Ländliche Versorgung

Gemeinde-Hopping mit dem Arzt-Bus

Um die Lücke an Ärzten auf dem Land zu füllen, rollt in Nordhessen ein modern ausgestatteter Medibus durch fünf Gemeinden. Für viele Menschen der Region stellt die Praxis auf Rädern den einzigen Zugang zu medizinischer Versorgung dar. Von Thorsten Severin (Text) und Werner Krüper (Fotos)

Ach ja, der alte Arzt, den es in Cornberg einmal gab. Vor etwa zwei Jahren hat er seine Praxis in dem 1.400-Seelen-Ort in Nordhessen dicht gemacht. Schon über 70 Jahre sei er gewesen und habe keinen Nachfolger gefunden, berichtet Wolfgang Gajenski. So habe er weitergemacht, „bis es irgendwann nicht mehr ging“. Schwer krank sei der Doktor schließlich gewesen, nun befinde er sich in einem Pflegeheim, erzählt der 79-Jährige, der wie alle Cornberger jetzt keinen Arzt im Ort mehr hat. Für die Bewohner eine schwierige Situation, denn viele von ihnen sind alt und können keine weiten Wege mehr zurücklegen.

Abhilfe soll der Medibus schaffen, der seit Juni vergangenen Jahres im Auftrag der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Hessen durch insgesamt fünf kleine Gemeinden im Landkreis Hersfeld-Rotenburg und im Werra-Meißner-Kreis tingelt. Nach einem festen Fahrplan macht er von Montag bis Donnerstag in der Zeit von 8.30 Uhr bis 12.00 Uhr und von 13.30 Uhr bis 17.00 Uhr abwechselnd in Cornberg, Nentershausen, Sontra, Weißenborn und Herleshausen Station. Am Montagnachmittag steht das rot-weiß-orangene Fahrzeug, das von außen wie ein Linienbus aussieht, am alten Marktplatz in Cornberg direkt vor dem Rathaus. Dieses dient zugleich als Gemeindeverwaltung und Standesamt – und zwei Mal in der Woche nun auch als Wartezimmer für Patienten. Noch bevor der Bus seine Türen öffnet, haben sich bereits drei Patienten auf der Treppe des Rathauses eingefunden.

Ausstattung geht über Basisversorgung hinaus.

Im hinteren Teil des Busses sitzt Dr. Rainer Gareis in seinem Sprechzimmer und wartet auf den ersten Patienten an diesem Nachmittag. Am Morgen hat er in Sontra schon 15 Bürger behandelt, danach ging es weiter über Landstraßen durch die Mittelgebirgslandschaft in das gut sieben Kilometer entfernte Cornberg. Der von der DB Regio AG vermietete Bus bietet alles, was es in einer modernen Arztpraxis gibt. Die Ausstattung gehe sogar über eine durchschnittliche Basisversorgung hinaus, sagt Gareis, der selbst 33 Jahre lang eine Hausarztpraxis in Offenbach unterhielt. Blutuntersuchung, EKG, Lungenfunktionstest und Ultraschall sind ebenso möglich wie der Einsatz von Telemedizin, um einen Fachkollegen per Videokonferenz zu Rate zu ziehen. Durch den eingebauten Dual-SIM-Router ist auch auf dem platten Land ein stabiler Internetzugang verfügbar. 16 Solarzellen auf dem Dach des Busses gewährleisten die Stromversorgung, die drei Hochleistungsakkus aufladen. Die Inneneinrichtung steht einer festen Praxis in nichts nach: ein kleiner Anmeldebereich, ein Behandlungsraum mit Liege, ein Labor, eine Toilette und im Heck das Sprechzimmer mit Computer und Schreibtisch.

„Der Medibus ist eine sinnvolle Ergänzung zur hausärztlichen Versorgung im ländlichen Raum.“

Die Medizinische Fachangestellte Simone Richter begrüßt vorne im Bus die Patienten und liest ihre Daten mit der Chipkarte in den Computer ein. Sie selbst kommt jeden Morgen aus Kassel nach Rotenburg an der Fulda, wo der Bus über Nacht steht und wo sich die Crew trifft. „Die Arbeit auf engem Raum im Medibus macht mir großen Spaß, sodass ich das Pendeln gerne in Kauf nehme“, sagt sie. Vor allem kann sie in der Pause auch mal schnell an die frische Luft. Außer ihr gibt es normalerweise eine zweite Praxishelferin sowie den Busfahrer, den die DB Regio stellt.

