Interview

„Wir brauchen eine nationale Strategie für Patientensicherheit“

Beim Umgang mit Fehlern liegen Welten zwischen Deutschland und England. Um bei der Patientensicherheit hierzulande voranzukommen, bedarf es dringend einer nationalen Strategie und gemeinsamer Anstrengungen in Politik, Praxis und Wissenschaft, sagt Dr. Stefan Gronemeyer.

Herr Dr. Gronemeyer, Sie haben an der G+G-Studienreise nach London teilgenommen. Warum sind die Engländer bei der Patientensicherheit aus Ihrer Sicht so weit vorne?  

Dr. Stefan Gronemeyer: Die Engländer haben früh und konsequent die Weichen richtig gestellt. Bei Standardisierungen, Mindestanforderungen und einem gemeinsamen Verständnis für eine Sicherheitskultur haben sie viel investiert und dafür die volle Rückendeckung und substanzielle Unterstützung der Regierung gehabt.

Porträt von Stefan Gronemeyer

Zur Person

Dr. Stefan Gronemeyer ist leitender Arzt und stellvertretender Geschäfts­führer des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS).

Anders als in England gibt es hierzulande weder verpflichtende Meldesysteme noch eine offene Kultur im Umgang mit Zwischenfällen – mit welchen Folgen?

Gronemeyer: In konkreten Zahlen ist das schwierig. In Dimensionen lässt sich das hingegen schon beschreiben. Wie im „APS-Weißbuch Patientensicherheit“ im vergangenen Jahr überzeugend dargelegt wurde, liegen die tatsächlichen Dimensionen vermeidbarer unerwünschter Ereignisse etwa 30-mal höher als die etwa 6.000 Fälle von Behandlungsfehlern, über die jährlich berichtet wird. Von einer hohen Dunkelziffer bei vermeidbaren Schäden und Todesfällen ist also sicher auszugehen. Aus einer aktuellen Studie der OECD zur Ökonomie der Patientensicherheit wissen wir, dass alleine im Krankenhaus etwa 15 Prozent der Kosten letztlich im Zusammenhang mit Sicherheitsmängeln stehen könnten.

Warum fällt es in Deutschland nach wie vor schwer, systematisch aus Zwischenfällen zu lernen?

Gronemeyer: Die Publikation „Aus Fehlern lernen“ hat vor einigen Jahren sicher in den Köpfen viel bewegt. Wie stark sich dadurch aber etwas in der Praxis bewegt hat, wissen wir leider nicht. Bei einigen Akteuren fehlt zudem immer noch die Überzeugung, dass selbst wenn sich vieles schon getan hat, deutlich mehr geschehen muss. Großen Handlungsbedarf zu akzeptieren, bedeutet ja auch, dass Defizite eingestanden werden müssen – und das tut niemand gerne. Es fehlt bei uns leider eine klare nationale Strategie zur Fehlervermeidung. Aus Patientensicht ist das inakzeptabel.

Was könnten wir den Engländern schnell nachahmen?   

Gronemeyer: Wir sollten uns zunächst das Ziel setzen, sicher vermeidbare unerwünschte Ereignisse wie Seitenverwechslungen oder verbliebene Fremdkörper durch erprobte Maßnahmen auch definitiv auszuschließen. Diese sogenannten Never Events sollten verpflichtend berichtet und analysiert werden.

Was ist auf systemischer Ebene nötig?

Gronemeyer: Wir müssen zum Umgang mit Risiken, Fehlern und Schäden bessere und klare Regelungen schaffen. Außerdem müssen wir Patientensicherheit lehren in den Aus-, Fort- und Weiterbildungen aller Gesundheitsberufe, damit wir dasselbe Verständnis entwickeln. Auch in der Wissenschaft zur Patientensicherheit ist in Deutschland noch viel Luft nach oben. Wir müssen zunächst auf breiter Front in Ärzteschaft, Gesundheitspolitik und Selbstverwaltung akzeptieren, dass wir Handlungsbedarf bei der Patientensicherheit haben. Und so banal es klingt, letztlich funktionieren die Dinge vor allem auch dann, wenn man die richtigen Anreize setzt: Gewissenhaftes Umsetzen und Erreichen von Patientensicherheit muss sich lohnen.

Karola Schulte führte das Interview. Sie ist Chefredakteurin der G+G.
Bildnachweis: MDS