Gesundheit global

Nigerias Kampf gegen die Kinderlähmung

Seit Kurzem gelten Nigeria und damit ganz Afrika als poliofrei. Der Weg dorthin war lang und mühsam. Doch in die Freude mischt sich Sorge. Denn die zahlreichen einheimischen Helfer wissen nicht, wie es weitergeht, wenn die Finanzmittel aus der Globalen Polio-Ausrottungskampagne auslaufen. Martina Merten war vor Ort und beschreibt die Konzepte für die Zeit danach.

Das Poliovirus ist tückisch. Es kann bleibende Lähmungserscheinungen hervorrufen und sogar zum Tode führen. Noch 1988 waren jährlich rund 350.000 Kinder von der Kinderlähmung betroffen oder starben daran. Durch flächendeckende Impfungen – seit dem Jahr 2000 wurden weltweit mehr als zehn Milliarden Impfdosen an fast drei Milliarden Kinder verabreicht – ging die Anzahl der jährlich weltweit auftretenden Polio-Fälle um über 99 Prozent zurück. Am Welt­poliotag am 28. Oktober 2019 verkündete die Weltgesundheitsorganisation WHO einen großen Erfolg: Der zweite von insgesamt drei bekannten Poliovirus-Wildtypen (wild poliovirus – WPV) gilt offiziell als ausgerottet. Doch solange in Pakistan und Afghanistan noch der Wildtyp 1 existiert, ist die Gefahr nicht vollständig gebannt. Damit sich eingeschleppte Polioviren nicht anderenorts wieder ausbreiten können, müssen in allen Ländern weltweit hohe Impfraten beibehalten werden.

Als 1988 die „Global Polio Eradication Initiative (GPEI)”, eine globale Ausrottungskampagne gegen das Polio-Virus, ins Leben gerufen wurde, trat die Krankheit noch in 125 Ländern weltweit auf. Der GPEI, an der sich neben der WHO auch das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF), die US-Bundesbehörde Centers for Disease Control and Prevention (CDC), die weltweit tätige, gemeinnützige Bewegung Rotary Internatio­nal und die Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung beteiligen, ist es seither gelungen, Polio weltweit fast vollständig zu eliminieren – auch in Nigeria, wo 2012 der letzte dokumentierte Fall einer Infektion mit dem jetzt ausgerotteten Polio-Wildvirus 3 auf­getreten war. Um die Kinderlähmung auch dort zu besiegen, organisierte die GPEI Impfkampagnen, sorgte für Ausbruchsüberwachung und Krankheitsbekämpfung, stärkte die primäre Gesundheitsversorgung, richtete Hunderte von sogenannten Health Camps ein und setzte vor allem in schwer erreichbaren Siedlungen auf die Aufklärung durch einheimische Frauen wie Ramatu Abdullahi.

Einheimische als Impfbotschafterinnen.

Zwischen den einfachen, eng beieinander liegenden Steinhäusern schlängelt sich ein winziges Rinnsal. Plastikabfälle, Fäkalien, auch Essensreste schwimmen an der Oberfläche. An einer Häuserecke haben zwei Männer ein Schaf geschlachtet. Es ist halb acht Uhr morgens, als Ramatu Abdullahi ihren ersten Rundgang macht. Die Mittvierzigerin trägt über ihrem Kleid ein langes, blaues Gewand, das sie von Kopf bis Fuß vollständig bedeckt. Daran steckt ein kleines Schild, das neben dem Wappen des nigerianischen Bundesstaates Kano die Symbole oder Schriftzüge der an der GPEI beteiligten Institutionen zeigt. Ramatus Zuständigkeitsgebiet, die Siedlung Arbamiyya, umfasst 332 Haushalte mit 241 Kindern unter fünf und weiteren 57 Kindern unter einem Jahr.

Orientierungshilfe: Eine Impfhelferin notiert an einem Haus, wann sie dort war und ob darin noch jemand ungeimpft ist. Häufig sind mehrere Besuche nötig, bis alle Kinder durchgeimpft sind.

Ramatu Abdullahi ist ein „volontary community mobilizer“, also eine „freiwillige Gemeinschaftsmobilisatorin“. VCMs, so die Abkürzung, sind meist Frauen aus der Gemeinde oder der Siedlung, die sie betreuen. Sie sind dafür zuständig, alle Haushalte ihres Einzugsgebiets über die Bedeutung der Polio-Impfung zu informieren. Sind Kinder im Alter von null bis fünf Jahren noch nicht geimpft, erhalten sie von der zuständigen VCM eine Polio-Schluckimpfung. Die Impfungen werden gewissenhaft dokumentiert. Freiwillige wie Ramatu klären über die grundsätzliche Bedeutung von Impfungen auf. Sie erläutern, wie wichtig richtige Hygiene gerade bei Kindern ist, und dass Neugeborene unbedingt von einem Arzt untersucht werden sollten. „Ich kenne die Namen aller Neugeborenen in der Siedlung“, sagt Ramatu. Stolz schwingt in ihrer Stimme mit.