Nächster Hausarzt ist weit entfernt.

Viele Patienten, die sich beim Medibus melden, haben keinen Hausarzt mehr. Auch Brunhilde Kuder nicht. „Ich komme regelmäßig her, von Anfang an“, erzählt die 72-Jährige. Sie habe seit drei Jahren Probleme mit dem Magen, könne seitdem nicht mehr richtig essen. Hinzu komme ihre Osteoporose. Heute bekommt sie von Dr. Gareis ein Rezept ausgehändigt. Zwar gibt es keine Apotheke in Cornberg, doch will sie noch schnell bei einer Apotheke im 15 Fahrminuten entfernten Bebra anrufen. Die bringt ihr das Medikament dann am nächsten Tag nach Hause. Andere haben zwar noch einen Hausarzt, aber der hat seine Praxis oft viele Kilometer weit weg. Auch Wolfgang Gajenski wollte sich heute den weiten Weg zu seinem Arzt ins 18 Kilometer entfernte Ronshausen ersparen, obwohl er selbst noch Auto fährt. Er wollte checken lassen, ob sein Messgerät für den Gerinnungsfaktor im Blut richtig funktioniert. Seit der ersten neuen Herzklappe vor mehr als 30 Jahren nimmt er das Mittel Marcumar zur Blutverdünnung ein. Praxishelferin Simone Richter piekst ihm in die Fingerkuppe und drückt einen Tropfen Blut auf einen Teststreifen. Das Gerät zeigt an, dass das Blut von Gajenski heute zu dünn ist. „Mit Marcumar entgleist“, stellt Allgemeinmediziner Gareis fest. Gajenski muss gut aufpassen, dass er sich nicht verletzt, denn das kann ernste Folgen haben.

Landarzt auf Zeit.

Gareis ist selbst 69 Jahre alt. Drei Jahre hat er gesucht, bis er einen Nachfolger für seine Praxis in Offenbach fand, die er im April aufgab. Die Kassenärztliche Vereinigung Hessen konnte ihn dann als Landarzt auf Zeit gewinnen. Bei der KV ist er angestellt und erhält ein festes Gehalt. „Ich fühle mich zu fit dafür, nur zu Hause herumzusitzen“, sagt Gareis. Die Arbeit mache ihm noch Spaß. In seiner eigenen Praxis habe er in der Woche 60 bis 70 Stunden gearbeitet, von morgens sieben bis abends sieben. Am Mittwochabend kam dann noch die Leitung der Herzsportgruppe hinzu. Auch am Samstag habe er meist in seiner Praxis gesessen. Daher sei er ganz andere Patientenzahlen gewohnt als im Medibus. Sein Vorgänger in der rollenden Arztpraxis, der dort fast ein Jahr tätig war, hat vor wenigen Monaten gekündigt, weil er in Nürnberg eine Praxis übernehmen konnte. Für die Menschen in Cornberg und den anderen Gemeinden hält Gareis den Bus für eine sinnvolle Einrichtung, um ihnen eine Basis-Gesundheitsversorgung zu bieten. Er erlebe die Menschen als dankbar, dass es die rollende Einrichtung gebe.

Auch Kurt Kolle ist froh. Der 70-Jährige wohnt seit 50 Jahren in Cornberg. Früher hatte er einen Hausarzt in Nentershausen. Doch der Arzt habe seine Praxis geschlossen. Die Mediziner in Sontra, Bebra sowie den anderen Städten und Gemeinden im Umland seien total überfüllt. „Die nehmen keine Patienten mehr an“, schildert Kolle. In den ersten drei Monaten nach dem Start 2018 gab es nach Angaben von KV-Sprecher Karl Roth im Bus 700 Behandlungsfälle, nun sind es etwa 600 pro Quartal. In Cornberg verzeichnet die rollende Praxis den zweitmeisten Zulauf. Im ersten halben Jahr wurden hier 540 Mal Patienten vorstellig.

Auch kritische Stimmen.

