Interview

„Patientensteuerung bringt Vorteile“

Vom US-amerikanischen Gesundheitswesen können wir Deutsche noch einiges lernen, findet Gesundheitsökonom Prof. Dr. Jonas Schreyögg. Vor allem was die integrierte Versorgung angeht.

Herr Professor Schreyögg, wodurch zeichnet sich die Integrierte Versorgung in den Vereinigten Staaten aus?

Jonas Schreyögg: Es gibt in den USA sehr unterschiedliche Ausgestaltungen der Integrierten Versorgung, doch eines ist allen Modellen gemeinsam: Die Patienten werden durch das Gesundheitssystem gesteuert. Weil wir es dort mit einer stark fragmentierten Versorgungslandschaft zu tun haben, macht die Patientensteuerung umso mehr Sinn.

Porträt von Jonas Schreyögg, Gesundheitsökonom und Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen

Zur Person

Prof. Dr. Jonas Schreyögg ist Gesundheitsökonom und Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen.

Können Sie beispielhaft zwei Modelle der Integrierten Versorgung skizzieren?

Schreyögg: Zum einen gibt es vollintegrierte Managed-Care-Organisationen wie zum Beispiel Kaiser Permanente. Kaiser ist nicht nur der Versicherer, sondern bietet auch selber Gesundheitsleistungen an. Dabei sind alle beteiligten Leistungserbringer – im ambulanten wie im stationären Sektor – vollintegriert, also miteinander vernetzt. Zum anderen gibt es sogenannte Accountable Care Organizations – kurz ACOs –, die erst in den letzten Jahren entstanden sind. ACOs sind Zusammenschlüsse von Leistungserbringern aus beiden Sektoren. In solchen Kooperativen verpflichten sich verschiedene ambulante und stationäre Leistungserbringer gemeinsam gegenüber einer Versicherung, die Gesundheitsversorgung für eine bestimmte Patientenpopulation zu übernehmen. Dabei entscheidet vor allem die Versorgungsqualität über die Höhe der Zahlung. Die Qualität der medizinischen Versorgung können die Versicherer anhand verschiedener vorab definierter Leistungskennzahlen und Qualitätsindikatoren messen.

Welche Vorteile ergeben sich dadurch für die Patienten?

Schreyögg: Gerade für chronisch Kranke bringt die Patientensteuerung innerhalb eines Integrierten Systems große Vorteile. Die Qualität der medizinischen Versorgung wird durch die Steuerung messbar besser. Das zeigen Studien der Veterans Health Administration, einem anderen großen Anbieter der vollintegrierten Versorgung.

Wo liegen in Bezug auf die Integrierte Versorgung die Hauptunterschiede zwischen dem US-amerikanischen und dem deutschen System?

Schreyögg: Integrierte Versorgung findet in Deutschland überwiegend zwischen ambulanten Leistungserbringern statt. In den amerikanischen ACOs wird hingegen vertikal integriert, also ambulant und stationär. Ein weiterer bedeutender Unterschied ist, dass in den ACOs die Leistungserbringer für die Behandlung ihrer Patienten das volle finanzielle Risiko übernehmen. Das ist hierzulande nicht der Fall. In Deutschland vergüten die Kassen in der Regel jede Handlung beziehungsweise jede Behandlungsepisode einzeln – völlig unabhängig von der erbrachten Qualität. Von der qualitätsbasierten Bezahlung könnten wir in Deutschland noch sehr viel lernen. Dass eine Krankenversicherung auch gleichzeitig die Gesundheitsleistungen erbringt und die Leistungserbringer steuert, ist ein weiterer Unterschied. Eine solche Kombination wäre in unserem System derzeit gar nicht möglich, mit Ausnahme der Bundesknappschaft.

Was lässt sich in Deutschland umsetzen und was nicht?

Schreyögg: In Deutschland ein vollintegriertes System zu etablieren wie Kaiser Permanente, gibt unsere derzeitige Regulierung auch nicht im Ansatz her. Die ACOs hingegen könnten für uns als Vorbild sehr interessant sein. Um integrierte Versorgung in Deutschland voranzubringen, müssten die Krankenkassen die Treiberfunktion übernehmen. Aber so, wie der Kassenwettbewerb vom Gesetzgeber derzeit ausgerichtet ist, lohnt es sich für die Kassen schlicht und ergreifend nicht, sich hier zu engagieren. Es bringt sogar mitunter Nachteile für sie. Das ist aus meiner Sicht das Grundproblem.

Karola Schulte führte das Interview. Sie ist Chefredakteurin der G+G.
Bildnachweis: privat