Thema des Monats

Konzepte für die Provinz

Laden weg, Bäcker weg, Hausarzt weg: Die Menschen auf dem Land machen sich Sorgen – auch um ihre Gesundheitsversorgung. Mit der Initiative „Stadt. Land. Gesund.“ fördert die AOK regionale Projekte, die bestehende und künftige Versorgungslücken füllen. Thomas Rottschäfer umreißt die Ansätze.

Der lockere Spruch, dass man das 5G-Internet schließlich nicht an jeder Milchkanne anbieten könne, wird Bundesforschungsministerin Anja Karliczek wohl noch lange verfolgen. Denn eine gute Internetversorgung ist gerade den Bewohnern ländlicher Regionen wichtig. Doch am wichtigsten ist den Menschen auf dem Land eine dauerhaft gute medizinische Versorgung. Das geht aus einer aktuellen forsa-Umfrage im Auftrag der AOK zum Stellenwert der Gesundheitsversorgung in Deutschland hervor. Danach ist 95 Prozent der Befragten die Erreichbarkeit eines Hausarztes am wichtigsten – noch vor Einkaufsmöglichkeiten (93 Prozent) und Internet (90 Prozent). Es folgen Krankenhausversorgung (87 Prozent) und öffentlicher Nahverkehr (83 Prozent). Nach der forsa-Erhebung nehmen vor allem Menschen in kleineren und mittleren Städten eine Verschlechterung der Versorgung mit Hausärzten, Fachärzten und Krankenhäusern wahr.

Mit den demoskopischen Daten untermauern die elf AOKs und der AOK-Bundesverband ihre neue gemeinsame Initiative „Stadt. Land. Gesund.“. „Die zunehmende Schieflage zwischen Stadt und Land macht den Menschen Sorge“, sagt der Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, Martin Litsch. Gemeinsam mit der Vorstandschefin der AOK Bayern, Dr. Irmgard Stippler, kündigte er im Februar die Kampagne der AOK-Gemeinschaft an. „Viele unserer Versicherten leben in ländlichen Regionen. Wir wollen, dass auch künftig auf dem Land eine qualitativ hochwertige Versorgung gut erreichbar bleibt“, betont Stippler bei der Pressekonferenz in Berlin.

Projekte für eine bessere Gesundheitsversorgung.

Zwischen Flensburg und Garmisch-Partenkirchen gibt es inzwischen rund 100 Initiativen und Projekte, bei denen es darum geht, die entstehenden Lücken in der ländlichen Gesundheitsversorgung zu schließen. Exemplarisch stellte der AOK-Bundesverband für die Initiative „Stadt. Land. Gesund.“ 30 Leuchtturmprojekte zusammen, an denen die AOK federführend beteiligt ist. „Viele dieser alternativen Versorgungsprojekte tragen wesentlich dazu bei, dass notwendige Angebote der Gesundheitsversorgung vor Ort erhalten bleiben, obwohl es starke Abwanderungstendenzen gibt, obwohl teilweise Ärztemangel besteht oder zu erwarten ist und obwohl sich der Versorgungsbedarf alterungs- und morbiditätsbedingt wandelt“, erläutert Stippler.

Offen für innovative Ansätze.

Alle Projekte verfolgen mindestens einen der vier Lösungsansätze, die nach Darstellung der AOK-Chefin dazu beitragen können, bestehende oder entstehende Versorgungslücken zu schließen: Sektorenübergreifende Versorgung, Versorgungsassistenz, Digitalisierung und Arztnetze. Konkret: Es geht speziell um bessere Zusammenarbeit zwischen Haus- und Fachärzten, damit die von vielen Patienten beklagten Abstimmungsprobleme im Behandlungsverlauf vermieden werden. Es geht generell um mehr Kooperation zwischen Ärzten, Krankenhäusern, Therapeuten und Pflege. Es geht darum, dass Ärzte zu ihrer eigenen Entlastung mehr Aufgaben an dafür spezialisierte Praxismitarbeiterinnen und -mitarbeiter delegieren. Und es geht darum, die vielen Möglichkeiten der Digitalisierung und Telemedizin zu nutzen, um Distanzen zu überbrücken, wenn nicht länger überall alle Leistungen angeboten werden können.

Doch kann eine Videosprechstunde das wachsende Unbehagen der Menschen lindern? Die forsa-Umfrage belegt, dass die Menschen durchaus offen sind gegenüber innovativen Versorgungsformen. Stippler: „Die Videosprechstunde kann sich bereits jeder Zweite vorstellen – nicht unbedingt beim Erstkontakt oder im Notfall, aber auf jeden Fall zur Befundbesprechung oder bei Folgeterminen.“ Für mit Ärzten abgestimmte Betreuung durch speziell qualifizierte medizinische Fachkräfte und für das Angebot mobiler Arztpraxen ermittelten die forsa-Demoskopen Zustimmungswerte von über 90 beziehungsweise mehr als 80 Prozent. Ein besseres Krankenhaus-Entlassmanagement wünschen sich sogar 97 Prozent. „Die Menschen akzeptieren solche Angebote nicht nur, sie erwarten auch, dass ihre Krankenkasse sich dafür engagiert“, sagt Litsch.

