Interview

„Bei der Zuckersteuer von anderen Staaten lernen“

Fettleibigkeit, Diabetes, Karies: Ein hoher Zuckerkonsum kann krank machen. Eine Steuer kann den Verbrauch eindämmen. Das zeigen Erfahrungen aus anderen Ländern, wie Prof. Dr. Harald Jatzke, Vorsitzender Richter am Bundesfinanzhof, erläutert.

Herr Professor Jatzke, welche Erfahrung hat Deutschland historisch mit einer Zuckersteuer gemacht?

Harald Jatzke: Erstmals wurde 1841 eine Steuer auf Rübenzucker erhoben. 1923 wurde das Zuckersteuergesetz an die Vorgaben der Weimarer Reichsverfassung und der neuen Abgabenordnung angepasst. 1938 wurde die Zuckersteuer nochmals neu geregelt. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging dann die Kompetenz auf den Bund über. Von diesem Zeitpunkt an hat Deutschland bis 1993 eine Zuckersteuer als besondere Verbrauchsteuer erhoben. Besteuert wurden verschiedene Zuckerarten wie Rübenzucker, Invertzucker, Stärkezucker, Fruchtzucker und die Isoglucose. Die Steuer wurde auf jeden Zucker erhoben, der in Deutschland hergestellt wurde. Die Hersteller waren die Steuerschuldner. Bei dem aus dem Ausland eingeführten Zucker wurde bei Waren wie Schokolade, feinen Backwaren und Marmelade der jeweilige Anteil besteuert.

Porträt von Prof. Dr. Harald Jatzke, Vorsitzenden Richter am Bundesfinanzhof

Zur Person

Prof. Dr. Harald Jatzke, geboren 1959, ist seit Januar 2004 Richter am Bundesfinanzhof. Im Jahr 2017 wurde er vom Bundespräsidenten zum Vorsitzenden Richter ernannt.  Jatzke ist Autor zahlreicher Publikationen zum Verbrauchsteuerrecht. Zudem ist er Honorarprofessor an der Eberhard Karls Universität Tübingen.

War mit den Einnahmen ein bestimmter Zweck verbunden?

Jatzke: Die Zuckersteuer war damals eine reine Fiskalzwecksteuer, die staatlichen Aufgaben dient. An eine Konsumlenkung wurde noch nicht gedacht. Mit einem geringen Aufkommen von zuletzt 160 Millionen D-Mark handelte es sich eher um eine Bagatellsteuer. Zum Vergleich: Bei der Mineralölsteuer betrug das Aufkommen 37 Milliarden D-Mark. Selbst die Branntweinsteuer brachte im Jahr 4,5 Milliarden Mark ein.

Warum wurde die Zuckersteuer 1993 abgeschafft?

Jatzke: Es gab mehrere Gründe: Zum einen trat am 1.1.1993 ein Richtlinienpaket der Europäischen Union in Kraft, das die besonderen Verbrauchsteuern in den Mitgliedsländern harmonisierte. Die Zuckersteuer wurde innerhalb der EU nicht harmonisiert, was ein Grund für die Abschaffung war. Dann trug natürlich auch das geringe Aufkommen zum Ende der Steuer bei. Nicht zuletzt befürchteten die deutschen Unternehmen Wettbewerbsverzerrungen, weil andere EU-Mitgliedsstaaten keine Zuckersteuer hatten.

Welche Bedingungen müssten erfüllt sein, um heute auf zuckerhaltige Getränke oder Lebensmittel eine Steuer einzuführen?

Jatzke: Eine solche Steuer könnte als besondere Verbrauchsteuer angelegt werden. Die Gesetzgebungskompetenz läge beim Bund. Ihm stände auch das Steueraufkommen zu 100 Prozent zu. Das ist anders als bei der Mehrwertsteuer, wo sich Bund und Länder die Einnahmen teilen. Für die Erhebung der Zuckersteuer wären nicht die Landessteuerverwaltungen zuständig, sondern zuständig wäre die Zollverwaltung des Bundes. Bei Beachtung dieser Kompetenzen könnte der Gesetzgeber ohne Weiteres wieder eine Zuckersteuer als besondere Verbrauchsteuer einführen.

