Pflegekompetenz

Mehr Wissen für die familiale Pflege

Angehörige selber zu Hause zu pflegen, ist eine anspruchsvolle Aufgabe. Um sie zu bewältigen, sind Informationen zu finden, zu verstehen, zu bewerten und in Handlungen umzusetzen. Daher gilt es, die Gesundheitskompetenz der Pflegebedürftigen und der pflegenden Angehörigen zu stärken. Von Dr. Katharina Graffmann-Weschke und Annegret Paelecke

Das Wissen wächst rasant. Dank der Digitalisierung sind Antworten auf gesundheitsbezogene Fragen scheinbar nur einen Mausklick entfernt. Doch die Fülle an Informationen führt nicht unbedingt dazu, dass Menschen auch besser informiert sind. Repräsentative Untersuchungen ergeben, dass mehr als die Hälfte der Bürgerinnen und Bürger lediglich über eine eingeschränkte Gesundheitskompetenz verfügen. Ihnen fällt es schwer, Informationen zu finden, zu verstehen, kritisch zu beurteilen und anzuwenden. Wer diese Fähigkeiten jedoch nicht oder nur eingeschränkt besitzt, kann sich weniger erfolgreich um seine Gesundheit kümmern.

Angesichts des demografischen Wandels hat Gesundheitskompetenz gerade auch im Bereich der Pflege erheblich an Bedeutung gewonnen. Nach aktuellen Zahlen des Statistischen Bundes­amtes sind rund vier Millionen Menschen in Deutschland pflege­bedürftig. Davon werden rund 75 Prozent zu Hause gepflegt. Die meisten von ihnen beziehen Pflegegeld und organisieren sich die Pflege ohne Einbindung eines Pflegedienstes (Pflege-Report 2019, siehe Lese- und Webtipps).

Der Begriff „Gesundheitskompetenz“ hat sich als Übersetzung des englischen Begriffs „Health Literacy“ in der deutschsprachigen Diskussion durchgesetzt und bedeutet wörtlich „auf Gesundheit bezogene Literalität“. Darunter wurden ursprünglich die grundlegenden Schreib-, Lese- und Rechenfähigkeiten verstanden, die Menschen benötigen, um schriftliche Dokumente wie etwa Behandlungsinformationen oder Hinweise zur Medikamenteneinnahme lesen und verstehen zu können. Dieses Begriffsverständnis, das sich eng an den Anforderungen der Krankenbehandlung und den traditionellen Vorstellungen von der Patientenrolle orientiert, hat inzwischen bedeutsame Erweiterungen erfahren. „Health Literacy“ schließt heute über die beschriebenen literalen Techniken hinaus auch die Fähigkeit ein, gesundheitsrelevante Informationen finden, verstehen, kritisch beurteilen, auf die eigene Lebenssituation beziehen und für die Erhaltung und Förderung der Gesundheit nutzen zu können. Gesundheitskompetenz zielt also auf den kompetenten Umgang mit gesundheitsrelevanten Informationen – nicht nur, um die an Patienten gestellten Erwartungen erfüllen zu können, sondern vielmehr, um zur Erhaltung und Verbesserung der eigenen Gesundheit beizutragen.

Quelle: Nationaler Aktionsplan Gesundheitskompetenz (Originalfassung)

Somit spielen die Angehörigen eine wichtige Rolle, etwa wenn Entscheidungen und Weichenstellungen für den weiteren Verlauf der Versorgung anstehen. Zudem sind sie oftmals Vertrauensperson der Pflegebedürftigen. Deshalb sollten auch sie als Adressaten gesundheitskompetenzfördernder Bemühungen eingebunden werden – zumal pflegende Angehörige ihrerseits für die Bewältigung der pflegerischen Aufgaben und Belastungen ein hohes Maß an Gesundheitskompetenz benötigen.

Sensibilität für Pflegesituation erkennen.

Für die familiale Pflege benötigen Pflegebedürftige und Angehörige Wissen. Pflegekompetenz ist gefragt. Dafür müssen sie erkennen, dass eine Pflegesituation eingetreten ist. Eine Tochter zum Beispiel, die ihrem Vater immer öfter beim Aufstehen aus dem Bett und beim Ankleiden hilft, bezeichnet dies nicht gleich als Pflegesituation und sich selbst auch nicht als pflegende Angehörige. Ebenso empfindet der Vater diese Unterstützung nicht gleich als Pflege.

Unterstützungsbedarf unterschiedlich.

