Interview

„Wir müssen in der Krebsprävention weiterkommen“

Jährlich rund 200.000 Menschen sterben in Deutschland an Krebs. Bis zu 75 Prozent dieser Todesfälle ließen sich durch die Kombination von Primärprävention und Früherkennung verhindern, meint Prof. Dr. Michael Baumann. Der Vorstandsvorsitzende des Deutschen Krebsforschungs­zentrums in Heidelberg will diese Potenziale heben.

Herr Professor Baumann, die Chancen stehen gut, den Krebs in zehn bis zwanzig Jahren besiegt zu haben – so eine Aussage von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn. Teilen Sie diesen Optimismus?

Michael Baumann: In der Erforschung und Behandlung von Krebserkrankungen gibt es viele Erfolge. Als Wissenschaftler bin ich mit einer Aussage, ob und wann der Krebs besiegt sein wird, allerdings sehr vorsichtig. Auf Basis epidemiologischer Daten können wir davon ausgehen, dass sich die Zahl der Krebserkrankungen in den nächsten zwanzig Jahren weltweit deutlich erhöhen, im Vergleich zu heute fast verdoppeln wird. In Deutschland liegt die Zahl der Neuerkrankungen aktuell bei etwa 500.000 im Jahr. Für 2030 rechnen wir bereits mit etwa 600.000. Wir brauchen also beides: verstärkte Forschungsaktivitäten und einen langen Atem.

Porträt von Michael  Baumann, Vorstandsvorsitzender und Wissenschaftlicher Stiftungsvorstand des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ)

Zur Person

Prof. Dr. Michael Baumann, Jahrgang 1962, ist seit 2016 Vorstandsvorsitzender und Wissenschaftlicher Stiftungsvorstand des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ), Heidelberg. Baumann ist Radioonkologe und Strahlenbiologe. Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen Arbeit ist die klinische Strahlenbiologie und experimentelle Strahlentherapie von Tumoren. Er hat maßgeblich dazu beigetragen, neue Erkenntnisse der Strahlenbiologie mit Technologien der Strahlentherapie zu verknüpfen.

Worauf ist die Zunahme der Krebsneuerkrankungen zurückzuführen?

Baumann: Zum einen nimmt die Weltbevölkerung zu – dadurch steigt auch die Zahl der Menschen mit Krankheiten. Gleichzeitig erhöht sich die Lebenserwartung, und damit wächst das Risiko, Krebs zu bekommen. Der dritte Grund sind ungesunde Lebensweisen, wie zum Beispiel das Rauchen, aber auch ungesunde Essgewohnheiten und Übergewicht, wenig Bewegung und vieles mehr. Wir gehen davon aus, dass bis zu 75 Prozent aller Krebstodesfälle durch die Kombination von Primärprävention und Früherkennung verhindert werden könnten. Und da stimme ich mit Herrn Spahn völlig überein: Wir müssen alles tun, um diese Potenziale zu heben.

Lungenkrebs gehört zu den häufigsten bösartigen Tumoren in Deutschland. Rauchen ist der Hauptrisikofaktor. Geht es also eher darum, in Prävention zu investieren, als immer neue Therapien zu erforschen?

Baumann: Sowohl als auch. Ich bin selbst Krebsarzt und habe viele Patienten mit Lungenkrebs behandelt. Diesen Menschen wollen wir eine gute Behandlung zukommen lassen, möglichst eine bessere, als in der Vergangenheit. Auf der anderen Seite müssen wir bei der Prävention vermeidbarer Krebserkrankungen weiterkommen. Das Deutsche Krebsforschungszentrum hat bereits 1997 eine Stabsstelle für Krebsprävention eingerichtet. Eine von deren Hauptaufgaben ist es, den Tabakkonsum zu reduzieren, die Politik und Öffentlichkeit zu beraten und den Nichtraucherschutz in Deutschland insgesamt zu verbessern. Da sind wir ein großes Stück weitergekommen. Trotzdem gehört Deutschland bei den Tabakkontrollmaßnahmen immer noch zu den Schlusslichtern in Europa, weil Tabakwerbung teilweise weiter erlaubt ist. Die Zahl der Raucher nimmt nicht weiter ab. Wir müssen neue Wege finden, um junge Leute davon abzuhalten, mit dem Rauchen zu beginnen und auch um sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen zu erreichen, deren Raucherquote höher ist.

Sie erforschen also die Möglichkeiten der Prävention?

Baumann: Die Prävention ist weltweit in der Forschung und Anwendung deutlich unterrepräsentiert. Deshalb haben wir vor zwei Jahren gemeinsam mit der Deutschen Krebshilfe beschlossen, das Nationale Zentrum für Krebsprävention aufzubauen. Wir wollen nicht nur intensiver zu Präventionsthemen forschen, sondern auch Präventionsansätze ins Gesundheitswesen bringen. Wir orientieren uns dabei am Konzept der Nationalen Centren für Tumorerkrankungen, die Forschung und Krankenversorgung so eng wie möglich verknüpfen. Mit diesem Konzept werden wir auch die Krebsprävention nach vorne bringen – mit längerem Atem, denn in der Prävention lassen messbare Erfolge oft Jahrzehnte auf sich warten.

