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Gutachten für die Schublade?

Auftrag erfüllt: Die von Union und SPD eingesetzte wissenschaftliche Kommission hat Empfehlungen für die künftige Vergütung ambulanter ärztlicher Leistungen vorgelegt. Ob der Expertise politische Taten folgen, steht in den Sternen. Von Prof. Dr. Klaus Jacobs

Die von der Politik

im August 2018 eingesetzte Wissenschaftliche Kommission für ein modernes Vergütungssystem (KOMV) empfiehlt eine „partielle Harmonisierung“ der zwei eigenständigen Vergütungssysteme in der vertragsärztlichen Versorgung der gesetzlich Versicherten auf der einen sowie der privatärztlichen Versorgung auf der anderen Seite. Bestimmte Elemente beider Vergütungssysteme sollten künftig einheitlich sein, speziell die Definition der ärztlichen Leistungen, die Kostenbewertung der Leistungen sowie bestimmte Mindestqualitätsstandards. Die Preise sollten hingegen in getrennten Verhandlungsregimen ermittelt werden, die auch Raum für weitere systemspezifische Steuerungsinstrumente bieten. Das betrifft in der vertragsärztlichen Versorgung etwa Fragen der Pauschalierung, Budgetierung und regionalen Differenzierung, aber auch weitergehende Qualitätsanforderungen.

Hohen Aufwand betrieben.

Der mit der Erstellung des Gutachtens verbundene Aufwand war nicht gerade gering. So hatte die Kommission 13 Mitglieder, also fast doppelt so viele wie der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (SVR Gesundheit), sowie eine eigene Geschäftsstelle. Hat sich dieser Aufwand wenigstens gelohnt? Diese Frage lässt sich nicht rundweg positiv beantworten. Dabei trägt die Kommission selbst die geringste Schuld an dieser Einschätzung. Denn sie hat im Prinzip keinen schlechten Job gemacht. Für den Inhalt ihres Auftrags und den Hintergrund seines Zustandekommens trägt sie schließlich keine Verantwortung.

Hinsichtlich ihres politischen Auftrags hat die Kommission keinen schlechten Job gemacht.

Erinnern wir uns. Die SPD tritt seit längerer Zeit für eine Bürgerversicherung ein. Dieser Begriff steht gemeinhin für ein einheitliches Krankenversicherungssystem, in dem alle Versicherten gemäß ihrer ökonomischen Leistungsfähigkeit an der solidarischen Finanzierung des Krankenversicherungsschutzes beteiligt sind. Dies würde zugleich das Ende der heutigen Dualität von gesetzlicher und privater Krankenversicherung (GKV und PKV) bedeuten, bei der ausgerechnet die im Durchschnitt vergleichsweise gutverdienenden Privatversicherten keinen Solidarbeitrag leisten.

Zweiklassen-Medizin im Blickfeld.

Doch die Unionsparteien wollen keine Bürgerversicherung. Also definierte Professor Karl Lauterbach, Chefverhandler der SPD für den gesundheitspolitischen Teil des Koalitionsvertrags von 2018, deren Fokus neu. Anstelle der Stärkung der solidarischen Finanzierung rückte er das Ende der vermeintlichen Zwei-Klassen-Medizin in den Vordergrund, die nach seiner Lesart in einer bevorzugten Behandlung von Privatpatienten besteht. Damit sei es bei einer einheitlichen Honorierung der Ärzte aber vorbei. Weil die PKV dann für Ärzte keinen Vorteil mehr biete, sei zugleich ein wichtiger Schritt in Richtung Bürgerversicherung getan.

Ob außer Karl Lauterbach noch jemand diese Überlegung teilt, ist nicht bekannt. Auf jeden Fall ist sie der zentrale Hintergrund für die Vereinbarung im Koalitionsvertrag, eine Kommission einzusetzen, die Vorschläge für ein modernes Vergütungssystem vorlegen soll.

Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Wirtschaftsweise) hatte bereits in seinem Jahresgutachten 2004/2005 festgestellt: „Durch die Segmentierung des Krankenversicherungsmarktes und die unterschiedlichen Honorierungssysteme leidet (…) die Behandlungsqualität und die Effizienz der Leistungserstellung: Ärzte werden nicht gemäß ihren Fähigkeiten und den medizinischen Erfordernissen eingesetzt, sondern gemäß der Versicherungszugehörigkeit der Patienten. Es kommt zu einer Fehlallokation von knappen Ressourcen und zu Qualitätsdefiziten, die bei einer einheitlichen Honorierung auf einem einheitlichen Markt in geringerem Maße auftreten würden.“

Quelle: Jahresgutachten 2004/2005 der Wirtschaftsweisen, Seite 389. Download

Warum macht es Sinn, hieran zu erinnern? Karl Lauterbach spielt seit seinem Rücktritt als stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion keine wichtige Rolle mehr. Die Aussage von Jens Spahn bei der Entgegennahme des Gutachtens, man werde „gemeinsam mit dem Koalitionspartner entscheiden, ob und wie wir mit den Vorschlägen umgehen wollen“, lässt sich deshalb getrost mit „Schublade“ übersetzen.

