Stets ein offenes Ohr für die Sorgen und Nöte: Gesundheitsberaterin Julia Hennemann-Schmidt (re.) besucht Patienten in der Klinik und zu Hause.
Ländliche Versorgung

Lotsen für den Weg aus der Sucht

Entgiften, entwöhnen und für immer dem Alkohol entsagen – in Sachsen-Anhalt bietet das Projekt „Besonderes Fallmanagement Sucht“ Alkoholabhängigen Hilfe. Dabei unterstützen Gesundheitsberaterinnen Betroffene und ihre Angehörigen. Von Christian Wohlt

Ich will es schaffen.

Ich will alkoholfrei leben“, sagt Christian H. entschlossen. Seit er vor einer Woche im Diakonie-Krankenhaus Harz aufgenommen wurde, geht es dem 38-Jährigen deutlich besser. Zwölf bis 14 Tage dauert die qualifi­zierte Suchtbehandlung. Dann ist der Körper „trocken“, und es beginnt der schwieri­gere Teil. Das Leben ohne Alkohol.
 
Damit Suchtkranke ein alkoholfreies Leben meistern können, hilft die AOK Sachsen-Anhalt alkoholkranken Ver­sicherten mit dem „Besonderen Fall­management Sucht“. Im Rahmen dieses Projekts kommen im Umgang mit Suchtpatienten speziell ausgebildete Sozial­arbeiterinnen nicht nur ins Krankenhaus, um mit dem Versicherten und seinen Angehörigen die weitere Versorgung und Betreuung zu besprechen. Sie be­suchen die Betroffenen auch zu Hause und halten telefonisch regelmäßig Kontakt. Eine von ihnen ist Gesundheitsberaterin Julia Hennemann-Schmidt.

Vernetzte Betreuung im Team.

Die Be­ratungsgespräche finden flächendeckend in Krankenhäusern (Fachabteilungen Psychiatrie oder Fachabteilungen Innere mit Schwerpunktbehandlung Entgiftung sowie in Rehabilitationskliniken Sucht) statt, beispielsweise im Suchttherapeutischen Zentrum des Diakonie-Krankenhauses Harz in Elbingerode. Es hat sich seit 1976 überregional einen Namen gemacht.

Das Rückfallrisiko ist hoch, wenn Patienten zwischendurch nach Hause gehen.

Eine Besonderheit ist die Qua­lifizierte Entzugsbehandlung in der Inneren Abteilung. Ein Team aus sucht­therapeutisch geschulten Ärzten, Suchttherapeuten, Sozialarbeitern, Ergo- und Physiotherapeuten sowie qualifizierten Pflegern ist für die Patienten da. Seit Ende der 1990er Jahre setze man auf den qualifizierten Entzug, berichtet Dietmar Gritzka, leitender Motivationstherapeut der Inneren Abteilung. Ein Schlüssel zum Erfolg ist dabei die umfassende vernetzte Betreuung. Von insgesamt 108 Krankenhausbetten sind rund 30 auf der „Inneren“ für den ersten Schritt, die Entgiftung vorgesehen. Wichtig: der möglichst nahtlose Übergang von der Entgiftung zum zweiten Schritt, der Entwöhnung. Die AOK Sachsen-Anhalt hilft dabei, indem sie frühzeitig gemeinsam mit Klinik und Patienten die notwendigen Weichen stellt und gegebenenfalls Auffanglösungen sucht. Kehren die Patienten zwischen beiden Phasen in ihr gewohntes Umfeld zurück, ist das Rückfallrisiko groß. Das Diakoniekrankenhaus in Elbingerode bietet 140 Plätze für die medizinische Rehabilitation. Falls doch mal eine Wartezeit unumgänglich ist, gibt es für diese Patienten die Möglichkeit zur Überbrückung, das sogenannte „SOS Wohnen“.

Suchtpatient Christian H. auf dem Weg zur Entwöhnung: In Elbingerode schließt sie sich nahtlos an die Entgiftung an.

Christian H. kann direkt nach der Entgiftung die 15-wöchige stationäre Entwöhnungstherapie beginnen. Er ist hochmotiviert, sein Leben in den Griff zu bekommen und den Alkohol zu besiegen. Zweimal hat er es bereits vergeblich ambulant versucht. Den Ausschlag, jetzt stationär Hilfe zu suchen, habe seine neue Freundin gegeben, berichtet er. Eine vorherige Beziehung sei wegen seiner Alkoholsucht in die Brüche gegangen. Die gemeinsame Tochter möchte er gern wiedersehen, nennt er als weiteren Grund, um durchzuhalten. Ein Freund, der seit vielen Jahren „trocken“ ist, habe ihm die Einrichtung in Elbingerode empfohlen. Hier fühlt er sich gut aufgehoben.

