Ein Pieks für die Heilung oder Geldmacherei? Die langfristige Wirksamkeit von Zolgensma® ist noch ungeklärt.
Gentherapie

Geschäft mit der Hoffnung auf Heilung

Die Gentherapie mit Zolgensma® für 2,1 Millionen US-Dollar zur Behandlung schwerstkranker Kinder ist in Europa nicht zugelassen. Langfristige Wirksamkeit und Risiken sind noch ungeklärt. Dennoch läuft die Werbetrommel. Von Sabine Beckmann und Dr. Gerhard Schillinger

Gentherapien gelten als

neue mögliche Wunderwaffen gegen schwerste Erkrankungen. Das trifft auch auf die spinale Muskelatrophie (SMA) zu, einer Erkrankung mit unterschiedlich schwerer Ausprägung. Durch ein defektes Gen kommt es zu einer Schädigung von Rücken­markszellen und zu Muskelschwund, der zu Lähmungen führt. Am schwersten betroffen sind Kinder mit Typ 1, bei denen die Erkrankung schon vor der Geburt oder in den ersten drei Lebensmonaten auftritt. Unbehandelt sterben die meisten Kinder innerhalb der ersten beiden Lebensjahre. Diese Kinder können seit 2017 mit dem Medikament Spinraza® erfolgreich behandelt werden. Über eine Punktion der Wirbelsäule muss es regelmäßig in das Hirnwasser gespritzt werden. Mit Zolgensma®, der neuen Gentherapie von Novartis, wird in der öffentlichen Wahrnehmung die Hoffnung auf Heilung der betroffenen Babys ver­bunden.

In Europa noch nicht zugelassen.

Zolgensma® wurde im Mai 2019 in den USA zugelassen. Anschließend kam der Verdacht auf, dass der Hersteller manipulierte Testdaten verschwiegen und erst mit großer Verzögerung berichtet hat. Konsequenzen hat dies in den USA nicht nach sich gezogen. In Europa ist Zolgensma® noch nicht zugelassen. Dem Vernehmen nach hat der Hersteller Fragen der Europäischen Zulassungsbehörde EMA nicht oder nur verzögert beantwortet und muss daher in Europa auf die angestrebte beschleunigte Zulassung verzichten.

Arzneimittel vor ihrer Zulassung anzuwenden, muss auf Einzelfälle beschränkt bleiben.

Emotional aufgeladene Videos auf der US-amerikanischen Seite des Herstellers schüren die Hoffnung unter betroffenen Eltern auf eine mögliche Heilung ihrer kleinen Kinder durch eine einmalige Behandlung. Über einen Anwalt und unterstützt durch eine weitgehend un­kritische Medienberichterstattung haben zahlreiche Eltern versucht, für ihre Kinder eine vorzeitige Behandlung mit Zolgensma® bei den Krankenkassen durchzusetzen.

Schnelligkeit vor Sicherheit?

Was bei dieser Euphorie unberücksichtigt blieb: Es gibt mit Spinraza® bereits seit 2017 eine zugelassene Behandlungsoption für die spinale Muskelatrophie. Über die mittel- und langfristigen Wirkungen und Nebenwirkungen der Gentherapie mit Zolgensma® gibt es hingegen noch keine Erkenntnisse. Der Hersteller hatte zudem den Vorschlag der US-amerikanischen Zulassungsbehörde nicht umgesetzt, das Produkt gegen die schon etablierte Behandlung mit Spinraza® zu testen. In den USA wurde die Therapie auf Basis einer Fallserie mit 15 Kindern zugelassen, inzwischen liegt eine weitere Studie mit 21 Kindern vor. Die Gentherapie wird den Kindern intravenös gegeben – einmal in die Blutbahn injiziert, sind die Wirkungen auf den kleinen Körper nicht mehr umkehrbar. Eine Studie, bei der die Gentherapie direkt in den Wirbelkanal gespritzt wird, ist aufgrund von Neben­wirkungen aus Tierversuchen gestoppt worden.

Wirksamkeit ungeklärt.

Ob die Therapie mit Zolgensma® tatsächlich langfristig wirksam ist und welche Nebenwirkungen sie mit sich bringt – all das ist bislang völlig unklar. Fakt ist: Bereits nach einem Jahr sind nach FDA-Protokollen drei der 15 Kinder aus dieser ersten Fallserie zusätzlich mit Spinraza® behandelt worden. Angesichts der bereits zugelassenen Therapieoption für die Erkrankung ist daher eine ausgesprochen hohe Sorgfalt bei der Zulassung von Zolgensma® berechtigt und dringend geboten.

Programm für Härtefälle auflegen.

Arzneimittel anzuwenden, bevor sie zugelassen sind, ist auf besondere Einzelfälle begrenzt. Insbesondere für die neuartigen, aber auch für alle weiteren Therapien, bei denen die Zulassungsentscheidung auf Basis kleiner Fallzahlen getroffen werden soll, sollte eine Anwendung vor der Zulassung nur unter Studienbedingungen stattfinden, bei denen weitere Daten zur Wirksamkeit und zu den Nebenwirkungen der Therapie gesammelt werden.

Hierzu wäre vom Hersteller ein entsprechendes Härtefall-Programm („Compassionate Use-Programm“) aufzulegen. Damit ließen sich besondere Härten von Patienten ohne wirksame Behandlungsalternative bis zum Abschluss der Zulassungsentscheidungen auffangen und zugleich das dringend notwendige Mehr an Wissen über die neuen Therapien generieren.