Im DKFZ, gegründet 1964, erforschen rund 3.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in über 90 Abteilungen und Nachwuchsgruppen, wie Krebs entsteht und welche Faktoren das Krebsrisiko beeinflussen. Das DKFZ betreibt den Krebsinformationsdienst, der jährlich rund zehn Millionen Nutzern aktuelles Wissen, Hilfe und individuelle Beratung zur Bewältigung von Krebs bietet.
 

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Welche Datenbasis nutzen Sie für die Forschung an Ihrem Zentrum?

Baumann: Viele Daten erheben wir selbst, Daten aus unseren eigenen Laboratorien oder unserer Bildgebung. Wir führen selbst Studien in großen Gruppen von Menschen durch, um zum Beispiel zur Prävention oder zur Intervention bei bestimmten Erkrankungen neue Daten zu generieren. Wir arbeiten mit Kliniken zusammen und nutzen deren Daten. Wir nutzen epidemiologische Krebsregisterdaten zum Beispiel vom Robert Koch-Institut. Viele Registerdaten für die epidemiologische Forschung kommen auch aus dem Ausland. Deutschland ist nicht gerade bekannt als das Land mit den besten epidemiologischen Datensätzen für die Forschung. Da gibt es Luft nach oben.

Das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ) hat mehr als 50 Jahre Erfahrung. Wo sehen Sie die größten Erfolge der Arbeit des Zentrums?

Baumann: Zunächst einmal sind natürlich die beiden Nobelpreise an Harald zur Hausen und an Stefan Hell zu nennen. Am DKFZ sind sehr viele Methoden entwickelt worden, die weltweit genutzt werden. Wir sind im Bereich der Kinderonkologie, der Hirntumorforschung, der Tumorgenetik und Tumorstammzell-Forschung weltweit ganz vorne. Wir haben eine Vorreiterrolle in der Translationsforschung, also Erkenntnisse aus dem Labor in die Klinik zu bringen und aus der Klinik zurück ins Labor. Wir decken ein sehr breites Spektrum ab, aber wir können nicht alles erforschen – auch wenn wir mit 3.000 Mitarbeitern das größte Krebsforschungszentrum in Europa sind.

Worauf werden Sie sich in Zukunft konzentrieren?

Baumann: Zum einen werden wir weiter umfangreiche Grundlagenforschung betreiben. Sie ist der Motor für neue Entdeckungen, von denen einige für Patienten relevant werden können. Es gibt drei große Strategien, die man darauf aufbauen kann. Die eine ist Primärprävention. Wir hoffen zum Beispiel, dass wir weitere Impfungen gegen Krebs entwickeln können. Auch die Mikrobiomforschung ist für die Primärprävention relevant: Wenn wir beispielsweise feststellen, dass eine bestimmte Konstellation von Mikroorganismen eine Rolle bei der Krebsentstehung spielt, könnte man in den Bakterienbesatz eingreifen und versuchen, die gefährlichen Bakterien zu vernichten. Das zweite große Gebiet in der Grundlagenforschung ist die Früherkennung. Wenn beispielsweise aufgrund der Familiengeschichte, der Lebensumstände oder der genetischen Konstellation bei einem individuellen Menschen ein gewisses Grundrisiko festgestellt wird, könnten daraus Empfehlungen für Vorsorgeuntersuchungen oder Screenings, zum Beispiel molekulare Untersuchungen an Körperflüssigkeiten oder moderne Bildgebung, abgeleitet werden.

Das ist sozusagen eine personalisierte Früherkennung?

Baumann: Alles in der Onkologie, auch die Primärprävention und die Früherkennung, wird zukünftig mehr und mehr personalisiert werden. Und die dritte große Strategie sind die diagnostischen Methoden und Behandlungen in der Klinik: Dabei ist das Ziel, aus einer akut tödlichen Erkrankung eine chronische Erkrankung zu machen oder Behandlungsergebnisse bei heilbaren Tumoren zu verbessern. Da spielt zum Beispiel aktuell die Immuntherapie eine große Rolle.

Inwiefern beziehen Sie die Perspektive der Patienten in Ihre Arbeit ein?

Baumann: Wir haben als erste Forschungsinstitution in Deutschland einen Patientenbeirat gegründet. Der Vorstand des DKFZ und einzelne Wissenschaftler berichten dem Beirat über ausgewählte Themen und strategische Entwicklungen. Das kommentiert der Beirat und bringt so die Patientenperspektive in die Forschung ein. Forscher fragen sich häufig: Wie kann ich den Tumor effektiver vernichten oder verhindern? Hingegen fragen Patienten immer auch: Was ist mit den Nebenwirkungen und der Lebensqualität? Forschungsprogramme müssen entsprechend erweitert werden.

„Wir brauchen verstärkte Forschung und einen langen Atem.“

Ich möchte auf Versorgungsaspekte zu sprechen kommen, die Patienten interessieren. Zunächst einmal die Qualität von Operationen: Beispielsweise bei Bauchspeicheldrüsenkrebs brauchen Chirurgen viel Erfahrung. Welche Rolle spielen vor diesem Hintergrund Mindestmengenregelungen?

