Häusliche Pflege

Angehörige am Limit

Isoliert, überfordert, ohne Unterstützung: Pflegende Angehörige hatten unter den Schutzmaßnahmen zur Eindämmung der Pandemie besonders zu leiden. In der Öffentlichkeit fand das Thema allerdings kaum Aufmerksamkeit. Von Otmar Müller

Rund 3,7 Millionen Menschen

in Deutschland können ihren Alltag nicht mehr alleine bewältigen und erhalten Leistungen aus der Pflegeversicherung. Der größte Pflegedienst der Republik ist dabei die Familie: Fast drei Viertel der Pflegebedürftigen (2,8 Millionen) werden zu Hause von Angehörigen versorgt. Während etwa ein Drittel der pflegenden Angehörigen dabei die Hilfe eines Pflegedienstes in Anspruch nimmt, versorgen die meisten ihre Ehepartner, (Schwieger-)Eltern oder auch Kinder ganz allein.

„Diese Menschen meistern einen Alltag, der ohnehin schon kompliziert und belastend ist“, sagt Gabriele Tammen-Parr, die in Berlin die Beratungsstelle „Pflege in Not“ leitet (siehe Interview). Die mit der Corona-Pandemie einhergehenden Kontaktbeschränkungen und der Wegfall fast aller Unterstützungsmöglichkeiten hätten diese Menschen allerdings vor kaum zu bewältigende Herausforderungen gestellt. „Als Mitte März die Kontaktbeschränkungen griffen, haben wir unser Beratungsangebot umgehend ver­vielfacht. Die Anruferzahlen gingen sofort drastisch nach oben. Schnell wurde klar: Die Auswirkungen der Coronakrise sind im Bereich der häuslichen Pflege teilweise dramatisch“, so Tammen-Parr.  

Unterstützung bricht über Nacht weg.

Ob Tagespflege, Betreuungsgruppen, Einzelbetreuung oder Gesprächskreise – fast alle unterstützenden Angebote brachen quasi über Nacht weg. Stattdessen kamen bei vielen noch zusätzliche Aufgaben wie Home-Office und Home-Schooling hinzu. Die rund-um-die-Uhr-Pflege, oft unter Isolationsbedingungen, brachte viele Menschen an ihre Grenzen – und darüber hinaus.

Video-Interview: Wie die Corona-Pandemie das Leben von Pflegebedürftigen und ihren pflegenden Angehörigen verändert hat

„In den Beratungsgesprächen zeigte sich zudem, wie stark die Anrufer verunsichert waren“, erklärt Tammen-Parr: „Während die gesamte unterstützende Infrastruktur zusammenbrach, bestellten sie aus Angst vor dem Virus auch noch den ambulanten Pflegedienst ab.“ Alte Menschen, die ihren Ehepartner nun ganz alleine pflegten, seien am Telefon in Tränen ausgebrochen, weil sie das einfach nicht mehr leisten konnten. „Viele Anrufer waren völlig verzweifelt und sagten, dass sie nicht wüssten, wie es weitergehen soll“, so Tammen-Parr weiter.

Wertvolle Tipps am Telefon.

Coronabedingt musste auch die AOK unterstützende Angebote vorübergehend einstellen. „An 60 Standorten in unserer Region konnten Pflegekurse wegen der Kontaktbeschränkungen nicht stattfinden“, erklärt Dr. Katharina Graffmann-Weschke, Leiterin der Pflege Akademie der AOK Nordost. In den kostenlosen und kassen­unabhängig nutzbaren Kursen können sich pflegende Angehörige ein Grund­wissen zur häuslichen Pflege aneignen und sich wertvolle Praxistipps von Pflege­experten holen. Im Rahmen des AOK-Programms „Pflege in Familien fördern – PfiFf“ sind die Kurse ein wichtiger Baustein zur Unterstützung pflegender Angehöriger.