Klingt einfach …

Jatzke: So einfach ist das nicht. Nehmen wir das Schicksal der Kernbrennstoffsteuer: Sie wurde auf Uran und Plutonium erhoben und vom Bund eingeführt, der die Erhebungs- und Gesetzgebungskompetenz beanspruchte. Dem ist das Bundesverfassungsgericht entgegengetreten und die Kernbrennstoffsteuer wurde dann wieder abgeschafft. Denn die Regierung hatte erwartet, dass die Kernbrennstoffsteuer nicht vom Verbraucher getragen wird, sondern vom Produzenten. Damit wandelte sich diese Steuer in eine Produktionssteuer und für eine solche hat der Bund keine Gesetzgebungskompetenz. Bei Einführung einer Zuckersteuer ist daher darauf zu achten, dass die Kriterien an eine besondere Verbrauchsteuer erfüllt sind.

Was gehört dazu?

Jatzke: Eigentlicher Belastungsträger ist der Verbraucher – also der Konsument, der die zuckerhaltigen Waren nachfragt. Die Steuer darf aber nur auf einer Stufe erhoben werden, in der Regel bei Herstellern oder Händlern. Nehmen wir als Beispiel die 2004 eingeführte Alkopopsteuer. Sie belastet Süßgetränke mit Alkoholgehalt. Für viele Jugendliche waren diese der Einstieg in einen verstärkten Alkoholkonsum. Das veranlasste die politischen Entscheidungsträger, eine Lenkungsabgabe einzuführen, um den Kauf von Alkopops einzuschränken. Genau genommen war es die erste rein gesundheitspolitisch motivierte Verbrauchsteuer in der Geschichte der Bundesrepublik. Steuerschuldner sind die Hersteller dieser Getränke oder die Einführer, die aus Drittstaaten diese Getränke nach Deutschland importieren. Das Aufkommen betrug 2005 rund zehn Millionen Euro. Inzwischen sind es nur noch rund eine Million Euro. Daraus lässt sich ableiten, dass nur noch ein Zehntel der Getränke auf dem Markt nachgefragt werden. Die Steuer zeigt also Wirkung.

Welchen Ansatz würden Sie bei einer Zuckersteuer favorisieren?

Jatzke: Die alte Zuckersteuer taugt als Vorbild aus meiner Sicht nicht. Bei ihr standen die Einnahmen im Vordergrund. Wenn man jetzt die Zuckersteuer als Lenkungssteuer begreift, dann sollten die Waren in den Blick genommen werden, die besonders viel Zucker enthalten. Das sind in erster Linie die süßen Getränke wie Limonaden oder auch stark zuckerhaltige Lebensmittel wie Schokolade, Speiseeis, Backwaren und Süßwaren jeglicher Art. Es wäre möglich, diese Produkte bei der Besteuerung punktgenau in den Blick zu nehmen. Denn das ist der Vorteil der besonderen Verbrauchsteuern. Es könnte theoretisch für jedes Produkt ein eigener Steuersatz festgelegt werden. Der könnte ausgerichtet sein am Zuckeranteil: je höher dieser ist, desto höher wird der Steuersatz. Ich würde die Abgabe also als mengenmäßige Steuer ausgestalten. Dagegen wären bei einer Anhebung des ermäßigten Umsatzsteuersatzes auf bestimmte Lebensmittel nach den unionsrechtlichen Vorgaben nur zwei ermäßigte Steuersätze möglich.

Gibt es verfassungsrechtliche Vorgaben?

