Personalisierte Medizin

Therapie nach Maß

Die Personalisierte Medizin eröffnet neue Behandlungschancen für schwerkranke Menschen. Von der Diagnostik bis zur Therapieentscheidung ist dafür hochspezialisiertes Expertenwissen nötig. Wie diese Behandlungsmethoden funktionieren und wie das erforderliche Wissen schnell, zuverlässig und flächendeckend in die Praxis und zu den Patienten gelangen kann, erklärt Gerhard Schillinger.

Streng genommen ist jegliche medizinische Therapie personalisiert, denn sie muss sich stets an den individuellen Voraussetzungen und Präferenzen der Patienten orientieren und dabei die beste verfügbare externe Evidenz berücksichtigen. Dennoch wurde der Begriff der Personalisierten Medizin  geprägt und kann ein sehr breites Feld medizinischer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden umfassen. So werden zum Beispiel Endoprothesen für den Hüft- oder Kniegelenksersatz individuell gefertigt. Patienten werden Zellen entnommen, um daraus Gewebe zu züchten, mit dem Knorpeldefekte im Gelenk oder sogar Herzklappen ersetzt werden können.

Passgenaue Therapien.

Meist wird der Begriff der Personalisierten Medizin jedoch für eine weitere Stratifizierung (siehe Glossar) in der Behandlung vor allem von Krebserkrankungen verwendet. Dabei werden innerhalb einer Tumorart mithilfe von Biomarkern Subgruppen unterschieden, für die spezifische Behandlungen zur Verfügung stehen, die bei histologisch gleichen Tumoren ohne diese Eigenschaft nicht wirken. Daher ist die Zulassung dieser Medikamente auch auf Tumoren mit einem bestimmten Ergebnis des Biomarkertests beschränkt.

Präzisionswerkzeuge: Tyrosinkinase-Hemmer.

Manche Tumore haben zum Beispiel sogenannte Treibermutationen, die das Tumorwachstum anregen. An diesen können spezifische Medikamente, meist aus der Gruppe der sogenannten Tyrosin­kinase-Inhibitoren (TKI) (siehe Glossar), ansetzen und das Tumorwachstum hemmen. Abhängig von der Tumorart sind diese Therapien den bisherigen zytostatischen (siehe Glossar) Chemotherapien überlegen. Dies betrifft in einigen Fällen auch Tumorerkrankungen, deren Behandlungsoptionen bislang unbefriedigend waren. Tyrosinkinasen sind Enzyme, die in der Zelle Proteine aktivieren. Mutationen in diesen Tyrosinkinasen können dazu führen, dass der Wachstumsschalter der Zelle dauerhaft angeschaltet ist. Eine solches unkontrolliertes Zellwachstum begünstigt die Entstehung und Ausbreitung von Krebs. Tyrosinkinase-Hemmer oder -Inhibitoren blockieren das Signal zur Zellteilung und verlangsamen so das Tumorwachstum. Mit einem der ersten derartigen Medikamente gelang ein großer Durchbruch bei der Behandlung der Chronischen Myeloischen Leukämie (CML) (siehe Glossar). Unter der Dauertherapie mit Imatinib (Glivc®) wurde diese von einer potenziell tödlichen zu einer behandelbaren chronischen Erkrankung.

Hintergrund ist eine seit Langem bekannte Besonderheit der CML, das Philadelphia-Chromosom: Durch eine Verlagerung von Chromosomenteilen werden zwei Gene, BCR und ABL1, miteinander verbunden. Dies führt zu einer Tyrosinkinase (siehe Glossar), die ständig angeschaltet ist. Eine unkon­trollierte Zellteilung ist die Folge. Der Wirkstoff Imatinib wurde in den 1990er-Jahren gezielt zur Hemmung dieser Kinase entwickelt und 2001 zugelassen. Der Nutzen dieser Therapie bei der CML und anderen hämatologischen Erkrankungen, die durch die gleiche Translokation verursacht werden, war im Vergleich zur bisherigen Standardtherapie überwältigend.

Neue Hoffnung für Krebspatienten.

Bei der Behandlung des nichtkleinzelligen Lungenkrebses (NSCLC) setzte man große Hoffnungen auf Tyrosinkinase-Hemmer, die an einem bestimmten Rezeptor – dem endothelialen Wachstumsfaktor-Rezeptor (EGF-Rezeptor) – ansetzen. Da dieser Rezeptor beim Wachstum des NSCLC eine große Rolle spielt, nahm man zunächst an, dass dessen Hemmung das Tumorwachstum grundsätzlich hemmen könne. Gefitinib wurde als erster dieser Wirkstoffe 2002 in Japan und später in den USA zur Behandlung des nichtkleinzelligen Lungenkarzinoms zugelassen. Doch nachdem 2004 bei einer Studie für die Gesamtgruppe der NSCLC keine signifikante Überlegenheit gegenüber einer Behandlung mit einem Placebo gefunden werden konnte, wurde diesem Medikament in den USA die Zulassung wieder entzogen. In Studien der Harvard Medical School zeigte sich jedoch, dass dieses Medikament bei NSCLC außergewöhnlich gut anschlug, wenn eine Treibermutation im EGF-Rezeptor vorlag. Eine weitere Studie auf der Grundlage dieser neuen Erkenntnis führte 2009 zu dem Ergebnis, dass Gefitinib bei Patienten mit einer Mutation im EGF-Rezeptor einer platinhaltigen Chemotherapie hinsichtlich des progressionsfreien Überlebens überlegen ist. Lag keine solche Treibermutation vor, war eine Therapie mit Gefitinib in der zunächst vermuteten Zielgruppe der Nichtraucher mit nichtkleinzelligem Lungenkarzinom der Standardtherapie mit platinhaltiger Chemotherapie hingegen unterlegen.

