G+G-Studienreise

Ein kleines Land schreibt E-Health groß

Wenn es um die Digitalisierung des Gesundheitswesens geht, hat Estland die Nase vorn: Patientenakten, Verordnungen, Datenaustausch zwischen Arztpraxen und Hospitälern – all das läuft in der baltischen Republik schon lange elektronisch. Warum das meistens gut funktioniert und wo es noch hakt, haben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zweier G+G-Studienreisen aus erster Hand erfahren. Von Karin Dobberschütz

Als Tobias Koch am 23. Mai 2018 in der estnischen Hauptstadt Tallinn unterwegs zu einem Facharzt ist, fällt dem jungen Mann plötzlich ein, dass er keine Überweisung von seinem Hausarzt dabei hat. Das kann teuer werden. Also ruft der 30-Jährige um 10.56 Uhr in der Allgemeinarztpraxis an, in der er als Patient eingeschrieben ist, und bittet die Sprechstundenhilfe, noch rasch eine elektronische Überweisung an den Facharzt zu schicken. Kein Problem: Um 11.19 Uhr sitzt Tobias Koch beim Spezialisten, der nicht nur die Überweisung vorliegen hat, sondern sich mithilfe der elektronischen Patientenakte auch einen Überblick über die bisher erfolgten medizinischen Interventionen verschaffen kann – von den verordneten Arzneimitteln über die jüngsten Arztbesuche bis hin zu möglichen Krankenhausaufenthalten.

Die Reisegruppe aus Deutschland hört Tobias Koch im „e-Estonia Showroom“ in Tallinn gebannt zu. Koch gehört zu den Präsentatoren, die Reisegruppen aus der ganzen Welt im Showroom den „Digital Way of Life“ in Estland näherbringen – allein im vergangenen Jahr waren mehr als 800 Reisegruppen aus 94 Staaten in dem kleinen baltischen Land zu Gast. Dass Estland E-Government und E-Health groß schreibt, hat sich mittlerweile international herumgesprochen. Kein Wunder also, dass die beiden G+G-Studienreisen in Kooperation mit dem estnischen IT-Unternehmen Nortal und der gevko GmbH schnell ausgebucht waren. Denn nicht nur hierzulande fragen sich viele Verwaltungs- und Gesundheitsprofis: Wie haben die gut 1,3 Millionen Esten das bloß geschafft?

E-Akte enthält alle medizinischen Daten.

Es gibt viele Antworten auf diese Frage. An dieser Stelle nur so viel: Die junge baltische Republik hat „e-Estonia“ nicht über Nacht hinbekommen, wie Taavi Einaste von Nortal betont (siehe Interview). Vielmehr seien in den vergangenen gut 25 Jahren viele größere und kleinere Schritte nötig gewesen, um die öffentliche Verwaltung und das Gesundheitssystem zu digitalisieren, sagt der 38-Jährige, der bei Nortal das Deutschland-Geschäft verantwortet und sich seit Langem mit dem Thema E-Health beschäftigt. „Und bis heute gibt es bei allen Erfolgen nach wie vor viel zu tun. Das E-Health-System in Estland ist keineswegs perfekt.“

Die insgesamt über 50 Teilnehmerinnen und Teilnehmer der beiden G+G-Studienreisen sind von dem, was sie in dem in weiten Teilen nur dünn besiedelten Land von der Größe Dänemarks an E-Health-Anwendungen zu sehen bekommen, dennoch beeindruckt. Im Mittelpunkt des digitalisierten Gesundheitswesens steht dabei die 2008 eingeführte elektronische Patientenakte. Dieser zentrale E-Health-Baustein beinhaltet grundsätzlich sämtliche medizinischen Daten, die ein Einwohner Estlands im Laufe seiner Karriere als Versicherter der staatlichen Einheitskrankenversicherung und als Patient ansammelt.

In der Akte sind die Besuche bei einem der 800 Hausärzte Estlands samt der Diagnosen und Befunde ebenso hinterlegt wie die Art und Zahl der verordneten Medikamente sowie etwaige Einweisungs- und Entlassbriefe für die stationäre Versorgung in einem der rund 50 Krankenhäuser. Dokumentiert ist sogar, ob jemand Organe spenden will oder nicht – inklusive der Möglichkeit, dies jederzeit rechtssicher ändern zu können. Mit der E-Akte, so macht Tobias Koch vom „e-Estonia Showroom“ deutlich, könnten sich die behandelnden Ärzte mit wenigen Klicks einen Überblick über den dokumentierten Gesundheitszustand eines Patienten verschaffen.