Haben Pflegebedürftige und ihre Angehörigen erkannt, dass die als selbstverständliche Sorge eingeschätzte Situation pflegerische Aufgaben sind, haben sie Bedarf an Informationen. Gespräche mit Freunden, Angehörigen, Ärzten oder digitale Medien können diese liefern. Eine wichtige Anlaufstelle sind auch die Pflegekassen und die Pflegestützpunkte (Paragraf 7a SGB XI). Sie informieren und beraten Pflegebedürftige und ihre Angehörigen. Da je nach Lebensumständen die Unterstützungs- und Hilfebedarfe unterschiedlich sind und auch individuell verschieden wahrgenommen werden, legt die Pflegeberatung den Fokus darauf, Pflege­bedürftige und deren Angehörige biografiesensibel zu befähigen, den persönlichen Bedarf zu identifizieren, zu beurteilen und entsprechend Entscheidungen zu treffen. Mit der Zeit stellen sich beeinflussbare Erfahrungen mit der Pflege ein.

Dazu ein Beispiel: Eine Mutter, die an Parkinson leidet, erhält ein bestimmtes Medikament. Dass sie es einnehmen muss und dessen Einnahme den Erhalt ihrer Selbständigkeit beeinflusst, lernt sie selbst und auch der Sohn, der sich um sie kümmert. Nimmt sie das Medikament jedoch unregelmäßig, ist der Alltag durch Bewegungseinschränkungen nicht mehr selbstständig zu bewältigen. Deshalb sollten die Parkinsonpatientin und ihr Sohn frühzeitig Informationen über die Krankheit erhalten. Alle an der Versorgung Beteiligten, auch die behandelnde Hausärztin, müssen sensibel die möglichen Auswirkungen und Zusammenhänge von Krankheit und Pflegebedürftigkeit für die Pflege zu Hause kennen und verstehen.

Pflegeaufgaben nehmen zu.

Ist zu Beginn der Pflegebedürftigkeit nur eine leicht unterstützende Hilfe erforderlich, zum Beispiel beim Aufstehen oder Laufen, kommen auf Angehörige mit der Zeit komple­xere Pflegeaufgaben zu, zum Beispiel die vollständige Körperpflege. Die dafür benötigten pflegerischen Handgriffe lassen sich in einem vom Gesetzgeber vorgesehenen Pflegekurs (Paragraf 45 SGB XI) erlernen.

Erfahrungen mit anderen austauschen.

Erkenntnisse über die Pflegesituation können durch einen Erfahrungsaustausch mit anderen Betroffenen zu mehr Kompetenz führen. Selbsthilfegruppen für pflegende Angehörige werden zunehmend als hilfreich erkannt, erlebt und in Anspruch genommen. Sie sind bestens geeignet, die Pflegekompetenz zu stärken.

  • Tsiasioti, C.; Behrendt, S., Jürchott, K., Schwinger, A.: Pflegebedürftigkeit in Deutschland. In: Jacobs, K., Kuhlmey, A., Greß, S., Klauber, J., Schwinger, A. (Hrsg.): Pflege-Report 2019. Mehr Personal in der Langzeitpflege – aber woher? Springer, Berlin, Seite 257 – 311. Download
  • Kai Kolpatzik (Hrsg.): Gesundheitskompetenz im Fokus. Das Praxishandbuch. KomPart-Verlag, Berlin 2019. Download
  • Schaeffer, D., Hurrelmann, K., Bauer, U., Kolpatzik, K. (Hrsg.): Nationaler Aktionsplan Gesundheitskompetenz. Die Gesundheitskompetenz in Deutschland stärken. KomPart-Verlag, Berlin 2018.

Die Gesundheitskompetenz von Pflegebedürftigen selbst wird heute vor allem unter medizinischen Aspekten betrachtet. So unterstützt beispielsweise das Netzwerk INSEA (Initiative für Selbstmanagement und aktives Leben) chronisch kranke Patienten, ihren Alltag mit der Krankheit besser zu bewältigen. Durch mehr Beteiligung des Patienten soll er eine weniger passive Rolle einnehmen und mehr Einfluss bei Entscheidungen nehmen können, die seine Gesundheit betreffen, solange es möglich ist.

Selbstständigkeit nimmt ab.

Bei der medizinischen Perspektive ist allerdings zu bedenken, dass die Handlungsfähigkeit eines Patienten mit der Zeit abnimmt, zum Beispiel bei einer Demenz­erkrankung. Bei an Demenz erkrankten Menschen wird beispielsweise die Einnahme von Medikamenten schwierig. Sie verstehen irgendwann nicht mehr, dass sie eine therapiebedürftige Krankheit haben, zum Beispiel Herz-Rhythmus-Störungen, und einen Medikamentenplan mit festgelegten Uhrzeiten einhalten müssen. Auch kann später das aktive „Schlucken können“ verlorengehen. Damit werden sie pflegebedürftig und abhängig von einer Person, welche die Verantwortung für viele Aufgaben des Alltags übernimmt. Die Höhe der Gesundheitskompetenz und später der Pflegekompetenz beeinflusst dann erheblich die Lebens­dauer. So haben Untersuchungen ergeben, dass ältere Menschen mit mäßiger Gesundheitskompetenz früher sterben.