Verlosung ethisch fragwürdig.

Novartis will sich jedoch dieser Verantwortung nicht stellen. Zuletzt hat das Unternehmen nach langem Zögern eine weltweite Verlosung einer begrenzten Zahl von Anwendungen angekündigt. Die geplante, ethisch höchst fragwürdige Behandlungslotterie stieß auf massive Kritik. Novartis zeigte sich davon jedoch unbeeindruckt. Das Unternehmen will offenbar die Chance nutzen, vor der europä­ischen Zulassung von Zolgensma® die für den Kauf von AveXis (siehe unten) investierten 8,7 Milliarden US-Dollar vorzeitig wieder einzuspielen. Gefordert wären regulär für jede Anwendung 2,1 Millionen US-Dollar plus Umsatzsteuer. Novartis gesteht ein, dass sich dieser exorbitante Preis nicht über Forschungskosten rechtfertige, sondern den „Wert der Therapie“ widerspiegele. Das Unternehmen setzt demnach auf den Geldbeutel der Solidargemeinschaft und die emotionale Wirkung schwerstkranker Babys.

Entwicklung öffentlich finanziert.

Dabei ist die Entwicklung von Zolgensma® maßgeblich durch öffentliche Forschungsgelder und Spenden ermöglicht worden. Nachdem der für SMA verantwortliche Gendefekt identifiziert war, gelang den Arbeitsgruppen am All Children Hospital in Philadelphia und einer Arbeitsgruppe in Paris der Durchbruch mit einer Gentherapie, bei der ein gesundes SMN1-Gen mithilfe eines Adenoviralen Vektors (AAV9) in die Zellen des Rückenmarks eingebracht wird.

Dieser Adenovirale Vektor hat Genethon in Paris entwickelt, eine durch Spenden gegründete und finanzierte Forschungseinrichtung, die der Universität von Philadelphia und der 2010 erfolgten Ausgründung AveXis die Lizenz zur Verwendung dieses AAV9 für die SMA-Behandlung erteilte.

Die Entwicklung der Gentherapie und die erste klinische Studie mit 15 betroffenen Kindern, die zur Zulassung in den USA führte, sind durch Forschungsgelder unter anderem des National Institutes of Health (USA), des National Institute of Neurological Disorders and Stroke sowie durch Spendengelder finanziert worden. 2016 ging AveXis an die Börse und erzielte im April 2016 für die ausgegebenen 4,25 Millionen Anteile 85 Millionen US-Dollar. Im April 2018 kaufte Novartis AveXis für 8,7 Milliarden US-Dollar.

Für den immensen Gewinn, den die Investoren von AveXis erzielt haben, soll nun das Medikament Zolgensma® nur denen zur Verfügung stehen, die die Millionen-teure Therapie finanzieren können. Denn in den meisten Ländern der Welt werden die Gesundheitssysteme dieses Medikament nicht bezahlen können, und die dort lebenden betroffenen Kinder sind von der Behandlung ausgeschlossen. Das war nicht das Ziel der Spender, die die Entwicklung möglich gemacht haben.

Zolgensma® als Blaupause?

Das Beispiel Zolgensma® zeigt, dass Hersteller auf Basis der Not und der Hoffnungen von Patienten völlig ungeregelt mit einem noch nicht zugelassenen Arzneimittel Geld verdienen wollen. Dass dieses Beispiel Schule machen dürfte, ist zu er­warten. Es wird offenbar als lohnenswert erachtet, möglichst frühzeitig die Werbetrommel für eine neue Therapie zu rühren. So hat beispielsweise der Tagesspiegel im November 2019 berichtet, dass erstmals zwei Patienten mit unterschiedlich genetisch bedingten Blutkrankheiten erfolgreich mit der Gen-Schere CRISPR/Cas9 behandelt worden seien (siehe Lese- und Webtipps). Danach ist die Studie, in deren Rahmen die Behandlungen stattgefunden haben, noch nicht einmal abgeschlossen. Eine unabhängige Überprüfung der Ergebnisse steht noch aus. Die Information der Medien ist damit gerechtfertigt worden, dass man frühzeitig „Klarheit“ zum möglichen Stellenwert der neuen Therapie schaffen wolle. Dass über solche Be­richte schwerkranke Patienten direkt angesprochen werden und damit ein Nachfragesog entsteht, dürfte auf der Hand liegen.

Patienten vor Risiken schützen.

An­gesichts der sehr kurzen Entwicklungszyklen und der unkalkulierbaren Risiken von neuen Gentherapien und den übergroßen Hoffnungen, die schwerkranke Patienten damit verbinden, ist daher die gesetzliche Implementierung eines verpflichtenden Härtefall-Programms zulasten der Hersteller dringend erforderlich. Das bietet die Chance auf einen weiteren Erkenntnisgewinn zu Nutzen und Risiken der neuen Therapien. Außerdem schützt es Ärzte vor unkalkulier­baren Haftung­risiken und nicht zuletzt die Patienten.

Die Anwendung einer neuartigen Therapie vor Zulassung darf nicht Teil einer Profitstrategie von pharmazeutischen Herstellern werden. Dies würde alles, was bei der Sicherheit von Arzneimitteln seit dem Contergan-Skandal erreicht wurde, wieder zunichte machen.

Sabine Beckmann leitet die Abteilung Arzneimittel in der Geschäftsführungseinheit Versorgung im AOK-Bundesverband.
Gerhard Schillinger ist Leiter des Stabs Medizin im AOK-Bundesverband.
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