Schutz vor unberechtigten Zugriffen.

Zugriff auf die elektronische Patientenakte (ePA) haben die Patienten selbst sowie alle Ärzte, Krankenschwestern und weitere Gesundheitsprofis, die an der Behandlung beteiligt sind. Patienten können einzelne Abschnitte der Akte sperren lassen, was bei psychischen Erkrankungen durchaus vorkommt, und sie können sich dem ePA-System auch vollständig entziehen. Davon haben jedoch nur wenige hundert Versicherte Gebrauch gemacht. Für die Leistungserbringer hingegen ist das Nutzen der E-Akte ebenso verpflichtend wie die elektronische Abrechnung.

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der zweiten G+G Studienreise nach Estland im März 2019 vor dem „e-Estonia Showroom“ in Tallinn.

Wer auf die ePA zugreift, wird lückenlos erfasst – ebenso wie bei der digitalen öffentlichen Verwaltung kommt auch im Gesundheitswesen die Blockchain-Technologie zum Einsatz, die eine Manipulation der Daten in der ePA technisch ausschließen soll. Nicht zuletzt macht es die lückenlose Dokumentation aller Zugriffe Tobias Koch möglich, genau zu wissen, wann er welche Arztpraxis besucht oder angerufen hat. Das exakte Erfassen aller Einsichtnahmen in die ePA schützt zudem vor unberechtigten Zugriffen: Einem Arzt, der nicht an der Behandlung eines ehemaligen estnischen Ministerpräsidenten beteiligt war und sich dennoch Zugriff auf dessen ePA verschafft und Informationen daraus an die Presse weitergegeben hatte, ist von den Behörden die Approbation entzogen worden.

E-Rezept warnt vor Wechselwirkungen.

Zu den absoluten Erfolgsmodellen von E-Health in Estland gehört neben der ePA seit 2010 das E-Rezept, das nicht nur (Wiederholungs-)Verordnungen mit wenigen Klicks ermöglicht und Ärzten die jeweils preisgünstigste Verordnungsalternative aufzeigt. Seit dem Jahr 2016 weist das System Ärzte und Apotheker außerdem auf mögliche Wechselwirkungen hin. Pro Monat gibt es seitdem im Schnitt 2.200 Warnhinweise, wie Priit Tohver vom estnischen Sozialministerium weiß.

Elektronisch vernetzt unterwegs sind seit 2015 auch die mehr als 100 Rettungswagen, die landesweit im Einsatz sind. An Bord jedes Rettungsfahrzeugs befindet sich ein Tablet-Computer, mit dessen Hilfe Notärzte und Sanitäter auf die ePA des Patienten zugreifen und das aufnehmende Krankenhaus vorab auf Komplikationen – etwa eine Bluter-Erkrankung – hinweisen können. Möglich sind in „e-Health Estonia“ zudem seit mehreren Jahren elektronische Konsultationen zwischen Haus- und Fachärzten, wobei die ausschließlich an Krankenhäusern tätigen Fachärzte innerhalb von wenigen Tagen die Anfrage eines niedergelassenen Allgemeinarztes beantworten sollen. Das gelingt offenbar manchmal besser und manchmal weniger gut, was nicht zuletzt am latenten (Fach-)Arztmangel liegt. Bemerkenswert gut funktioniert demgegenüber bereits seit 2005 der Austausch und Zugriff von Kliniken und Ärzten auf ein elektronisches Archiv, in dem Ergebnisse und Images von bildgebenden Verfahren (zum Beispiel Röntgen, MRT, CT) hinterlegt sind – das spart Zeit und Geld für unnötige Doppeluntersuchungen.

Die Verwaltung war Vorreiter.

Dass die Esten innerhalb von nur gut zehn Jahren die Digitalisierung des Gesundheitswesens so weit vorantreiben konnten, ist indes nur auf der Basis einer bereits vorhandenen digitalen Infrastruktur in der öffentlichen Verwaltung möglich gewesen, wie estnische Experten immer wieder betonen. „Erst E-Government, dann E-Health“, bringt es einer der Teilnehmer der G+G-Studienreise auf den Punkt.