In Kano, dem mit 20 Millionen Menschen bevölkerungsreichsten der 36 Bundesstaaten Nigerias, sind im Auftrag von UNICEF 3.800 VCMs im Einsatz. Bis vor wenigen Jahren stellte das überwiegend muslimische Kano das „Epizentrum“ der Polio-Ausbrüche dar, erklärt Dr. Anisur Rahman Siddique, der für UNICEF in Nigeria die Polio-Ausrottungskampagne leitet. Wie in Pakistan erschwerten auch in Nigeria religiöse Widerstände der islamistischen Terrororganisation Boko Haram die Impfungen. Es war viel gemeindebasierte Überzeugungsarbeit durch VCMs wie Ramatu nötig, um die Ängste in der muslimischen Bevölkerung zu zerstreuen. Wichtig war auch die Zusammenarbeit der VCMs mit religiösen Leitfiguren, da diese einen großen Einfluss auf die Bevölkerung haben.

Schwindende Mittel gefährden Versorgung.

Die Arbeit von Fra­uen wie Ramatu Abdullahi wurde lange Zeit aus den Gebermitteln der Globalen Polio-Ausrottungskampagne finanziert, sie bekamen immerhin 25 Euro im Monat. Ob das so bleibt, ist ungewiss. Denn nach 23 Jahren aktiver Kampagne hat die WHO Afrika im Oktober 2019 offiziell als poliofrei eingestuft, nachdem Nigeria als letztes Land des Kontinents drei Jahre nacheinander frei von Neuerkrankungen war. Die GPEI hat nun mit der  Polio Endgame Strategy 2019 bis 2023 einen Fahrplan für die letzten Schritte zur vollständigen Ausrottung von Polio vorgelegt. Doch mit dem allmählichen Auslaufen des Programms schrumpft auch die finanzielle Unterstützung durch die Geberländer, die über Jahrzehnte nach Nigeria floss und mit der unter anderem landesweit 23.000 Mitarbeiter und bis zu 121.000 zusätzliche Kräfte zur Unterstützung von Impfkampagnen bezahlt wurden.

  • Bevölkerungszahl: rund 195,9 Millionen (Stand 2018), davon knapp die Hälfte unter 15 Jahren. 5,5 Lebendgeburten pro Frau; Wachstumsrate von 3,2 Prozent jährlich. Bis 2050 erwartet: 440 Millionen Einwohner
  • Lebenserwartung bei Geburt: Frauen 54,7 Jahre, Männer 53,1 Jahre (Stand 2017). Kindersterblichkeitsrate: 70/1.000 Lebendgeburten, zwischen Geburt und dem fünften Lebensjahr: 120/1.000 Lebendgeburten.
  • Praktizierende Ärzte je 1.000 Einwohner: 0,4 (Stand 2009)
  • Hygiene: Fast 20 Prozent aller Einrichtungen im Gesundheitsbereich haben keine sanitären Anlagen, fast 40 Prozent keinen Zugang zu sauberem Wasser. Nur 19,7 Prozent der Haushalte verfügen über eine feste Stelle, an der die Hände gewaschen werden können, und Seife. 24,4 Prozent haben keinen Zugang zu einer Toilette.
  • Trinkwasserversorgung: Zugang zu einer sicheren Versorgung mit sauberem Wasser haben 3,7 Prozent der Bevölkerung auf dem eigenen Gelände, 64,2 Prozent in bis zu 30 Minuten und 15,2 Prozent in mehr als 30 Minuten Entfernung. Die Übrigen versorgen sich aus ungesicherten Quellen wie ungeschützten Brunnen oder aus Seen oder Bächen.
  • Kindergesundheit: Weniger als 25 Prozent aller Kinder unter einem Jahr sind vollständig geimpft. 75 Prozent aller Kinder unter fünf Jahren litten in den letzten sechs Wochen an Durchfallerkrankungen.

Quellen: eigene Recherchen 2019; USAID, WHO, UNICEF Nigeria, National Bureau of Statistics Nigeria, The World Bank, UKAid, Destatis. Statistisches Länderprofil Nigeria (8/2019)

„Die Lücke, die durch den Abzug dieser Gelder bald entstehen wird, wollen wir selbst schließen“, sagt Dr. Faisal Shuaib. Er ist der Direktor der National Primary Health Care Development Agency, einer Einheit des nigerianischen Gesundheitsministeriums mit Sitz in Nigerias Hauptstadt Abuja. Auf gar keinen Fall wolle sein Land dauerhaft abhängig von Gebergeldern sein. „Die Finanzierung von Gesundheit soll endlich mehr Priorität in unserem Land erhalten“, ergänzt Shuaib. Zwar zählt das Land mit seinen Gesundheitsausgaben pro Kopf bereits zu den Spitzenreitern auf dem afrikanischen Kontinent; die Gesundheitsindikatoren bilden dies jedoch bei Weitem nicht ab (siehe Kasten „Zahlen und Fakten“).
 