Baumann: In allen Bereichen der Krebstherapie und vielleicht sogar besonders in der Chirurgie spielen Erfahrung und Übung eine wesentliche Rolle. Aber es ist nicht nur das Können des einzelnen Chirurgen und des einzelnen Strahlen- oder Chemotherapeuten, sondern es ist auch immer das Können des Umfelds. Heute wird Medizin nicht mehr von einzelnen Ärzten gemacht. Beispielsweise beruhen viele Erfolge im Bereich der Chirurgie auf der Leistung der Anästhesie und der Intensivmedizin. Trotzdem spielt es natürlich eine wichtige Rolle, wie viel Erfahrung ein Chirurg mit einem spezifischen Eingriff hat. Die chirurgischen Fachgesellschaften haben deshalb in vielen Ländern Mindestmengen festgelegt, die grundsätzlich vernünftig sind und in Leitlinien stehen. Zentren, die einen hohen Durchsatz von Eingriffen haben, mit Operateuren, die sich auf diese Eingriffe spezialisieren, und wo alles vorhanden ist, was man für eine zeitgemäße Behandlung braucht, können sicher die beste Qualität erzielen: angefangen mit den Organkrebszentren, beispielsweise Brustkrebszentren, zur qualitativen Versorgung in der Fläche, bis hin zu den großen Comprehensive Cancer Center, die Patienten mit verschiedenen Krebserkrankungen versorgen und die außerdem hochkarätige Krebsforschung betreiben und Innovationen voranbringen.

Ein anderer Versorgungsaspekt sind die Kosten für Medikamente. Neue Präparate beispielsweise der personalisierten Medizin versprechen Heilung in bisher aussichtslosen Fällen. Andererseits drohen hohe Kosten für solche Arzneimittel-Therapien das Finanzierungssystem zu sprengen. Wie ließe sich dieses Dilemma lösen?

Baumann: Die personalisierte Medizin nutzt Medikamente, die gegen spezifische molekulare Konstellationen des individuellen Tumors wirksam sind. Das heißt, nicht jeder Patient mit jeder Krebserkrankung braucht teure Medikamente, einzelne Patienten aber schon. Wir sollten deshalb die Personalisierung mit Tests kombinieren, um herauszufinden, welche Behandlung für einen Patienten die richtige ist. Die sehr teuren Medikamente müssen diejenigen Patienten bekommen, die sie brauchen und bei denen sie auch wirken können. Anderen Patienten ist oft mit Medikamenten geholfen, die für sie genauso gut oder sogar besser sind und vergleichsweise wenig kosten.

Gibt es Hinweise darauf, dass Menschen mit Krebs nicht adäquat behandelt werden oder dass die Früherkennung nicht gut genug läuft, weil gegenwärtig alle zuerst auf Covid-19 schauen?

Baumann: Die gemeinsame Taskforce von DKFZ, Deutscher Krebshilfe und Deutscher Krebsgesellschaft hat davor gewarnt, dass diese Gefahr besteht. Wir wissen aber, dass Krebspatienten in den Krankenhäusern in aller Regel die angemessene Therapie bekommen haben. Allerdings haben wir aus unseren Umfragen und über die Krebsinformationsdienste auch erfahren, dass weniger Krebspatienten in den Krankenhäusern angekommen sind. Elektive Operationen sind verschoben worden, manchmal über längere Zeit, Vorsorgeuntersuchungen ebenso. Viele Patienten hatten Angst, sich in ärztliche Behandlung oder Abklärung zu begeben. Deshalb haben wir in den letzten Wochen wiederholt vor einer Bugwelle gewarnt, also davor, dass Patienten mit Krebs in späteren und schlechter behandelbaren Stadien beim Arzt erscheinen. Zahlen dazu liegen uns leider noch nicht vor.

Wie muss es weitergehen, um diese Mängel zu beheben?

Baumann: Wir brauchen eine umfassende Planung, damit die Ressourcen des Gesundheitssystems auch für andere Patienten im gewohnten Maße zur Verfügung stehen. Hierzu brauchen wir unter anderem viel schnellere und effektivere Krebsregister. Die Patienten sollen wissen, dass sie nicht aus Angst vor einer Covid-19-Ansteckung zu Hause bleiben müssen und notwendige Untersuchungen ausfallen lassen. Krebs verursacht in Deutschland fast 200.000 Todesfälle im Jahr, also etwa zwanzigmal so viele wie Covid-19 bis heute. Bei Covid-19 haben wir eine Chance, dass die Erkrankung in absehbarer Zeit durch eine Impfung wieder verschwindet. Bei Krebs reden wir über ganz andere Zeiträume und über eine weltweit zunehmende Fallzahl.

Änne Töpfer führte das Interview. Sie ist verantwortliche Redakteurin der G+G.
Oliver Weiss ist Illustrator und Designer.
Bildnachweis: Anspach/DKFZ