Jatzke: Eine Lenkungsabgabe darf verfassungsrechtlich nicht so ausgestaltet sein, dass es praktisch unmöglich wird, eine Ware zu konsumieren oder zu besitzen und der Verbrauch gen Null geht. Es gibt in der deutschen Geschichte nur ein Beispiel für prohibitiv ausgestaltete und verfassungswidrige Steuern, nämlich Kampfhundesteuern in einigen Bundesländern, die so hoch waren, dass aufgrund ihres Verbotscharakters keiner mehr Kampfhunde gehalten hat. Als historisches Beispiel wird in der Literatur die Nachtigall-Steuer genannt, die Friedrich der Große eingeführt hat. Er hatte sich gewundert, warum im Park von Sanssouci abends keine Nachtigallen mehr sangen. Dann stellte sich heraus, dass die Bürger in Potsdam die Nachtigallen gefangen hatten und in Käfigen hielten. Das hat den König so geärgert, dass er auf das Halten von Nachtigallen eine Steuer einführte. Die Steuer war so hoch, dass sich kein Bürger mehr einen solchen Singvogel leisten konnte.

Welche Wirkung hätte eine solche Lenkungssteuer auf die Hersteller und ihre Produkte?

Jatzke: Wenn man die Steuersätze gestaffelt ausgestaltet, ist damit zu rechnen, dass die Hersteller bestrebt sind, ihr Produkt so günstig wie möglich anzubieten. Das hat sich bei der Zuckersteuer in Großbritannien gezeigt. Dort wurden zwei verschiedene Steuersätze eingeführt: Ein Steuersatz von 18 Pence bei Waren, die fünf Gramm Zucker je 100 Milliliter nicht überschreiten; und einen weiteren, wenn das Produkt mehr als acht Gramm Zucker pro 100 Milliliter enthält. Dann beträgt die Steuer 24 Pence. Das Resultat: Die Hersteller haben schon vor der Einführung der Steuer den Zuckergehalt in Getränken im Schnitt um zwei Gramm gesenkt, um in den ermäßigten Steuer­satz zu gelangen. Das ist ja eine eindeutige Lenkungswirkung. In Großbritannien wird jetzt sogar diskutiert, die Steuer auf die bisher ausgenommenen milchhaltigen Getränke auszudehnen.

„Es gibt einen Trend in Europa, gesundheitspolitisch motivierte Steuern zu erheben.“

Die Hersteller scheinen die britische Steuer zu akzeptieren …

Jatzke: Ja, das tun sie. Allerdings wird in Großbritannien der fehlende Zuckeranteil durch Süßstoff ersetzt. Da ist zu fragen, ob das der Zweck sein soll. Damit ein solches Ausweichverhalten nicht funktioniert, könnte die Steuer auf Zuckerersatzstoffe ausgedehnt werden. Dann liegt es beim Hersteller, Rezepturen zu erfinden, um den Geschmack beizubehalten, aber dennoch den Zuckeranteil zu reduzieren.

Wofür sollte aus Ihrer Sicht das Geld verwendet werden?

Jatzke: Bei der Alkopopsteuer werden mit den Einnahmen Maßnahmen zur Förderung der Suchtprävention finanziert. Und beim Zucker wissen wir, dass durch verstärkten Konsum Krankheiten wie Diabetes mellitus, Adipositas und Karies verursacht werden. Das sind drei Volkskrankheiten, die auch schon Jugendliche betreffen. Ich könnte mir vorstellen, das Geld für Präventionsprogramme zur Förderung von gesunder Ernährung zu verwenden. Die Jugendlichen könnten über die schädlichen Wirkungen eines hohen Zuckerkonsums aufgeklärt werden. Natürlich könnte auch die Bekämpfung der Folgen der Krankheiten ins Auge gefasst werden. Da ich Jurist und kein Politiker bin, möchte ich mich aber nicht auf eine Variante festlegen.

Inwieweit sind die bisherigen Einwände gegen eine Zuckersteuer seitens der Bundesregierung plausibel?