Portraitfoto von Prof. Dr. Jürgen Wolf, Ärztlicher Leiter des Centrums für Integrierte Onkologie der Uniklinik zu Köln.

„High-Tech-Forschung zu den Patienten bringen“
Für Prof. Dr. Jürgen Wolf, Ärztlicher Leiter des Centrums für Integrierte Onkologie der Uniklinik zu Köln, gibt es in der Personalisierten Medizin eine unglaubliche Dynamik. Er sieht die Herausforderungen auch im Innovationstransfer. Zum Statement …

Beim nichtkleinzelligen Lungenkrebs wurden seitdem weitere Treibermutationen entdeckt. Inzwischen gibt es in Europa zugelassene zielgerichtete Medikamente für klinisch relevante Treibermutationen in einer ganzen Reihe von unterschiedlichen Genen. Für weitere Treibermutationen werden solche Medikamente in klinischen Studien erprobt, einige stehen kurz vor der Zulassung. Mehrere Behandlungskohorten weltweit haben inzwischen gezeigt, dass sich mithilfe der personalisierten Medizin das Gesamtüberleben bei Lungenkrebs deutlich verbessern lässt.

Das 2010 gegründete Kölner „Netzwerk Genomische Medizin (NGM) Lungenkrebs“ setzt sich für die Implementierung personalisierter Therapien in der Routineversorgung von Patienten mit Lungenkrebs ein. Die in diesem Netzwerk erfassten Patienten zeigten im Vergleich zu einer historischen Kontrollgruppe mit EGF-Rezeptormutationen eine signifikante Verlängerung des Gesamtüberlebens von im Median rund 22 Monaten bei EGFR-positiven NSCLC-Patienten. Auch beim schwarzen Hautkrebs (Melanom) und beim Darmkrebs konnten mithilfe von Tyrosinkinase-Hemmern erhebliche Fortschritte in der Therapie erzielt werden. Ein solch dramatischer Durchbruch wie bei der CML wurde zwar mit keinem der weiteren Tyrosinkinase-Hemmer mehr erreicht, wohl aber weitere Verbesserungen im progressionsfreien oder im Gesamtüberleben.

Entfesselte Kettenhunde: CAR-T-Zellen.

Eine weitere neue Entwicklung sind gentechnisch veränderte T-Zellen (siehe Glossar). T-Zellen sind Teil der zellulären Immunantwort. Mithilfe ihres T-Zell-Rezeptors können sie fremde Proteine auf Zellen erkennen. Diese Zellen werden daraufhin zerstört. Aufgrund ihres hohen Zerstörungspotenzials werden T-Zell-Rezeptoren durch umfangreiche Kontrollmechanismen gebändigt. Diese verhindern, dass sich diese aggressive zelluläre Immunantwort gegen körpereigenes Gewebe richtet. Seit Ende der 1980er-Jahre wurden sogenannte CAR-T-Zellen (Chimeric-Antigene-Receptor-T-Zellen) (siehe Glossar) entwickelt, bei denen der T-Zell-Rezeptor (siehe Glossar) durch einen spezifischen Antikörper ersetzt wird. Die so veränderten T-Zellen erkennen und bekämpfen fortan dessen Zielstruktur. Auf diese Weise lassen sich T-Zellen wie Kettenhunde auf bestimmte Oberflächenproteine „abrichten“. Zu diesem Zweck werden dem Patienten weiße Blutkörperchen entnommen und außerhalb des Körpers (ex vivo) gentechnisch so verändert, dass sich an der Stelle des äußeren T-Zell-Rezeptors der spezifische Antikörper befindet. Diese Zellen werden dann aktiviert und vermehrt. Der Patient erhält zunächst eine vorbereitende Chemotherapie. Danach werden ihm seine eigenen, gentechnisch veränderten Abwehrzellen wieder zugeführt.

Bei der akuten lymphatischen Leukämie bei bestimmten Lymphomen konnten bereits erste vielversprechende Erfolge mit CAR-T-Zellen erzielt werden, die sich gegen ein typisches Oberflächenantigen von B-Lymphozyten (CD19) richten. Zudem läuft eine große Zahl an Studien mit CAR-T-Zellen, darunter auch für die Behandlung von soliden Tumoren. Ein Risiko dieser Therapie besteht allerdings darin, dass sich diese „Kettenhunde“ – einmal losgelassen – auch gegen gesunde Körperzellen richten können.

