Infektionen

Debatte: Impfen ist Opfer des eigenen Erfolgs

Krankheiten wie Masern oder Röteln haben durch das Impfen ihren Schrecken verloren. Mit dem Erfolg wachsen die Vorbehalte vor der Immunisierung. Ärzte sollten die Zweifel ernst nehmen und geduldig entkräften, meinen Dr. Thomas Schmitz und Sven Siebert.

Impfen ist eine der größten Errungenschaften

der Menschheit. Es hat entscheidend dazu beigetragen, dass die uralte Angst vor tödlichen Infektionskrankheiten in unserer Gesellschaft so gut wie verschwunden ist. Das neuartige Coronavirus zeigt, wie schnell diese Angst zurückkehren kann. Impfen ist aber für viele Menschen zugleich eine unheimliche Angelegenheit. Wieso bekommt man eine Spritze, obwohl man gar nicht krank ist? Was geht in mir vor, wenn mir diese unbekannte Substanz injiziert wird? Der Mensch hat immer Vorbehalte gegen schmerzhafte Maßnahmen, gerade wenn diese sich gegen mehr oder weniger vage Gefahren in der Zukunft richten. Und je länger die Zeit der großen Epidemien und die Erfahrung ernsthafter Erkrankungen zurückliegen, desto weniger dringlich erscheint eine solche Vorbeugung.

Eltern wollen selbst entscheiden.

Was ist eigentlich Diphtherie? Wer ist schon einmal einem Poliokranken begegnet? Wann hatte in unserer Umgebung jemand die Masern? Der Erfolg des Impfens gefährdet paradoxerweise seine Akzeptanz. Hinzu kommt, dass gerade aufgeklärte Menschen nicht jeden offiziellen Gesundheitsratschlag kritiklos hinnehmen. Viele junge Eltern wollen die wichtigen Entscheidungen für die Entwicklung ihrer Kinder selbst treffen, und nicht staatlichen Institutionen, „Halbgöttern in Weiß“ oder einem Gesundheitssystem überlassen, das vielfach in die Kritik geraten ist.

Das Wissen um den Gemeinschaftsschutz erhöht die Impfbereitschaft.

Wer im Netz nach dem Stichwort Impfen sucht, gerät unweigerlich auf Seiten, auf denen vor den Nebenwirkungen des Impfens gewarnt wird. Impfen verursache Allergien, mache Kinder krank oder dumm, sei die Ursache von Autismus – oder überhaupt nur eine Erfindung der Pharmaindustrie, die gemeinsam mit Regierungen, Wissenschaftlern und Ärzten uns krank und sich reich machen wolle. Wir wissen, dass das Quatsch ist. Die Behauptungen sind widerlegt oder es gibt für sie keinerlei Evidenz. Sie sind nur durch Verleugnung von Tatsachen aufrecht zu halten. Aber nicht für jeden ist das sofort zu erkennen. Manches klingt zunächst vielleicht ganz plausibel.

Das Risiko lokaler Krankheitsausbrüche wächst.

Wer nach Li­teratur übers Impfen sucht, findet praktisch ausschließlich impfkritische Literatur, die sich allerdings oft als aufklärerisch, abwägend und unvoreingenommen tarnt und ihre Empfehlungen „individuell“ und „maßvoll“ nennt. Wir beobachten, dass gerade in wirtschaftlich gut gestellten Regionen mit einer überdurchschnittlich gebildeten Bevölkerung die Impf-Quoten besonders niedrig sind. Damit wächst das Risiko von (lokalen) Krankheitsausbrüchen, wie wir sie beispielsweise bei Masern in den vergangenen Jahren wiederholt erlebt haben.
 
Der Verzicht auf Impfungen gefährdet aber auch den Schutz derjenigen, die sich nicht oder noch nicht schützen können. Die sogenannte Herdenimmunität, die Neugeborene, Schwangere oder Menschen, die aus medizinischen Gründen nicht geimpft werden können, vor Infektionen bewahrt, lässt nach. Das Wissen um diesen Gemeinschaftsschutz, um die Verantwortung, die der Einzelne nicht nur für sich und seine Kinder, sondern auch für ungeschützte Andere trägt, erhöht die Impfbereitschaft.

Dr. Thomas Schmitz, Sven Siebert: Klartext: Impfen! – Ein Aufklärungsbuch zum Schutz unserer Gesundheit. Harper Collins, 2019.

Diese Erkenntnis ist auch wichtig für die ärztliche Praxis, für das Patientengespräch. Ebenso wichtig ist es, ein Bewusstsein für die konkrete Bedrohung durch Infektionskrankheiten zu schaffen. Klarzumachen, dass Diphtherie und Tetanus keineswegs verschwunden sind. Dass Masern, Mumps und Röteln keine harmlosen „Kinderkrankheiten“, sondern ernste Infektionen mit keineswegs seltenen Komplikationen sind. Auch zunächst verunsicherte junge Eltern können das durchaus nachvollziehen und lassen sich vom Nutzen der Impfungen überzeugen.

Zeit für Aufklärung nehmen.

Überzeugte Impfgegner bilden in unserer Gesellschaft immer noch eine kleine Minderheit. Es ist deswegen wichtig, die Fragen und Zweifel von Patientinnen und Patienten ernst zu nehmen. Es ist im Alltag von Ärztinnen und Ärzten nicht immer einfach, genügend Zeit für die Erklärung eines Themas zu finden, das einem zudem selbst so eindeutig erscheint. Aber die meisten Eltern sind dankbar für verständliche und verlässliche Aufklärung. Wer auf die Zweifel der Patienten ungeduldig reagiert, treibt sie eher in die Hände von Kollegen, die das Impfen kritisch sehen oder ablehnen. Dort fühlen sich zweifelnde Eltern dann verstanden – allerdings um den Preis medizinischen Rückschritts.

Thomas Schmitz ist Facharzt für Kinder- und Jugendheilkunde und Neonatologe.
Sven Siebert ist Wissenschaftsjournalist und Biologe.
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