Interview

„Gemeinden brauchen große Gestaltungsfreiheit“

Für die Zukunft dünn besiedelter Gegenden sind gute Ideen gefragt, sagt Prof. Dr. Rainer Winkel. Der Regionalplaner empfiehlt, im ländlichen Raum starre Richtwerte für Schulen oder Arztpraxen durch bedarfsgerechtere Ziele zu ersetzen.

Herr Professor Winkel, mehr als die Hälfte der Deutschen lebt immer noch auf dem Land. Dennoch sorgen wir uns um die Zukunft ländlicher Räume. In welchen Gegenden schrumpft die Bevölkerung besonders stark?

Rainer Winkel: Die meisten Landbewohner leben in der Nähe von wachstumsstarken, pulsierenden Verdichtungsräumen. Wenn solche Zentren Anziehungskraft und Arbeitsplätze verlieren, geht auch die Bevölkerungszahl im Umland merklich zurück. Je abgelegener ländliche Räume sind, umso schwieriger ist es, die Menschen dort zu halten. Das gilt nicht nur für Regionen in Mecklenburg-Vorpommern, sondern beispielsweise auch für die Eifel.

In Mecklenburg-Vorpommern liegen touristisch attraktive Gebiete. Dort ziehen vielleicht sogar noch Menschen hin?

Winkel: An der Ostseeküste zeigen sich frappierende Unterschiede. Zum Beispiel Usedom hat sich mit dem Tourismus sehr gut gefestigt. Aber 15 bis 20 Minuten Autofahrt von der Küste entfernt liegen Städte wie Anklam, die schon im Zentrum aussterben. Diese Gegensätze von gewisser Stabilität oder sogar Wachstum und das Ausbluten einer Region können dicht beieinanderliegen. In der Eifel liegen nicht weit vom Bonner Verdichtungsraum entfernt Gebiete, die am Leerlaufen sind. Oder Sachsen-Anhalt: In Gegenden wie dem Jerichower Land bricht die Bevölkerung weg.

Junge Leute gehen weg, alte Menschen bleiben zurück, Läden machen zu, Ärzte finden keine Nachfolger. Wie kann es soweit kommen?

Winkel: Im ländlichen Raum gibt es seit Langem zu wenige Arbeitsplätze. Die industrialisierte Landwirtschaft bietet kaum noch Jobs. Der Hauptarbeitgeber im ländlichen Raum ist das verarbeitende, produzierende Gewerbe. Dieser Bereich wird zu wenig gefördert. Die kleinen und mittelständischen Unternehmen im ländlichen Raum können sich gegen die europaweite Konkurrenz kaum behaupten. Auch ist die Telekommunikations-Infrastruktur ausgesprochen unterschiedlich. In Nossen, einer Stadt mit 10.000 Einwohnern in Sachsen, hatten vor zwei Jahren nicht mal zehn Prozent der Bevölkerung einen Internetanschluss mit hoher Übertragungsgeschwindigkeit. Das ist für Unternehmen problematisch.

Wenn Arbeitsplätze fehlen, pendeln Menschen in die nächste erreichbare Großstadt oder ziehen irgendwann ganz weg. Was trägt außerdem dazu bei, dass der ländliche Raum Einwohnerinnen und Einwohner verliert?

Winkel: Das Angebot an Schulen ist stark ausgedünnt worden, zum einen als Reaktion auf den Bevölkerungsrückgang. Zudem haben ostdeutsche Länder nach der Wiedervereinigung auf große Schulen nach westdeutschem Muster gesetzt. Sachsen hat seit Mitte der 90er-Jahre mehr als 800 Schulen geschlossen. Zum Teil fahren die Schülerinnen und Schüler heute über eine Stunde zum Gymnasium. Wenn aber Schulen derart schlecht erreichbar sind, ist es schwer, junge Ärztinnen und Ärzte für frei werdende Landarztpraxen zu finden. Nicht nur die schulische und die medizinische Versorgung stellen ländliche Räume vor große Herausforderungen. Ich bin auch auf Regionen gestoßen, in denen sich nur noch in jedem dreißigsten Dorf eine Postagentur und in jedem vierzigsten Dorf eine Bank oder ein Geldautomat befinden. In vielen Dörfern schließen die Gaststätten – die letzten Orte einer gemeinsamen Kommunikation. Die Vereine verlieren demografisch bedingt Mitglieder und geben auf. Dadurch verschwindet eine weitere Möglichkeit für persönliche Kontakte. Insbesondere ältere Menschen leiden dann möglicherweise unter Einsamkeit.