Im Sommer nächsten Jahres endet das Projekt, doch der Vertrag enthält laut Roth die Möglichkeit einer Verlängerung. Gemessen an der Resonanz in der Bevölkerung sei der Medibus ein Erfolg. „Wenn wir über Erfolg reden, sprechen wir allerdings nicht über wirtschaftlichen Erfolg“, fügt er hinzu. „Rentabel ist das Projekt nicht.“ Insgesamt wird der Bus in zwei Jahren rund 600.000 Euro verschlingen, das ist weit mehr als eine feste Praxis kostet. Die Krankenkassen, so auch die AOK Hessen, unterstützen den Medibus durch Gelder aus dem für innovative Versorgungsprojekte vorgesehenen Strukturfonds. „Der Medibus ist eine sinnvolle Ergänzung zur hausärztlichen Versorgung im ländlichen Raum“, zieht Joachim Henkel, Hauptabteilungsleiter für Integratives Leistungsmanagement der AOK Hessen, eine erste Bilanz.

Doch es gibt auch Vorbehalte gegen die rollende Praxis. Es sei menschenunwürdig, in einen Bus abgeschoben zu werden, sagte eine Bürgerin aus Nentershausen unlängst einem Fernsehteam in die Kamera. Deswegen werde sie nie dorthin gehen. KV-Sprecher Roth kennt derlei Äußerungen von erbosten Bürgern wie: „Wir wollen einen richtigen Arzt, nicht so einen Ersatz.“ Doch die negativen Stimmen seien inzwischen weniger als am Anfang. Und auch die Hausärzte der Region betrachten ihren mobilen Kollegen nicht mehr als Konkurrenz. „Der Medibus ist erfolgreiches Modell und Notlösung in einem: Das Projekt läuft gut und die Akzeptanz bei Kommunalpolitik und Patienten ist deutlich gewachsen“, sagt der stellvertretende Vorstandsvorsitzende der KV Hessen, Dr. Eckhard Starke. Trotzdem wünschten sich noch immer viele Patienten einen Arzt, der vor Ort eine Praxis habe. Dies bleibe in ländlichen Regionen aber schwierig und für die Zukunft gebe es keine schnellen Lösungen. Die vom Medibus angefahrenen Kommunen denken laut Roth inzwischen darüber nach, ein gemeinsames Ärztezentrum mit angestellten Medizinern einzurichten. Die Ärzte müssten dann nicht in der Region leben. Weitere Medibusse seien derzeit nicht geplant. Daher müssen andere Lösungen für die 230 offenen Arztsitze in Hessen her.

Insgesamt besitzt die DB Regio vier der 12,7-Meter langen Medibusse, die von der holländischen Firma VDL gebaut werden. Der Bus in Nordhessen ist mitsamt seiner Ausrüstung rund 400.000 Euro wert, wie eine Sprecherin verrät. Die Charité in Berlin setzte einen ähnlichen Bus der Bahn von November 2016 bis März 2017 zur Impfung von Flüchtlingen vor deren Unterkünften ein, wie der stellvertretende Ärztliche Direktor, PD Dr. Joachim Seybold, berichtet. Bis Dezember 2018 sei der Bus der Charité dann noch im Rahmen einer Studie im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums unterwegs gewesen, bei der sich Schüler der 9. bis 11. Klassen in Berlin und Brandenburg direkt im Fahrzeug impfen lassen konnten.

Vielerorts im Einsatz.

Im Mai und Juni 2019 setzte das sächsische Sozialministerium einen Medibus als Teil einer Impfkampagne im Freistaat ein. Die Deutsche Bahn selbst nutzt die mobile Arztpraxis für Angebote im Rahmen der betrieblichen Gesundheitsvorsorge. Für ihren Medibus rührt die Bahn kräftig die Werbetrommel und hofft, dass sich weitere Einsatzgebiete finden und auch das Interesse von großen Firmen geweckt wird. „Wir müssen langsam in die Wirtschaftlichkeit wachsen“, sagt Projektleiter Arndt Hecker. Sein Unternehmen stehe mit vielen potenziellen Interessenten im Gespräch. Derzeit entwickelt die Bahn einen Zahn-Medibus, der als mobile Zahnarztpraxis in ländlichen Regionen die Versorgung gewährleisten soll.

