Interview

„Der Tod darf kein Tabu sein“

Das Sterben wird bei uns zu schnell versteckt, sagt Dr. Margot Käßmann. Die Theologin empfiehlt für einen würdevollen Umgang mit dem Tod Rituale – und den Ausbau der Palliativversorgung auch in ländlichen Regionen.

Frau Dr. Käßmann, eine Christin kann der Tod nicht schrecken – oder doch?

Dr. Margot Käßmann: Christinnen und Christen wissen, wo sie hingehen, wenn sie sterben: Sie haben das große Zutrauen, ihr Leben zurück in Gottes Hand zu geben. Trotzdem können wir den Tod nicht banalisieren. Ich ermutige Menschen, über den Tod zu reden. Wer über den Tod spricht, nimmt ihm ein wenig den Schrecken.

Porträt von Margot Käßmann

Zur Person

Dr. Margot Käßmann war Landesbischöfin der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers, Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Gastprofessorin sowie Botschafterin des Rates der EKD für das Reformationsjubiläum 2017.

Hat unsere Gesellschaft verlernt, Sterben und Tod ins Leben zu integrieren?

Käßmann: Viele Menschen kennen die Rituale zum Umgang mit dem Tod nicht mehr. Dann sterben Menschen allein in Krankenhäusern, wo oft keiner weiß, wie er einem Sterbenden beispielsweise mit einem Segensgebet beistehen kann. Wir dürfen Menschen im Sterben auch zu Hause lassen und die Toten dort aufbahren und in Würde Abschied nehmen. Ich habe das bei einem verstorbenen fünfjährigen Mädchen auf dem Dorf eindrücklich erlebt: Die Nachbarn kamen ins Haus und haben sich am Sarg unter Tränen von dem Kind verabschiedet. Uns fehlt etwas, wenn wir diese Rituale verlernen.

Hat das etwas mit dem Selbstoptimierungswahn zu tun – zu denken, wir könnten ewig auf dieser Erde leben?

Käßmann: Zum einen ist es tatsächlich die Leistungsgesellschaft, die ihre eigenen Grenzen nicht sehen will. Zum anderen ist es die Individualisierung: Immer mehr Menschen leben allein. Deshalb sind sie es nicht mehr gewöhnt, die Rituale der Gemeinschaft zu praktizieren. Es gehen Traditionen verloren, auch weil die Menschen sich von den Kirchen abwenden. Bei Beerdigungen merke ich, dass viele nicht mehr wissen, wie sie sich auf dem Friedhof verhalten sollen. Rituale sind Geländer, an denen sich Menschen in Krisensituationen festhalten können.

Wie können wir uns auf das Sterben und den Tod vorbereiten?

Käßmann: Es ist sinnvoll, mit seinen Angehörigen darüber zu sprechen. Ich habe alle Vorkehrungen getroffen: Meine Kinder wissen, wie ich beerdigt werden möchte, welcher Vers über der Traueranzeige stehen soll, ich habe eine Betreuungsvollmacht und eine Patientenverfügung. Wer heute eine Patientenverfügung ausfüllt, muss nicht an Schläuchen hängend und anderen ausgeliefert sterben. Ich kann festlegen, dass ich keine Magensonde bekomme. Dann wird der Sterbeprozess zügig sein: Ohne Flüssigkeit und Nahrung geht es nur noch um Tage.

Wer über den Tod spricht, nimmt ihm ein wenig den Schrecken.

Was können wir als Gesellschaft für ein würdevolles Sterben tun?

Käßmann: Der Tod darf kein Tabu sein. Das Sterben wird zu schnell versteckt. Wir sollten zu Sterbenden gehen, sie und ihre Familie nicht allein lassen. Auch das Angebot von Palliativstationen und Hospizen spielt für ein würdevolles Sterben eine wichtige Rolle. Die ersten drei Palliativbetten in Hannover haben wir vor vielen Jahren auf Spendenbasis eingerichtet. Ich bin froh, dass das inzwischen eine Kassenleistung ist. Im ländlichen Raum gibt es allerdings immer noch zu wenig Hospize oder ambulante Hospizdienste. Wenn ein Mensch im eigenen Zuhause sterben möchte, sollte das möglich sein, ganz gleich ob in der Großstadt oder auf dem Land. Überall sollte es doch einen guten Zugang zur Schmerztherapie geben. Noch immer haben leider nicht alle Ärztinnen und Ärzte eine Ausbildung in der Palliativmedizin oder die psychosozialen Kompetenzen für den Umgang mit dem Sterben.

Änne Töpfer führte das Interview. Sie ist verantwortliche Redakteurin der G+G.
Bildnachweis: Julia Baumgart Photography