AOK überall vor Ort im Einsatz.

Rund 100 Millionen Euro wollen die elf AOKs 2019 und 2020 in Projekte investieren, die das Potenzial bieten, eine qualitativ hochwertige, erreichbare Gesundheitsversorgung auf dem Land zu gewährleisten. „100 Millionen zusätzlich zur bereits laufenden Finanzierung, denn wir fangen ja nicht bei null an“, so Martin Litsch. Und Stippler ergänzt: „Die AOK ist mit 1.300 Standorten bundesweit als einzige Krankenkasse noch überall in den Städten und auf dem Land vertreten, bereits in vielen Projekten vor Ort engagiert und für Kreise, Städte und Gemeinden in der Regel erster Ansprechpartner, wenn es um Kooperationen geht.“

Das volle Versorgungsprogramm über die Landschaft verteilen, könne man realistischerweise nicht, unterstreicht der Chef des AOK-Bundesverbandes. Das sei den Menschen aber durchaus klar: „Die Befragten sagten mehrheitlich, dass ihnen bei der Arztwahl gute Behandlungsqualität und die Spezialisierung wichtiger ist als schnelle Erreichbarkeit.“ Wo es keinen Arzt mehr in der Nachbarschaft gebe, müsse man deshalb kluge Ideen entwickeln, um Distanzen zu überwinden und Erreichbarkeit herzustellen, zum Beispiel durch Fahr- und Bringdienste oder eben auch mobile Arztpraxen.

Kreative Lösungen brauchen Freiheit.

Von der Bundespolitik erwarten weder der Chef des Bundesverbandes noch die Vorsitzende der AOK Bayern diese klugen Ideen. „Berlin beißt sich schon seit längerem die Zähne daran aus, den Landarztberuf wieder attraktiver zu machen“, konstatiert Litsch. „Trotz der zentralistischen Vorgaben und der Anreize mit der Gießkanne ist der durchschlagende Erfolg bei der Arztniederlassung bisher ausgeblieben. Die Gesetzgebung war wenig nachhaltig.“ So sei zum Beispiel der Strukturfonds zur Förderung von ärztlichen Neuniederlassungen in unterversorgten Gebieten kaum in Anspruch genommen worden.

Auch das Terminservice- und Versorgungsgesetz werde keinen Run der Ärzte auf die Dörfer auslösen, prophezeit der AOK-Vorstand. Es sei eher zu befürchten, dass der Wegfall von Zulassungssperren in ländlichen oder strukturschwachen Gebieten oder weitere finanzielle Zuschläge die Fehlverteilung zwischen Stadt und Land noch verschärfen: „So gerechtfertigt einige dieser Maßnahmen im Einzelnen sind, sie werden keine schnellen Lösungen bringen.“

Positiv wertet Litsch, dass die Bedarfsmessung und Ansiedlung von Fachärzten auch seitens der Ärzteschaft immer mehr als sektorenübergreifendes Thema wahrgenommen werde, dass nur im Zusammenspiel mit den Kliniken gelöst werden könne: „Langsam setzt sich die Erkenntnis durch, dass wir Lösungsansätze brauchen, die über die ärztliche Freiberuflichkeit und arztzentrierte Versorgung hinausgehen.“ Der Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die bis 2020 Vorschläge für eine bessere sektorenübergreifende Versorgung vorlegen soll, legt Litsch ans Herz, „Kassen und Leistungserbringern vor Ort Beinfreiheit für agile, kreative Lösungen zu lassen“. Auch Bayerns AOK-Chefin appelliert in Berlin an die Bundespolitik, mehr Spielraum für passgenaue regionale Versorgungslösungen zuzulassen. „Es gibt keine bundesweiten Blaupausen. Die Situation in der Eifel ist eine andere als in Niederbayern oder in der Lausitz (siehe Statement Dr. Irmgard Stippler).

Finanzierung langfristig sichern.

Zwar sind die 100 Millionen Euro extra von der AOK-Gemeinschaft mehr als ein symbolischer Wert. Doch Litsch und Stippler machen in Berlin deutlich, dass die Finanzierbarkeit einer flächendeckenden Gesundheitsversorgung in erster Linie von einem funktionierenden Risikostrukturausgleich in der GKV abhänge. Die AOK befürchtet, dass durch die im Raum stehende Einführung einer sogenannten Regionalkomponente im morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich rund eine Milliarde Euro aus eher unterversorgten ländlichen Regionen in tendenziell eher überversorgte Ballungsgebiete umgeleitet werden könnten (siehe Statement Martin Litsch).

 

Thomas Rottschäfer ist freier Journalist mit dem Schwerpunkt Gesundheitspolitik.
Bildnachweis: iStock/Misha Kaminsky, AOK-Mediendienst, AOK Bayern; Titelfoto Startseite: iStock/romrodinka