Ein ähnliches Projekt gab es allerdings schon einmal mit der rollenden Arztpraxis im niedersächsischen Landkreis Wolfenbüttel in den Jahren 2012 und 2013. Dabei kam ein umgebauter VW-Transporter zum Einsatz. Das Projekt sei wegen einer zu geringen Nutzung eingestellt worden, erzählt der Sprecher der KV Niedersachsen, Detlef Haffke. Im Schnitt seien pro Halt in den Dörfern in vier Stunden gerade mal acht Patienten erschienen. „Vielleicht waren wir der Zeit ein paar Jahre voraus.“

Die Umgestaltung des Marktplatzes in Cornberg mit dem Springbrunnen in der Mitte, seinen gepflasterten Wegen, Büschen und Bänken förderte die Europäische Union und das Land Hessen beteiligte sich. Dort im Bushäuschen sitzen an diesem wolkenverhangenen Nachmittag vier alte Männer mit Bierflasche und unterhalten sich über Gott und die Welt. Einen Supermarkt? So etwas gibt es in Cornberg nicht, erzählen sie. Dafür gibt es die Landbäckerei an der Ecke, die einen kleinen Dorfladen beherbergt – fürs Nötigste. Im Ortszentrum findet sich zudem die Pizzeria Alberto. Außerdem gibt es einen Steinwurf entfernt eine Stehkneipe und einen Kiosk. Immerhin hält sich im Ort eine kleine Sparkassenfiliale; es gibt die Grundschule und die Freiwillige Feuerwehr sowie das altehrwürdige Kloster und den Sandsteinbruch, die Besucher von außerhalb anlocken. Die Menschen sind bodenständig – nicht arm, aber auch nicht sonderlich wohlhabend. Die rechtspopulistische AfD holte in Cornberg bei der Hessenwahl im vergangenen Jahr 29,1 Prozent der Stimmen.   

Nichts für Berufsanfänger.

Gareis hatte zu dieser Region vorher keine Beziehung. „Ich habe nie hier gearbeitet oder gelebt.“ Weiterhin hat der Mediziner seinen Lebensmittelpunkt in Offenbach, von wo er am Montag in der Frühe gekommen ist. Vier Tage wohnt er in einem möblierten Appartment, bevor es am Donnerstagabend zurück in seine Heimatstadt geht. Am Freitag ist beim Ärztebus Ruhetag. „Für einen Berufsanfänger ist die Arbeit im Bus nicht geeignet, da sehr viel Erfahrung notwendig ist“, erläutert Gareis. Man habe es hier mit der gesamten Bandbreite an Krankheiten zu tun – von Bluthochdruck und Herzinsuffizienz über Schmerzen am Bewegungsapparat, Magen-Darm-Problemen bis hin zu Atemwegserkrankungen. „Wir stellen hier die Weichen, wie es mit dem Patienten weitergeht.“ Erst eine Woche zuvor kam eine Patientin zu ihm in den Bus, die seit zwei Tagen unter Luftnot litt. Ihr Zustand war zwar stabil, Übelkeit und Brechreiz hatte sie nicht. Gareis aber vermutete dennoch einen stummen Myokardinfarkt, denn das EKG sei ihm „suspekt“ gewesen. Die Frau wurde mit einem Rettungswagen ins Krankenhaus gefahren – zurecht, wie sich später herausstellte. Die meisten Patienten, die den Bus nutzen, sind alt. Doch auch Jugendliche kämen in das barrierefreie Fahrzeug, erzählt Gareis. Eine Auswertung der KV zeigt, dass die Patienten, die 76 oder älter sind, 30 Prozent ausmachen. 40 Prozent sind zwischen 55 und 75 Jahren, 26 Prozent zwischen 19 und 54. 

Zu den Patienten gehört auch Friedhelm Trapp (78), der schon mehr als 50 Jahre in Cornberg lebt und hier gebaut hat. Er brauchte ein Rezept. Zudem kam er her, um sein Blutbild zu besprechen. „Alles in Ordnung“, zeigt er sich nach dem Gespräch mit Dr. Gareis erleichtert. Das Medikament bringt ihm jemand aus der Familie in den nächsten Tagen aus Sontra mit, denn irgendwer komme dort meistens hin. Auch Trapp war früher beim alten Arzt in Cornberg. Der Rentner ist froh, dass es wenigstens den Medibus gibt und er keine weiten Wege zurücklegen muss. Für die Situation zeigt Trapp Verständnis: „Sicherlich wäre ein Arzt vor Ort schöner. Aber das kommt nicht mehr.“

Thorsten Severin ist Redakteur der G+G.
Werner Krüper ist freier Fotograf.