  • Estland hat rund 1,3 Millionen Einwohner. In der Hauptstadt Tallinn leben rund 430.000 Menschen.
  • Das Land ist mit 30 Einwohnern pro Quadratkilometer vergleichsweise dünn besiedelt.
  • Bruttoinlandsprodukt pro Kopf: 15.100 Euro/2018 (EU-Durchschnitt: 28.200 Euro/2018)
  • Die Zahl der Krankenhausbetten liegt bei 476 pro 100.000 Einwohner.
  • Seit 2004 ist Estland Mitglied der Europäischen Union.
  • 89 Prozent aller Haushalte haben einen Breitband-Internetzugang.
  • 80 Prozent der Esten nutzen das Internet für Bankgeschäfte.
  • 62 Prozent aller Einwohner nutzen das Internet, um an sozialen Netzwerken teilzunehmen.

Quelle: Eurostat 2018

„Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Unabhängigkeit Estlands ab 1991 lag die öffentliche Infrastruktur am Boden“, erzählt Tobias Koch. Der erste estnische Staatshaushalt hatte ein Volumen von umgerechnet gerade einmal 130 Millionen Euro. Um die Effektivität und die Effizienz der öffentlichen Verwaltung zu steigern, setzten die Esten auf eine konsequente Digitalisierung der Behörden – angetrieben von einem charismatischen ersten Ministerpräsidenten, beschloss das Parlament 1998 nach längerer Debatte Grundprinzipien der estnischen Informationsgesellschaft. Dazu gehört zum Beispiel das Grundrecht auf Internet und das Recht, Dienstleistungen nach wie vor auch analog zu erhalten.

Angesichts des schmalen Haushalts blieb der Regierung in Tallinn bei der Digitalisierung der Verwaltung gar nichts anderes übrig, als auf das Know-how einheimischer IT-Firmen zu setzen – Softwarelösungen von internationalen Großkonzernen wären schlicht zu teuer gewesen. Und so hat sich in Estland in den vergangenen 25 Jahren eine lebendige IT- und Startup-Szene entwickelt, zu der neben Nortal und vielen weiteren Unternehmen zum Beispiel auch die Erfinder von Skype gehören.

Das Rückgrat des E-Government ist die „X-Road“, eine technische Plattform für den Datenaustausch, die mittlerweile von mehr als 650 öffentlichen Institutionen und privaten Unternehmen sowie dem gesamten Gesundheitswesen genutzt wird. Während die Daten dezentral auf den Servern der jeweiligen Behörden und Firmen verbleiben, ermöglicht die X-Road – wiederum auf der Basis der Blockchain-Technology – einen raschen und sicheren Datenaustausch zwischen allen Beteiligten: Über 900 Millionen digitale Transaktionen im Jahr wickelt das Land mit 1,3 Millionen Einwohnern über die X-Road ab, ein erheblicher Teil davon stammt aus dem Gesundheitswesen.

Esten managen ihren Alltag digital.

Der Zugangsschlüssel für die Bürgerinnen und Bürger des Landes zur digitalen Infrastruktur wiederum ist der elektronische Personalausweis mit einer integrierten ID-Card, der 2002 eingeführt wurde. Mit seiner Hilfe können Esten praktisch ihr gesamtes Alltags- und Berufsleben digital managen: Miet- und Arbeitsverträge, die Eröffnung eines Bankkontos, das Beantragen eines Führerscheins, Kindergeldzahlungen, das Ummelden nach einem Wohnungswechsel, die Steuererklärung – etwa 50 Millionen digitale Unterschriften kommen so per anno zusammen. Nur bei Heiraten, Scheidungen und Immobiliengeschäften sind noch analoge Unterschriften nötig. Der ökonomische Effekt ist enorm: Schätzungsweise zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes spart der estnische Staat nach offiziellen Angaben jedes Jahr durch das E-Government im Vergleich zu einer herkömmlichen Verwaltung ein.

Der elektronische Personalausweis – seit 2007 ist zusätzlich eine Authentifizierung über das Mobiltelefon und seit 2016 über eine sogenannte Smart-ID möglich – ist nicht nur der Schlüssel zu einer zentralen Online-Plattform für alle öffentlichen Dienstleistungen. Es ist auch ein Sesam-öffne-Dich zur persönlichen elektronischen Patientenakte und zum digitalen Gesundheitswesen. Erst E-Government, dann E-Health ist ohne Zweifel eines der Erfolgsprinzipien für die zügige Digitalisierung des Gesundheitswesens in Estland.

Wartelisten offenbaren Mangel.

