Interview

„Wir wollen Lebenszeit zurückgeben“

Krebspatientinnen verbringen während der Chemotherapie viele Stunden in unwirtlicher Klinikumgebung, weiß Tina Müller. Mit ihrer ehrenamtlichen Initiative Rosi will sie die Atmosphäre in den Chemo-Ambulanzen verbessern.

Frau Müller, wie ist die Idee zur Initiative Rosi für die Umgestaltung von Chemo-Ambulanzen entstanden?

Tina Müller: Meine Mutter ist 2009 an Krebs erkrankt. Ich habe sie häufig zur Chemotherapie begleitet. Dabei ist mir aufgefallen, dass die Räume sehr unwirtlich wirkten, und es teilweise wuselig und laut war. Zudem kamen die Patientinnen nur schwer an Informationen. Die Frauen verbringen bei einer Chemotherapie fast so viel Zeit in tristen Räumen wie andere am Schreibtisch. Dadurch geht ihnen kostbare Lebenszeit verloren. Sie sitzen stundenlang eng nebeneinander, teils auf unbequemen einfachen Stühlen, und haben in dieser schwierigen Phase weder Rückzugsmöglichkeiten noch Angebote, um sich auszutauschen. An diesem Zustand wollte ich etwas ändern und habe dafür Professor Dr. Jalid Sehouli von der Charité als Mitstreiter gewonnen. Die Initiative Rosi will zunächst in der Gynäkologie der Frauenklinik der Charité den Raum für die Chemotherapie erweitern und so gestalten, dass er nicht an ein Krankenhaus erinnert.

Tina Müller, Kommunikationsdesignerin mit eigener Markenagentur in Berlin

Zur Person

Tina Müller ist Kommunikationsdesignerin mit eigener Markenagentur in Berlin. Sie gründete die Initiative Rosi gemeinsam mit Prof. Dr. Jalid Sehouli, Direktor der Charité-Frauenklinik.

 Weitere Informationen über die Initiative

Wie sieht das konkret aus?

Müller: Zum einen geht es um räumliche Veränderungen. Dafür wird die Natur nach innen geholt: mit Holzelementen und warmen Farben, einem Licht- und Duftkonzept. Ganz wichtig ist die Akustik, denn der permanente Lärmpegel stört und verunsichert die Patientinnen. Gemütliche Sessel, Tablet-Computer und flexible Raumelemente, damit sich die Patientinnen zurückziehen können, gehören ebenfalls dazu. Außerdem wollen wir ein Programm entwickeln, das den Patientinnen hilft, die Krankheit zu verarbeiten und sich gegenseitig zu stärken. Denkbar sind Achtsamkeitstraining, Meditationsübungen, Lesungen, Coachings zum beruflichen Wiedereinstieg, Gesprächsrunden, Kosmetikkurse, Ernährungs- und Sprachkurse oder Kreativworkshops. Manches kann während der Chemotherapie stattfinden beziehungsweise direkt davor oder danach.

Inwiefern profitieren die Patientinnen davon?

Müller: Wir wollen Frauen Lebenszeit zurückgeben. Das Konzept soll positiv auf die Psyche wirken und damit die Genesung fördern. Wir wollen Hoffnung vermitteln und das Bewusstsein für den Augenblick stärken. Zum Weltfrauentag haben wir beispielsweise Notizbücher gestaltet, die inspirierende Fragen enthalten, mit denen sich Frauen während der Chemo beschäftigen können.

Das Konzept soll positiv auf die Psyche wirken und damit die Genesung fördern.

Wie weit ist Ihr Projekt gediehen?

Müller: Eine sechswöchige Crowdfunding-Kampagne im letzten Jahr erbrachte 90.000 Euro Spenden als Startfinanzierung für die Initiative. Für die weitere Umsetzung benötigen wir noch rund 300.000 Euro. Wir haben eine Aktiv-Lounge und einen Warteraum eingerichtet, bequeme Sessel angeschafft und WLAN bereitgestellt. Es gibt eine Patientenbibliothek und ein Vorleseangebot. Im Internet findet in einer Rosi-Community ein lebendiger Austausch statt. Die Kampagne wurde zum Sprachrohr betroffener Frauen, von denen sich viele für Rosi engagieren. Trotz Krebs und Chemotherapie können sie etwas beitragen und daraus Mut schöpfen.

Wie ließe sich das Projekt ausweiten?

Müller: Ziel sollte sein, dass die Ideen für patientenfreundliche Raumgestaltung schon in die Planung von Neu- und Umbauten von Kliniken einfließen.

Änne Töpfer führte das Interview. Sie ist verantwortliche Redakteurin der G+G.
Bildnachweis: DeboraMittelstaedt