Gründe erkennen.

„Die Ursache, warum ein Mensch zur Flasche greift, sind immer Probleme“, weiß Therapeut Gritzka. Bei der Behandlung helfen Mediziner und Therapeuten den Patienten, die Gründe für die Sucht zu erkennen und zu überwinden. Dann geht es darum, dauerhaft suchtfrei zu leben. Eine wichtige Aufgabe hierbei bestehe darin, den Draht zu behandelnden Ärzten und anderen Institutionen wie Sozialämter oder Jugendämter herzustellen, erläutert Julia Hennemann-Schmidt. Dabei gehe es nicht um Kontrolle und Bevormundung, sondern um eine vertrauensvolle Zusammenarbeit, um den Alltag zu bewältigen und Rückfälle zu vermeiden. „Ich leiste echte Beziehungsarbeit“, sagt Gesundheitsberaterin Hennemann-Schmidt.

Alkoholbedingte Erkrankungen kosten die Volkswirtschaft jährlich 57 Milliarden Euro.

Mit Einrichtungen der Eingliederungshilfe gibt es zudem Kooperationsverträge, um AOK-Versicherten die Möglichkeit zu bieten, das Leistungsspektrum und den Betreuungsansatz in Wohnheimen oder Tagesstätten für Sucht­kranke kennenzulernen und für sich zu prüfen, ob dies eine geeignete Hilfeform darstellen könnte. Auch hier fungiert die Gesundheitsberaterin als Lotsin. Therapeutische Wohnformen bieten für manchen Betroffenen die Chance für ein geborgenes und sicheres Umfeld, um Rückfälle zu vermeiden. Dieses Angebot richtet sich an Versicherte mit langen „Suchtkarrieren“.  

Viele haben eine gute Prognose.

„Rund 70 Prozent unserer Patienten haben eine gute Prognose, das erste Jahr trocken zu bleiben, nach zwei Jahren sind es noch mindestens 50 Prozent“, freut sich Therapeut Gritzka. Viele schaffen es dauerhaft. Rund 4.000 Euro koste ein qualifizierter Entzug, etwa 15.000 Euro eine stationäre Rehabilitation. Nicht nur angesichts von 57 Milliarden Euro volks­wirtschaftlichem Schaden, die durch alkoholbe­dingte Erkrankungen jährlich deutschlandweit verursacht werden, lohne sich der Aufwand, ist der Therapeut überzeugt. Schließlich stehe hinter jedem Patienten ein persönliches Schicksal, und es gehe nicht nur um die Betroffenen selbst, sondern auch um deren Familien.

Projekt „Besonderes Fallmanagement Sucht“ der AOK Sachsen-Anhalt

Eine große Dunkelziffer und hohe Hemmschwelle, Hilfe zu suchen, gibt es bei Menschen, die in ländlichen Regionen leben. In Sachsen-Anhalt betrifft das immerhin 80 Prozent der Bevölkerung. Zur dörflichen Geselligkeit gehören oft feucht-fröhliche Feiern. Wer ein Alkoholproblem hat, wird schneller erkannt als in der großstädtischen Anonymität und dann oft zum Außenseiter im Ort. Zugleich sind auf dem Land Ärzte mit speziellen Kenntnissen zu Suchterkrankungen und zum Suchthilfesystem sowie Beratungs- und Hilfsangebote rarer als in städtischen Regionen.
 
Dieses Problem hat die AOK erkannt und engagiert sich für eine bessere Versorgung im ländlichen Raum. Ein Beispiel dafür ist dieses Programm. Jährlich werden rund 600 Versicherte im Land in das Programm integriert. Teilweise erfolgt eine längerfristige Begleitung über mehrere Jahre. Die Gespräche mit den Versicherten finden in fast allen Krankenhäusern, die Entgiftungsbehandlungen anbieten, und in allen Rehabilita­tionskliniken Sucht Sachsen-Anhalts statt. Das Diakonie-Krankenhaus Harz ist ein Paradebeispiel für die Zusammenarbeit.

Christian Wohlt ist freier Journalist in Sachsen-Anhalt.
Bildnachweis: AOK Sachsen-Anhalt/Mahler