Alles bestens also zwischen Tallinn und Tartu, der Universitätsstadt im Süden des Landes? Nein, natürlich nicht, wie Rain Laane, Chef der staatlichen estnischen Krankenversicherung unumwunden einräumt. Da sind zum einen die teilweise monatelangen Wartelisten für planbare Krankenhausoperationen.

Esten haben ein Grundrecht auf Internet – und das Recht, Dienstleistungen nach wie vor auch analog zu erhalten.

Hier dokumentiert sich – ebenso wie bei den vergleichsweise hohen Zuzahlungen für Arzneimittel und andere medizinische Produkte und Leistungen – der teilweise erhebliche Mangel an finanziellen und personellen Ressourcen im estnischen Gesundheitswesen. Während Estland nur etwa 6,5 Prozent seines Bruttoinlandsproduktes für das Gesundheitswesen aufwendet, sind es im EU-Durchschnitt etwa zehn Prozent und in Deutschland mehr als elf Prozent. Rain Laane will dem Problem der Wartelisten künftig mit einer zentralen elektronischen Registrierungsstelle für Facharzttermine begegnen, um freie Kapazitäten bei Spezialisten für Patienten transparent zu machen. „Vielleicht ist dann bei dem von Patienten bevorzugten Spezialisten nicht gleich ein Termin frei, aber er kann sich zumindest nach Alternativen umsehen“, zeigt sich Laane überzeugt, der im Übrigen dem estnischen Frühstücks-TV Rede und Antwort stehen muss, wenn etwa das elektronische Rezept länger als ein paar Minuten technische Probleme hat.

Veraltete Software erschwert Dokumentation.

Zum anderen funktionieren in der Tat nicht alle digitalen Anwendungen reibungslos. Das liegt aus Sicht von Rain Laane unter anderem an den 800 Hausärztinnen und Hausärzten im Lande, die im Schnitt Mitte 50 sind und sich zum Teil sehr schwer damit tun, die elektronische Patientenakte richtig zu nutzen. Zwar müsste grundsätzlich jeder Besuch, jede Diagnose und jede Therapie in der Akte dokumentiert werden, aber auch eine elektronische Akte ist eben geduldig. Experten wie Dr. Kalle Killar vom Sozialministerium machen für die Dokumentationsdefizite im hausärztlichen Bereich unter anderem veraltete Softwaresysteme in den Hausarztpraxen verantwortlich, die das Befüllen der elektronischen Patientenakte offenbar nicht gerade erleichtern.

Von unvollständigen Akten wissen auch die Allgemeinärzte Dr. Reet Laidoja und Andres Lasn zu berichten. Beide engagieren sich in ärztlichen Berufsverbänden und möchten die Vorteile der Digitalisierung bei ihrer täglichen Arbeit nicht missen. Aber der Umgang mit der E-Akte leidet – wie auch in der analogen Welt – unter fehlenden, unverständlichen, zu kurzen oder zu langen Einträgen anderer ärztlicher Kolleginnen und Kollegen. „Es gibt keinen durchgängigen Standard, wie Informationen in die Akte einfließen sollen“, moniert Andres Lasn. Und die von der Krankenversicherung geplante zentrale Registrierungsstelle für Facharzttermine findet der junge Hausarzt zwar prinzipiell gut. Er befürchtet aber zugleich, dass es dann für ihn noch schwieriger wird, für Patienten mit dringendem fachärztlichen Behandlungsbedarf freie Kapazitäten in einer Klinik oder einem Ambulatorium zu finden.

Gesundheitsstatistik hat Lücken.

Überraschend groß sind auch die Probleme, die Natalja Eigo vom nationalen Zentrum für Gesundheitsstatistik hat. Trotz des hohen Digitalisierungsgrades genügt keineswegs nur ein Knopfdruck, um Daten über die Krankheitsentwicklung in Estland zusammenzubekommen. Im Gegenteil: Aus Datenschutzgründen kommt die Expertin in der Regel nicht an die Informationen aus dem E-Health-System heran, sondern verschickt stattdessen regelmäßig Fragebögen an Ärzte und Kliniken. Da kann es nicht erstaunen, dass die Versorgungsforschung in Estland vielfach noch in den Kinderschuhen steckt, auch wenn bereits verschiedene medizinische Register – zum Beispiel über die Häufigkeit bestimmter Krebserkrankungen – existieren. Bemerkenswert: Im Laufe der nächsten Jahre will die Regierung in Tallinn eine Bio-Datenbank mit den Genomsätzen aller Esten aufbauen, um die Möglichkeiten der personalisierten Medizin – etwa im Bereich der Onkologie – so gezielt wie möglich zu nutzen. So bleibt auch angesichts mancher Schwächen als Erkenntnis der Reise: Bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens ist Estland Deutschland um Jahre voraus.