Der zweite Grund für die Einschätzung, dass sich der Aufwand für das KOMV-Gutachten eher nicht gelohnt hat, ist inhaltlicher Natur und wiegt schwerer. So ist die Modernisierung des Vergütungssystems in der ambulanten ärztlichen Versorgung gar keine prioritäre Reformaufgabe. Viel wichtiger wäre es, das Versicherungs- und das Versorgungssystem zu modernisieren. Dies hätte natürlich jeweils auch Konsequenzen für die Vergütung der Ärzte.

Dualität ist überholt.

Stichwort Versicherungssystem: Das Nebeneinander von GKV und PKV ist europaweit einmalig. Wie im einleitenden „Geschichtskapitel“ des KOMV-Gutachtens dargestellt, erfolgte die Festschreibung der endgültigen Aufteilung in GKV und PKV mit der Reichsversicherungsordnung 1911, also im Kaiserreich. Der Grundstein für das heutige duale Krankenversicherungssystem wurde per Gesetz und Verordnung 1934 und 1937 gelegt, also während des Nationalsozialismus.

Welche Ärzte sich wo niederlassen, hängt auch mit dem dualen Versicherungssystem zusammen.

Schon diese historischen Daten sollten Zweifel aufkommen lassen, ob der Status quo heute noch zeitgemäß ist – modern ist er wohl kaum. Dass es keine ökonomische Begründung für das Nebeneinander von GKV und PKV gibt, hat der Sachverständigenrat für die Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung bereits 2004 festgestellt (siehe Kasten „Wirtschaftsweise: Zweiteilung geht zulasten der Versorgungsqualität“). Was dagegen im KOMV-Gutachten zum vermeintlichen „Systemwettbewerb“ ausgeführt wird, ist erkennbar durch Konsensstreben der Gutachter geprägt. Dabei werden auch eigene Ergebnisse ignoriert. So werden die Standort- und Fachgebiets-Entscheidungen von Ärzten sehr wohl durch die Systemdualität beeinflusst und wirken sich speziell auf die Versorgung im ländlichen Raum wenig vorteilhaft aus. Doch selbst wenn es positive Wirkungen des behaupteten „vergleichenden Systemwettbewerbs“ gäbe, müssten sie dem weit größeren Wettbewerbspotenzial eines ungeteilten Versicherungsmarkts gegenübergestellt werden.

Neue Versorgungsmodelle gefragt.

Stichwort Versorgungssystem: Mit Analysen zu den nachteiligen Wirkungen des sektoralen Zuschnitts der Gesundheitsversorgung lassen sich mittlerweile Bibliotheken füllen, nicht zuletzt mit den zahlreichen Gutachten des SVR Gesundheit. Das ambulant-ärztliche Vergütungssystem gemäß KOMV-Auftrag hat mit der Ausgestaltung patientenorientierter Versorgungsformen aber bestenfalls am Rande zu tun. In unserer „Gesellschaft des längeren Lebens“ (Sondergutachten 2009 des SVR Gesundheit; siehe Lese- und Webtipps) mit immer mehr chronisch und mehrfach erkrankten sowie oftmals auch pflegebedürftigen Menschen sind neue Versorgungsmodelle gefragt, die jedoch durch den sektoralen Status quo massiv behindert werden. Vom Patienten her gedachte Modelle zeichnen sich etwa durch nachhaltige transsektorale Vernetzung und Integration, durch eine zweckmäßige Arbeitsteilung zwischen ärztlichen und nichtärztlichen Gesundheitsberufen sowie durch die Sicherung von Qualität und Wirtschaftlichkeit des gesamten Versorgungsgeschehens aus. Dabei werden sie gezielt unterstützt durch immer neue medizinische und technische Möglichkeiten. Bundesweite Einheitslösungen sind dabei allerdings kaum sinnvoll. Vielmehr gilt es, den jeweiligen Bedingungen vor Ort flexibel gerecht zu werden.

Kassen steuern durch Verträge.

Anstatt Fragen wie diesen nachzugehen – dazu gehört natürlich auch immer eine zweckmäßige Vergütung – befassen sich im Auftrag der Bundesregierung die 13 hochqualifizierten Wissenschaftler mit rein ambulant-ärztlichen Vergütungssystemen, die in ihrem Kern nach wie vor beim einzelnen Arzt ansetzen. Hieran ist nichts „modern“.

Nicht hinterfragt wird im Kontext der GKV-Versorgung auch die Rolle der Kassenärztlichen Vereinigungen, die sich laut „Geschichtskapitel“ des KOMV-Gutachtens im Jahr 1931 im Rahmen der Notverordnungsgesetze als Körperschaften des öffentlichen Rechts konstituierten, mitsamt kollektiv ausgehandelten Gesamtvergütungen sowie „im Benehmen mit den Krankenkassen“ erstellten Honorarverteilungsmaßstäben. Auch hier stellt sich die Frage: Ist das heute noch zeitgemäß? Bräuchten wir nicht viel eher dezentrale und flexible Versorgungs-, Vertrags- und Vergütungslösungen als ein – zudem strikt sektoral zugeschnittenes – Einheits(preis)system? Im Unterschied zur weithin steuerungsunfähigen PKV verfügt die GKV doch schließlich über (kollektive und selektive) Vertragsinstrumente, mit denen die Versorgung viel gezielter gesteuert und die Vergütung viel differenzierter vereinbart werden kann. Aber vielleicht gibt es hierzu demnächst ja ein neues Gutachten, zum Beispiel bei einer anderen Regierungskonstellation.

Klaus Jacobs ist Geschäftsführer des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO).
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