„Die Gegensätze von gewisser Stabilität und das Ausbluten einer Region können dicht beieinanderliegen.“

Vor diesem Hintergrund bekommt die Mobilität eine große Bedeutung. Wie lässt sie sich auf dem Land sichern?

Winkel: Für den Landtag in Mecklenburg-Vorpommern haben wir vor einiger Zeit die Infrastrukturen für Senioren untersucht. Beispielsweise im Landkreis Greifswald wird etwa ein Viertel bis ein Drittel der Dörfer gar nicht mehr vom Öffentlichen Personennahverkehr, dem ÖPNV, angefahren. Für den Landkreis Meißen gilt ähnliches. Dort hat mir der Verkehrsdezernent vorgerechnet, dass er für rund 152.000 Einwohner 500 Haltestellen unterhalten muss, während es in Dresden mit rund 550.000 Einwohnern 155 sind. Das macht den Aufwand für die Verkehrsanbindung im ländlichen Raum deutlich. Manchmal helfen sich die Dörfer selbst, beispielsweise mit einem Bürgerbus: Ehrenamtliche aus der Gemeinde holen nach Vereinbarung Menschen vor ihrer Haustür ab und fahren sie zum Ziel oder zu Haltestellen des ÖPNV. In der Schweiz sind übrigens alle Ortschaften mit dem ÖPNV erreichbar. So viel Geld investieren wir in Deutschland nicht. Aber wenn wir den ländlichen Raum stabilisieren wollen, müssen wir manches ein bisschen anders machen als bisher üblich.

Warum soll der Staat so viel Aufwand treiben, um periphere Regionen wiederzubeleben?

Winkel: In Deutschland ist der Anspruch auf gleichwertige Lebensverhältnisse im Grundgesetz verankert. Auch wenn dieses Ziel kaum erreichbar ist, zeigt es doch die richtige Richtung auf, um den ländlichen Raum zu stabilisieren. Aber wahrscheinlich wird es langfristig auch in Deutschland wieder verlassene Dörfer geben, wie bereits heute beispielsweise in den italienischen Alpen oder wie im 18. Jahrhundert in Rheinland-Pfalz, als 1.500 bis 1.600 Windmühlenstandorte durch die Erfindung der Dampfmühle zur Wüstung wurden.

Welche Möglichkeiten sehen Sie, das Leben in ländlichen Räumen zu erhalten? Wäre eine Art Dorf-Marketing denkbar, um Großstädter zu motivieren, aufs Land zu ziehen? Manche Menschen träumen vom Landleben in gesunder Luft und grüner Umgebung. Und die Mieten sind niedriger.

Winkel: Die Idee, für das Leben auf dem Dorf zu werben, finde ich gut. Aber Menschen aus der Großstadt werden sich die ländliche Wohnung eher als Zweitwohnsitz halten und nur am Wochenende dort sein. Für periphere Regionen, also weit von den Großstädten entfernte Ortschaften, ist das keine Option. In der Nähe von Verdichtungsräumen, beispielsweise in Umfeld von Mainz oder Frankfurt, lockt günstiger Wohnraum möglicherweise Familien aufs Land. Damit stehen die Gemeinden allerdings vor neuen Herausforderungen: die hohen Kosten für Kindertagesstätten. Im hessischen Steinbach, einer Stadt mit 10.000 Einwohnern, fließen zwei Drittel der kommunalen Einnahmen in die Kinderbetreuung. Die Grundsteuern auf ländliche Flächen bringen kaum Geld ein. Es gibt wenig Gewerbe, vielleicht ein paar Handwerksbetriebe, und Einkommensteuern mit einem hohen Rentenanteil, also insgesamt wenig Einnahmen. Kleine Gemeinden können Anforderungen wie die Kinderbetreuung allein gar nicht stemmen – sie brauchen Unterstützung vom Land.

„Mittelstädte sind die Anker für die Gesundheitsversorgung auf dem Land.“

 

Da ist also der Gesetzgeber gefordert. Wo muss die Politik außerdem ansetzen?