Interview
„Der Datenschutz und die Privatsphäre haben Priorität“

Bereits zur Jahrtausendwende hatte Estland viele Verwaltungsvorgänge digitalisiert und konnte darauf im Gesundheitswesen aufbauen, berichtet Taavi Einaste. Der Software-Spezialist betont, dass dabei die Datensicherheit große Bedeutung hat. Das Interview führte Karin Dobberschütz.

Was war der Ausgangspunkt für die Digitalisierung in Estland?

Taavi Einaste: Unsere Regierungen in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren hatten erkannt, dass wir extrem effizient sein müssen, wenn wir ein Land mit nur 1,3 Millionen Menschen führen und organisieren wollen. Danach gab es eine Phase der Grundsteinlegung: digitaler Personalausweis, elektronisches Bevölkerungsregister und so weiter. Darauf bauen viele weitere digitale Entwicklungen – auch im Gesundheitswesen – bis heute auf.

Taavi Einaste verantwortet beim Strategieberatungs- und Technologieunternehmen Nortal in Estland den Bereich Digital Healthcare sowie das Deutschlandgeschäft.

Haben kulturelle Aspekte die digitale Revolution in Estland vereinfacht?

Einaste: Eine der Theorien dazu ist, dass wir aufgrund unserer nordischen Wesensart nicht so gerne mit Menschen reden und wir deshalb eine digitale Arbeitsweise bevorzugen. Aber Spaß beiseite: Esten sind Pragmatiker und haben eine hohe Arbeitsethik – die Kombination aus beidem hat es meiner Meinung nach einfacher gemacht, die Digitalisierung erfolgreich umzusetzen. Abgesehen davon waren wir nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion gezwungen, ganz neue Wege zu gehen. 

Welche Herausforderungen gab es?

Einaste: Die Finanzierung war und ist ein Thema. Die Projekte werden mit deutlich geringeren Budgets als in anderen Ländern vorangetrieben. Dies führte dazu, dass die estnische Regierung selten E-Government-Produkte oder -Plattformen von etablierten Anbietern kaufte, sondern den lokalen Privatsektor aufforderte, innovative und kosteneffiziente Lösungen zu entwickeln.

Taavi Einaste im Interview:

Und das hat funktioniert?

Einaste: Ja, sehr gut sogar. Estland verfügt heute über eine eigene, erfolgreiche Software-Industrie und viele kluge IT-Köpfe. Skype zum Beispiel ist von drei Esten entwickelt worden. Neben Nortal gibt es etwa zehn bis 15 weitere estnische Unternehmen, die bei der Entwicklung von Software für den öffentlichen Sektor in den vergangenen 20 Jahren am Ball geblieben sind. Darüber hinaus haben drei bis vier Innovations- und Regulierungszentren auf der öffentlichen Seite eine wichtige Rolle gespielt – ohne einen klaren und verlässlichen rechtlichen Rahmen lässt sich E-Government nicht realisieren.

Spielt in der estnischen Gesetzgebung der Datenschutz eine Rolle?

Einaste: Der Datenschutz und die Privatsphäre haben Priorität für unsere Regierung und die Software-Unternehmen. Vielleicht liegt der Schwerpunkt unserer Datenschutzpolitik mittlerweile eher auf dem Aspekt der Datensicherheit. Die ganze Welt hat in den letzten zwei, drei Jahren gelernt, was die Esten schon immer gewusst haben: Es gibt motivierte und interessierte Kreise, die Daten bekommen und vielleicht manipulieren wollen.

Welche neuen Projekte packen Regierung und Unternehmen in Estland in den nächsten Jahren an?

Einaste: Es gibt eine Welle des Reengineering oder sogar der Ablösung der bestehenden digitalen Systeme. Dies wird sowohl die Regierung als auch die Unternehmen für die nächsten vier bis sieben Jahre beschäftigen. Bei einigen dieser Projekte geht es nicht nur darum, alte Software zu ersetzen. So soll zum Beispiel unser öffentliches Sozialleistungssystem neu gestaltet werden.
 

Eine weitere G+G-Studienreise führte Anfang Juni nach Großbritannien. Im Herbst geht es in die USA.

Karin Dobberschütz leitet das Ressort Internationales beim KomPart-Verlag.
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