Um sinnvolle Strukturen wie das VCM-System auch ohne GPEI-Gelder weiter nutzen zu können, habe die nigerianische Regierung unter anderem das CHIPS-Programm (Commu­nity Health Influencers, Promoters and Services Programme) aufgelegt, erklärt Dr. Maimuna Sandah Akubakar, leitende Ärztin in der National Primary Health Care Development Agency. Es soll alle gemeindebasierten Ansätze in der Gesundheitsversorgung bündeln. Neben den VCMs gibt es Gesundheitsmitarbeiter auf Dorfebene, traditionelle Geburtshelfer und Gemeindemitarbeiter, die sich speziell um Kinderkrankheiten kümmern. Alle diese Tätigkeiten sollen künftig CHIPS-Agenten in einer Person verkörpern, so Akubakar. Etwa 50 Prozent der Frauen aus dem VCM-Netzwerk sollen als CHIPS-Agenten ausgewählt werden; allerdings sollen nur diejenigen VCMs das einmona­tige Einführungstraining durchlaufen, die lesen und schreiben können. Akubakar zufolge will die Regierung das Programm in allen 36 Bundesstaaten einführen. Gestartet ist CHIPS zunächst in 58 der 9.565 nigerianischen Bezirke. Es gibt also noch viel zu tun.

Auf Gemeindeebene sind Gesundheitsstationen (Primary Health Care Center) oft die erste Anlaufstelle für Patienten.

Bislang ist für die umfangreiche Arbeit der neuen CHIPS-Agenten keine Bezahlung vorgesehen. Das Rückgrat der heutigen GPEI-Kampagne – die Arbeit von Frauen wie Ramatu – steht also auf wackligen Beinen. Während die Regierung damit beschäftigt ist, das CHIPS-Konzept tragfähig zu machen, haben sich einige GPEI-Fachleute im Polio Transition Committee zusammengefunden. Diesem Ausschuss steht Dr. Ngozi N­wosu vor. „Wir wollen die meisten der 23.000 GPEI-Mitarbeiter in neuen Programmen unterbringen, einige sollen aber auch weiterhin nur für Polio zuständig bleiben“, sagt die Fachfrau.

Bewährte Strukturen weiter nutzen.

Der künftige Einsatz-Schwerpunkt soll Nwosu zufolge auf der Ausbruchsbekämpfung und Überwachung in Risikogebieten liegen. Dabei soll es nicht mehr nur um Polio, sondern auch um andere durch Impfungen vermeidbare Erkrankungen wie Masern, Gelbfieber, Lassa-Fieber oder Meningitis gehen. Bereits in der Vergangenheit haben die GPEI-Akteure das gesamte Netzwerk zur Bekämpfung anderer Krankheitsausbrüche genutzt, etwa bei Ebola und Masern.

„Die Prinzipien sind bei all diesen Ausbrüchen die gleichen“, bringt es Dr. Omotayo Bolu, Leiterin der Impfprogramme im Zentrum für Krankheitsüberwachung und Prävention (CDC) Nigeria, auf den Punkt. Die Trainingsprogramme, die die Mitarbeiter des CDC Nigeria durchlaufen, ließen sich eins zu eins auf andere Erkrankungen übertragen.

Aufklärungsarbeit: Frauen in der Stadt Kano erhalten Informationen über die Bedeutung von Impfungen. Oft sprechen religiöse Führer aus der Region bei diesen Veranstaltungen. Deren Wort hat Gewicht.

Auch das Geoinformationssystem (GIS) könne über Polio hinaus auf andere Bereiche ausgeweitet werden, sagt Dr. Fiona Braka, die bei der WHO Nigeria für das Erweiterte Programm zur Immunisierung (EPI) verantwortlich ist. Das 2012 in Nordnigeria eingeführte, durch die Gates-Stiftung finanzierte Informa­tionssystem ermöglicht es, Gemeinden exakt aufzunehmen, Updates einzuarbeiten und den Standort der Impfhelfer im Einsatz zu bestimmen. Jedes VCM-Team verfügt über ein GIS-fähiges Smartphone. Inzwischen sind 90 Prozent von ihnen auf dem Radar erfasst. Bis zum Ende des Jahres 2019 sollte Ngozi Nwosu, die „Übergangsfachfrau“, genau erfassen, wer innerhalb der GPEI-Struktur wo arbeitet, was er oder sie macht und verdient. Auf dieser Grundlage will die Regierung Nigerias entscheiden, welches Personal sie über die VCM-Struktur hinaus weiter beibehalten will und finanzieren kann.
 
Ramatu Abdullahi möchte ihre Arbeit in der Gemeinde auf jeden Fall fortsetzen – sei es als VCM oder als CHIPS-Agentin. Es ist fast elf Uhr, als sie eines der kleinen Steinhäuser betritt. Inzwischen sind es bereits 38 Grad im Schatten. In diesem Haus, sagt Ramatu, sei erst gestern ein Baby zur Welt gekommen, das siebte Kind der Familie. Lächelnd fügt sie hinzu: „Die Frauen hier brauchen mich. Sie brauchen die VCMs. Wir möchten unsere Arbeit fortsetzen.“

Martina Merten ist freie Fachjournalistin für Gesundheitspolitik. Die Recherche in Nigeria fand in Kooperation mit der WHO, UNICEF und Rotary International statt.
Bildnachweis: Andrew Esiebo