontinuierlichen Gespräch bleibt und die Akteure ein gewisses Vertrauen füreinander aufbringen. Sowohl in Sachsen als auch in Thüringen haben wir es geschafft, durch langjährige Kontakte und gute Zusammenarbeit zum Beispiel mit der Ärzteschaft, den Krankenhäusern oder Apothekern und deren Institutionen einen großen Vertrauensvorrat zu schaffen und viele zukunftsweisende Projekte in Gang zu bringen.

G+G: Apropos Zukunft, seit eineinhalb Jahren betreut die AOK PLUS auch Start-Ups. Wie muss man sich die Zusammenarbeit zwischen einer gestandenen Krankenkasse und Gründern vorstellen, die mit ihrer Geschäftsidee noch ganz am Anfang stehen?

Striebel: Wir wählen alle sechs Monate neue Start-Ups mit dem Themenschwerpunkt E-Health aus, die wir dann als Mentoren betreuen. Das ist eine tolle Bereicherung unserer Arbeit. Auf diesem Wege kommen immer wieder neue Impulse auf unseren Tisch. Mit unserer Expertise können wir den Gründern bei der Suche nach Lösungen weiterhelfen, denn mit den Hindernissen und Tücken des Gesundheitssystems sind sie in der Regel nicht vertraut. Wir verdichten und konkretisieren die Ideen letztlich zu einer machbaren und sinnvollen Lösung, die für Patienten wirklich hilfreich ist und in der Regelversorgung eingesetzt werden könnte. Wir waren zum Beispiel sehr begeistert vom Start-Up Mindance, das an einer App für Mentaltraining zur Stressreduktion arbeitet oder von Keleya, welche Schwangeren Orientierung gibt und sie im Alltag begleitet.

G+G: Zusammen mit Ärzte- und Apothekervertretern hat die AOK PLUS das mit dem Patientensicherheitspreis ausgezeichnete Projekt ARMIN auf die Beine gestellt. Warum ist es trotzdem bisher nicht in die Regelversorgung übergegangen?

Striebel: Mit der Arzneimittelinitiative Sachsen und Thüringen (ARMIN) wollen wir die Medikamentenversorgung von Menschen verbessern, die täglich mehr als fünf Medikamente – und das über mindestens sechs Monate hinweg – einnehmen müssen. Jeder teilnehmende Arzt, der einen solchen Patienten betreut, soll mit einem Partner-Apotheker gemeinsam ein Medikationsmanagement durchführen. Im Gegensatz zu den bei uns sonst eher klein gehaltenen Pilotprojekten, die sich leichter steuern lassen, ist ARMIN ein Mammutprojekt mit viel IT, viel Aufwand und vielen mentalen und administrativen Herausforderungen. So etwas braucht schlicht und einfach Zeit. Die Evaluation des Projektes wird zeigen, inwieweit der Aufwand dann auch tatsächlich zu einer Verbesserung der Patientenversorgung führt. Wir sammeln bei diesem Projekt unglaublich viele Erfahrungen und haben wichtige technische Grundlagen gelegt. Auf dieser Basis und dem damit gewachsenen Vertrauensverhältnis mit der Praxissoftwareindustrie werden jetzt weitere gute Projekte aufgelegt.

G+G: Nun arbeiten Sie nicht allein an digitalen Lösungen, auch andere AOKs und Wettbewerber sind im selben Feld sehr aktiv. Wie kann es gelingen, bei so vielen unterschiedlichen Vorstößen eine ganzheitliche Versorgung mit kompatiblen digitalen Produkten sicherzustellen?

Striebel: Es ist ganz klar: Der Wettbewerb im Gesundheitswesen wird um das beste Versorgungsangebot geführt. Im Sinne der Patienten müssen wir dabei trotzdem kooperativ denken, Insellösungen machen keinen Sinn. Bei der Frage, wie die Produkte unterschiedlicher Kassen zueinanderpassen sollen, sind wir schon ein großes Stück vorangekommen. Deshalb begrüßen wir es auch ausdrücklich, dass die gesamte GKV zunehmend mit einheitlichen IT-Standards arbeitet, um die einfache Weitergabe von Daten zu ermöglichen. „Alte Gräben“ werden zum Wohle des Patienten zunehmend zugeschüttet, wie beispielhaft das gemeinsame Medikationsplanprojekt der AOKen, der Hausärztlichen Vertragsgemeinschaft und HL7 Deutschland zeigt. Inzwischen werden sogar erste Piloten kassenartübergreifend durchgeführt, um die Komplexität für die Leistungserbringer zu reduzieren. Innerhalb des AOK-Systems können wir von den vielen Ideen und Entwicklungen der AOK-Gemeinschaft profitieren. Dies wird zu einer breiten Palette von neuen Lösungen für unsere Versicherten und Leistungserbringer führen.

G+G: Welchen Beitrag müssen aus Ihrer Sicht die Bundes- und Landesregierungen leisten, damit Sie neue digitale Lösungen entwickeln können?

Striebel: Zunächst brauchen wir natürlich vernünftige Rahmenbedingungen. Dazu gehört der vielfach beschworene Breitbandausbau, der schnell und flächendeckend kommen muss. Es bestehen heute noch eine Vielzahl von regulatorischen Hindernissen. Unser Sozialgesetzbuch bildet bis heute eine Versorgungswelt ab, in der digitale Lösungen nur eine untergeordnete Rolle spielen. Ich bin davon überzeugt, dass die AOK-Gemeinschaft noch sehr viel schneller ihren Kunden gute Lösungen für eine bessere Versorgung anbieten kann. Dafür muss der Gesetzgeber allerdings bereit sein, die rechtlichen Rahmenbedingungen den heutigen Herausforderungen anzupassen. Konkrete Vorschläge zur Verbesserung haben wir der Politik auf Landes- und Bundesebene bereits vorgelegt. So sollte zum Beispiel nichts im Sozialgesetzbuch verboten sein, wofür der Versicherte explizit eingewilligt hat, sich also den betreffenden Service explizit von seiner AOK wünscht. Grundsätzlich müssen wir auch diskutieren, wie die regionalen Gestaltungsspielräume für die Akteure vor Ort sinnvoll zu erweitern sind. Wir wissen genau, dass wir in den Regionen sehr unterschiedliche Strukturen und Herausforderungen haben, für die wir maßgeschneiderte Lösungen anbieten können. Da ist das gute Zusammenspiel mit unseren Versicherten, Leistungserbringern und der Politik in der Region ein entscheidender Erfolgsfaktor.

Karola Schulte führte das Interview. Sie ist Chefredakteurin der G+G.
Bildnachweis: AOK PLUS