Winkel: Zum Beispiel an der medizinischen Versorgung. Hier sollte der Gesetzgeber mehr Ausnahmen und Gestaltungsfreiheit zulassen. Zudem kann die Politik ländliche Regionen mit einer besseren Steuerquote fördern. Wenn jemand im peripheren Raum lebt, sollte er weniger Einkommenssteuer zahlen müssen. Dann wird es auch für Unternehmer interessant, und der ländliche Raum gewinnt Führungskräfte.

Wie wichtig sind Mittelstädte für den ländlichen Raum? Welche Förderung brauchen sie?

Winkel: Sie sind die Anker für die Gesundheitsversorgung auf dem Land mit Apotheke, Fach- und Allgemeinmedizinern, sowie für Bildungseinrichtungen. Um Mittelstädte zu fördern, habe ich vor Jahren einmal angeregt, ihnen Risikokapital für Innovationszentren zu überlassen. Aus Deutschland kommen EU-weit die meisten Patente, aber nicht einmal zehn Prozent davon werden hierzulande gewerblich genutzt. Hier sehe ich eine Chance, Städte in peripheren Gebieten zu stärken: Für einen begrenzten Zeitraum stellen sie jungen, innovativen Unternehmen Gebäude zur Verfügung, bei gleichzeitiger Bereitstellung von Risikokapital durch Bund und Land.

Und was schlagen Sie für die medizinische Versorgung auf dem Land vor?

Winkel: Dafür eignen sich gut erprobte Versorgungsmodelle, wie beispielsweise der Einsatz von besonders ausgebildeten nichtärztlichen Praxishilfen, kurz NäPa. Das läuft in mehreren Bundesländern unter verschiedenen Namen. Wir haben beispielsweise im rheinland-pfälzischen Landkreis Daun und im hessischen Landkreis Hersfeld-Rotenburg Praxen dafür gewonnen. Damit das gelingt, muss man den Ärzten anhand belegbarer Daten deutlich machen, dass sich das rechnet und sich gleichzeitig die Versorgung verbessert. Thüringen geht einen interessanten Weg: In einem unterversorgten Gebiet richtet die Kassenärztliche Vereinigung eine Praxis ein und besetzt sie zunächst mit angestellten Ärztinnen und Ärzten. Wenn sie dort drei, vier Jahre gearbeitet haben, wissen sie, was die Praxis einbringt. Dann bietet die Kassenärztliche Vereinigung den Medizinern an, die Praxis zu übernehmen und über einen bestimmten Zeitraum abzuzahlen. Auch in der Schulversorgung gehen manche Bundesländer neue Wege. Brandenburg beispielsweise lässt im ländlichen Raum Schulen zu, die gegebenenfalls Klassen mit nur zehn Kindern haben. Das finanziert das Land dadurch, dass die sehr nachgefragten Schulen in Verdichtungsräumen größere Klassen bilden. Und Thüringen lässt zu, dass Grundschulen unter Umständen auch erhalten bleiben, wenn sie eine Klassenstufe gar nicht abdecken können.

Das erfordert viel Flexibilität.

Winkel: Ja, mit starren Richtwerten für die Daseinsvorsorge kommt man nicht weiter. Sinnvoller wären bestimmte Ziele, beispielsweise für die Schulabschlüsse, die Krankheitsbewältigung oder die Lebenserwartung. Bei der Umsetzung brauchen Gemeinden große Gestaltungsfreiheit. Dann ließe sich mehr erreichen. Und die Politiker kommen unter Druck, wenn sie merken, dass sie Ziele verfehlen.

Ein Blick auf Deutschland im Jahr 2050: Wo geht der Strukturwandel hierzulande hin?

Winkel: Die Speckgürtel der Verdichtungsräume werden sich weiter ausdehnen. Im ländlichen Raum wird die Bevölkerung schrumpfen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sich ganze Landstriche entvölkern. Wenn sich die Mittelstädte auf dem Land stabilisieren und diese gut erreichbar sind, bleibt ein Teil der Bevölkerung im ländlichen Raum erhalten. Wenn dann Ideen greifen, wie die eben erwähnten Innovationszentren, unterscheiden sich die Lebensverhältnisse auf dem Land nicht zu stark von denen in den Verdichtungsräumen.

Änne Töpfer führte das Interview. Sie ist verantwortliche Redakteurin der G+G.
Bildnachweis: Olaf Hermann