Jatzke: Die Regierung hat als Argument gegen die Zuckersteuer darauf hingewiesen, dass damit ein hoher Verwaltungs- und Kontrollaufwand verbunden wäre und dass insbesondere EU-rechtliche Vorgaben im Warenverkehr zwischen den Mitgliedsstaaten zu beachten wären. Nach meiner Auffassung stellt dies aber kein unüberwindbares Hindernis dar. Es muss natürlich das Unionsrecht beachtet werden. Dabei ist zwischen der Besteuerung von nichtalkoholischen Getränken und Lebensmitteln sowie alkoholischen Getränken zu differenzieren. Die Hürden für die Zuckerbesteuerung von alkoholischen Getränken sind etwas höher als bei der Besteuerung der anderen Waren. Einzige Voraussetzung zur Erhebung einer Zuckersteuer auf Schokolade, Speiseeis oder Limonaden ist, dass sie keine Grenzformalitäten erfordert. Der freie Warenverkehr darf nicht behindert werden. Ausgeschlossen sind zum Beispiel Grenzkontrollen. Bei den alkoholischen Getränken ist es erforderlich, dass der Mitgliedsstaat, der auf alkoholische Getränke eine Zusatzsteuer erhebt, besondere Zwecke damit verfolgt. Auch nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist dies notwendig. Diese Vorgaben haben die Alkopopsteuer aufgrund ihrer gesundheitsdienlichen Lenkungswirkung und der erhebungstechnischen Ausgestaltung nicht verhindert.

Welche Modelle gibt es in anderen Ländern?

Jatzke: Deutschland kann bei der Zuckersteuer von anderen Staaten lernen. In sechs EU-Ländern wurden schon Modelle eingeführt. Da ist zum Beispiel schon seit vielen Jahren Dänemark mit einer Steuer auf Schokoladenwaren, Getränke und Speiseeis. Finnland hat 2011 eine Steuer auf Zucker eingeführt, auf Süßwaren, Schokoladen und Getränke. Frankreich erhebt seit 2012 auf zuckerhaltige Getränke eine Steuer, Ungarn seit 2011 eine auf Süßwaren, Soft- und Energydrinks und Marmeladen. Das Vereinigte Königreich erhebt seit 2018 eine Abgabe auf zuckerhaltige Getränke. Irland hat hier gleichgezogen und zieht seit 2018 eine Steuer auf gesüßte Getränke ein. Diese sechs Staaten haben die Zuckersteuer als besondere Verbrauchsteuer ausgestaltet, die nur auf bestimmte Lebensmittel und Getränke erhoben wird. Das ist ein eindeutiger Trend zur Erhebung gesundheitspolitisch motivierter Steuern in Europa. Diese Staaten wenden zudem differenzierte Steuersätze an, je nach Warengruppe. Damit kann diese Steuer feinjustiert werden. Dann wird daraus keine Fiskalzwecksteuer, sondern eine gesundheitspolitische Lenkungsabgabe, die punktgenaue Wirkung entfaltet.

Wie ließe sich behutsam in eine Besteuerung von Zucker einsteigen?

Jatzke: Ich könnte mir vorstellen, einen Einstieg über süßhaltige Getränke zu finden, dass also zuerst Limonaden in den Blick genommen werden. Die Steuer könnte dann im Lichte der Erfahrungen auf andere Lebensmittel wie Schokolade, Backwaren, oder Speiseeis erweitert werden. Die Diskussion wird sicherlich in den nächsten Jahren an Fahrt gewinnen, weil viele Verbände die Einführung einer solchen Steuer fordern, darunter auch Ärzteorganisationen. Auch die Weltgesundheitsorganisation schlägt eine 20-prozentige Steuer vor und erwartet dadurch einen wesentlichen Rückgang des Zuckerkonsums.

Thorsten Severin führte das Interview Corona-bedingt telefonisch.
Oliver Weiss ist Illustrator und Designer.
Bildnachweis: privat