Angehörige müssen aktivieren.

Bei fortschreitender Pflege­bedürftigkeit tragen zunehmend die pflegenden Angehörigen Verantwortung für die Gesundheitskompetenz des Pflege­bedürftigen. Sie versuchen mehr oder weniger gemeinsam Informationen über gesunderhaltende und therapeutische Maßnahmen zu finden, zu verstehen, zu beurteilen und umzusetzen.

Pflegende benötigen Kompetenzen für den Pflegebedürftigen und sich selbst, um die Lebensqualität zu erhöhen.

Dabei hat die aktivierende Pflege eine erhebliche Bedeutung. Was ausgebildete Pflegefachkräfte praktizieren, übernehmen in der familialen Pflege die Angehörigen: den Pflegebedürftigen zu motivieren, seine noch vorhandenen körperlichen und geistigen Fähigkeiten zu nutzen und am Leben teilzuhaben. So ist beispielsweise bei pflegebedürftigen Menschen mit Parkinson die tägliche Bewegungsförderung eine Möglichkeit, die körperlichen Symptome hinauszuzögern. Werden die pünktliche Einnahme von Medikamenten und geplante Tätigkeiten gut aufeinander abgestimmt, kann der Pflegebedürftige länger zum Beispiel selbstständig essen. Das Wissen über diese Zusammenhänge benötigen die pflegenden Angehörigen als Pflegekompetenz.  

Die eigene Gesundheit im Auge haben.

Damit Angehörige durch ihre pflege­rischen Tätigkeiten nicht selbst er­kranken, ist auch ihre eigene Gesundheitskompetenz gefragt. Wenn sie ein Familienmitglied pflegen, ist es oft schwer, Zeit für eigene Bedürfnisse und gesundheitsfördernde Aktivitäten zu finden – eine tägliche Herausforderung gerade auch für Berufstätige, die Arbeit und Pflege unter einen Hut bringen müssen.

Forschung erforderlich.

Angesichts des demografischen Wandels haben die Prävention für Ältere, das gesunde Altern (Gesundheitsziel „Gesund älter werden“) sowie die Gesundheitskompetenz für ältere Menschen längst an Bedeutung gewonnen. Ins Blickfeld gehört aber auch die Gesundheitskompetenz von Pflegebedürftigen und der sie versorgenden Angehörigen. Dafür sind Forschungsaktivitäten erforderlich analog zu dem in­zwischen abgeschlossenen EU-Projekts IROHLA (Intervention Reseach On Health Literacy among Ageing population) zur Förderung der Gesundheitskompetenz älterer Menschen.
 
Dass die familiale Pflege eine hohe gesellschaftliche Relevanz hat, machen die vom Wissenschaftlichen Institut der AOK erstmals für das Jahr 2016 veröffentlichten Berechnungen ihrer Arbeitsleistungen deutlich: Würden die Stunden, die pflegende Angehörige für die familiale Pflege aufbringen, nach Mindestlohn bezahlt, käme eine Summe von rund 37 Milliarden Euro pro Jahr zusammen. Ein gewaltiger Betrag, wenn man bedenkt, dass die Pflegeversicherung nur ein Einnahmenvolumen von rund 26 Milliarden Euro hatte.

Wieder Wissen in Familien bringen.

Durch Lernen, praktisches Anleiten, Selbsthilfegruppen, Begleitung und Pflegeberatung erlangen pflegende Angehörige sowie alle an häuslichen Pflegesituationen Beteiligte die notwendige Gesundheits- und Pflegekompetenz für das Kümmern um einen Angehörigen und auch für sich selbst. Früher gehörten Pflege, Sterben und Trauer­begleitung zum Familienleben dazu. Informationen, Wissen, Verstehen und Handeln wurden von Generation zu Generation weiter­gegeben. Da das heute nur noch selten so ist, muss Gesundheitskompetenz der von der Familie Gepflegten und der pflegenden Angehörigen neu gestärkt werden – eine gesellschaftliche Aufgabe, die angesichts einer alternden Gesellschaft dringender denn je ist.

Katharina Graffmann-Weschke leitet die AOK Pflege Akademie der AOK Nordost.
Annegret Paelecke ist Mitarbeiterin der AOK Pflege Akademie.
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