„Als klar war, dass die Pflegekurse vorläufig nicht mehr stattfinden können, haben wir schnell reagiert und stattdessen eine telefonische Anleitung rund um Pflegefragen angeboten“, sagt Graffmann-Weschke. Während die Betroffenen das telefonische Beratungs­angebot nur sporadisch nutzten, frequentierten sie dafür umso stärker die online verfügbaren Angebote, etwa die PfiFf-Pflegefilme der AOK.

Grafik: Jeder vierte pflegende Angehörige ist hoch belastet - Häusliche-Pflege-Skala mit Fragen zur seelischn und körperlichen Belastung

Eine aktuelle Online-Befragung von Forsa im Auftrag des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) belegt: Knapp 26 Prozent der pflegenden Angehörigen fühlen sich stark belastet. Bei Angehörigen, die Menschen mit Demenz versorgen, sind es sogar knapp 37 Prozent. Besonders belastet sind Pflegende, die Menschen mit sogenanntem „herausfordernden Verhalten“ betreuen.

Quelle: WIdO/Pflege-Report 2020

Hier können sich Interessierte zu den verschiedensten Bereichen der häuslichen Pflege in kurzen Filmbeiträgen ausführlich informieren –  zum Beispiel wie man das Wundliegen verhindert. „Bei diesen Filmen, die alle Inhalte der Pflegekurse in realistischen Szenarios wiedergeben, sind die Nutzerzahlen bei YouTube im April und Mai massiv gestiegen. Wir hatten über 40.000 Klicks in wenigen Wochen“, erklärt Akademieleiterin Graffmann-Weschke.

Digitaler Coach unterstützt Familien.

Ähnlich erfolgreich könnte auch der neue Familiencoach Pflege der AOK werden, an dessen Entwicklung sich die Pflege Akademie beteiligte. Das Ende Juni veröffentlichte Onlineprogramm ist ein kostenloses und für alle Interessierten anonym nutzbares Angebot, das die Psyche von pflegenden Angehörigen stärken und sie vor Überlastung schützen soll. Hintergrund: Aktuelle Ergebnisse einer repräsentativen Befragung des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) belegen, dass jede vierte Person, die einen Angehörigen zu Hause pflegt, durch die Pflege „hoch belastet“ ist (siehe Grafik). „Hier bietet unser neues Programm eine niedrigschwellige und jederzeit nutzbare Unterstützung“, sagt Martin Litsch, Vorstandsvorsitzender des AOK-Bundesverbandes.

Neue coronaspezifische Onlineangebote.

„Auch wenn wir den Familiencoach Pflege bereits vor der Corona-Pandemie planten, kann es jetzt für die pflegenden Angehörigen ein sehr wertvolles Instrument zur seelischen Entlastung sein“, sagt Graffmann-Weschke. Zusätzlich zu den bereits vorhandenen oder länger geplanten digitalen Angeboten hat die AOK Pflege Akademie aber auch sehr kurzfristig auf die Corona-Pandemie reagiert.

„Es gab zu Beginn natürlich keine Informationen, wie man unter den Bedingungen einer Pandemie die häusliche Pflege organisieren kann“, so die Akademieleiterin. Verschiedene Themenblätter informieren deshalb auf der PfiFf-Website in mehreren Sprachen über alles, was für pflegende Angehörige unter den aktuellen Coronabedingungen wichtig ist – beispielsweise, welche Schutzkleidung sinnvoll ist und wie man sie richtig nutzt. In der Rubrik Tipps & Tricks informiert die PfiFf-Seite zusätzlich über coronabedingte leistungsrechtliche Neuheiten. „Die Politik hat ja durchaus einige Erleichterungen auf den Weg gebracht“, erklärt Graffmann-Weschke.

Zusätzliches Geld für Pflegeleistungen.

So hat die Bundesregierung beispielsweise das Pflegeunterstützungsgeld verdoppelt: Wer pandemiebedingt Angehörige pflegt, kann nun bis zu 20 Arbeitstage statt bisher zehn frei nehmen und erhält für diese Zeit das Pflegeunterstützungsgeld (PUG) als Lohnersatzleistung. Zusätzlich hat der Gesetzgeber auch die Familienpflegezeit flexibilisiert. Dabei wurde auch die Ankündigungsfrist gegenüber dem Arbeitgeber von acht Wochen auf zehn Tage drastisch reduziert. Bei den Pflegehilfsmittel hat der Gesetzgeber die Pauschale von 40 auf 60 Euro erhöht.

„Auch wenn es für die pflegenden Angehörigen eine sehr schwere Zeit war und ist, habe ich das Gefühl, dass die meisten beeindruckend improvisiert haben und neue Wege gegangen sind, um sich Unterstützung zu organisieren“, resümiert Graffmann-­Weschke. „Ins­gesamt habe ich eine sehr große Hilfs­bereitschaft bei den Menschen wahrgenommen und einen großen Willen bei allen Akteuren – Politik, Pflegediensten, Kassen und pflegenden Angehörigen – die Krise möglichst unbürokratisch und sehr flexibel zu meistern.“

Interview
„Viele fühlten sich alleingelassen“

Im G+G-Interview mit Otmar Müller spricht Gabriele Tammen-Parr über die Folgen der Corona-Pandemie für pflegende Angehörige und mögliche Lösungsansätze.

Frau Tammen-Parr, Sie leiten in Berlin die Beratungsstelle „Pflege in Not“. Wie hat sich die Situation der pflegenden Angehörigen in der Coronakrise verändert?

Gabriele Tammen-Parr: Mit dem Lockdown fielen quasi von einem Tag auf den anderen fast alle Unterstützungsmöglichkeiten weg. Ohne Tagespflege, Betreuungsgruppen, Einzelbetreuung oder Gesprächsgruppen für pflegende Angehörige waren die Betroffenen vollkommen auf sich gestellt. Sie waren plötzlich auf engstem Raum mit den Pflegebedürftigen eingeschlossen, fühlten sich überfordert und alleingelassen. In unseren Beratungsgesprächen wurde klar, dass Groll und Wut aufeinander rasend schnell zunahmen – bis hin zur offenen Aggression und Gewalt.

Gabriele Tammen-Parr ist Leiterin der Berliner Beratungsstelle „Pflege in Not“. Sie ist Diplom-Sozialpädagogin, Ehe-, Familien- und Lebensberaterin sowie Mediatorin.

Welche Weichen muss die Politik jetzt stellen, damit es bei einer eventuellen zweiten Infektionswelle besser läuft?

Tammen-Parr: Für die Betroffenen wäre es eine große Hilfe, wenn in der Krise nicht abgerufene Gelder, etwa von der Tagespflege, den Pflegenden möglichst flexibel zur Verfügung gestellt werden könnten. Vor allen Dingen brauchen wir aber ein detailliert ausgearbeitetes Notprogramm, damit die Pflegenden zu Hause ab dem ersten Tag eines eventuellen neuen Lockdowns wissen, welche Unterstützung sie bekommen können. Dieses Programm müsste auch ein Besuchskonzept enthalten, unter welchen Bedingungen Menschen ihre Angehörigen im Pflegeheim besuchen können. Eine komplette Kontaktsperre sollte so nicht noch einmal passieren.   

Und was kann jeder Einzelne tun?

Tammen-Parr: Wenn in einem Haus Menschen leben, die auf Pflege angewiesen sind: Nehmen Sie Kontakt auf, lassen Sie Ihren Nachbarn nicht allein. Eine halbe Stunde Gespräch am Tag kann Wunder bewirken – ob am Telefon oder mit Abstand im Hausflur. Nachbarn könnten sich zusammentun, damit die Last auf mehrere Schultern verteilt wird. Weisen Sie dabei auch auf lokale Hilfsangebote hin, oft verlassen die Betroffenen kaum ihre Wohnung und wissen nichts von Nachbarschaftshilfen oder ähnlichem.

Otmar Müller ist freier Journalist und hat in Köln ein Medienbüro mit dem Schwerpunkt Gesundheitspolitik.
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