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Die Tarnung des Tumors aufheben.

Eine weitere Entwicklung sind die sogenannten Immun-Checkpoint-Inhibitoren (siehe Glossar). Manche Krebszellen nutzen Mechanismen, mit denen sie sich vor der körpereigenen Immunabwehr verstecken können. Immun-Checkpoint-Inhibitoren heben die Tarnung der Krebszellen auf und machen sie für das Immunsystem sicht- und angreifbar. Auch diese Medikamente wirken nicht bei allen Tumoren, sondern nur bei ganz bestimmten und dies meist auch nur, wenn die Zellen die bestimmten Immun-Checkpoints zur Tarnung verwenden. Bei einigen Tumoren sind diese Medikamente daher sehr erfolgreich, bei anderen völlig erfolglos. Gleichzeitig bestehen erhebliche Risiken und Nebenwirkungen.

Fragwürdige Preisbildung.

Der Aufwand für die Entwicklung dieser neuen Therapien ist im Vergleich zu anderen Medikamenten relativ gering. Die Grundlagenarbeit ist meist im Rahmen öffentlich finanzierter Forschung erfolgt, die neuen Moleküle sind konstruierbar. Auch der Aufwand für Studien ist vergleichsweise gering, da die Wirkstoffe oft bereits nach Phase-I- oder Phase-II-Studien zugelassen werden. Bei den CAR-T-Zellen Kymriah® und Yescarta® waren dies zum Beispiel Fallserien mit jeweils gerade einmal rund einhundert Patienten. Oft entwickeln die Hersteller diese neuen Medikamente auch gar nicht mehr selbst, sondern kaufen Ausgründungen aus Universitäten auf, die diese Wirkstoffe zuvor entwickelt und erste Studien durchgeführt haben.

Diese Preisvorteile werden von den Herstellern aber nicht weitergegeben. Der Preis für diese Medikamente wird vielmehr am „value“ festgemacht, also an der Zahlungsbereitschaft der Gesellschaft für gewonnene Lebenszeit oder -qualität. Jede schrittweise Verbesserung des progressionsfreien oder Gesamtüberlebens begründet jeweils die nächste massive Preiserhöhung. Beim schwarzen Hautkrebs mit der sogenannten BRAF-V600-Mutation zum Beispiel orientierten sich die Jahrestherapiekosten der ersten personalisierten Medikamente an einem Zuschlag zur vorher üblichen Behandlung mit Interleukin und lagen bei knapp 100.000 Euro. Durch Kombinationstherapien weiterer Tyrosinkinase-Hemmer konnte die mittlere Überlebenszeit um zusätzliche sieben Monate verlängert werden. Die Jahrestherapiekosten verdoppelten sich dabei auf knapp 200.000 Euro. Bei einer solchen Preisbildung, die von den Forschungs-, Entwicklungs-, Herstellungs- und Vertriebskosten völlig abgekoppelt ist, können die Gesundheitssysteme vieler Länder selbst in Europa nicht mehr mithalten. Gleichzeitig fahren die Hersteller Renditen von 30 bis 50 Prozent ein. In Deutschland können diese Medikamente glücklicherweise noch bezahlt werden, sodass hier trotz dieser Preispolitik keinem Patienten aus Finanzierungsgründen der Zugang zu diesen Therapien verwehrt bleibt.

Zeitverzug beim Wissenstransfer.

Dennoch erhalten viele Patienten solche Therapien auch dann nicht, wenn deren überlegene Wirksamkeit bereits belegt ist und sie davon profitieren würden. Ein Grund dafür dürfte der verzögerte Wissenstransfer sein. Es dauert mitunter sehr lange, bis das Expertenwissen aus der Forschung auch außerhalb von spezialisierten Zentren Eingang in die Patientenversorgung findet. Bei der Behandlung von Hodenkrebs etwa gab es bereits 1979 die bahnbrechende Erkenntnis, dass eine platinhaltige Chemotherapie die Überlebenswahrscheinlichkeit von 70 auf 90 Prozent steigern kann. Bei den Teratomen – einer Unterform, die besonders jüngere Männer betrifft – verbesserte sie sich sogar von 45 auf 90 Prozent. Dennoch dauerte es noch 20 Jahre, bis alle Patienten entsprechend behandelt und die medizinisch möglichen Überlebensraten tatsächlich erreicht wurden.

Auch bei der personalisierten Lungenkrebs-Therapie ist eine unbefriedigende Übertragung der Forschungsergebnisse in die Patientenversorgung zu beobachten. Eine Auswertung der Routinedaten der AOK für das Jahr 2017 ergab: Von 9.000 AOK-versicherten Patienten mit einem nicht operablen, mit systemischer Therapie behandelten nichtkleinzelligen Lungenkrebs erhielten nur 344 Patienten (3,8 Prozent) innerhalb der ersten beiden Quartale nach der ersten Diagnosestellung einen EGF-Rezeptor-Tyrosinkinase-Hemmer. Aufgrund der Häufigkeit dieser Mutationen wären elf bis 14 Prozent zu erwarten gewesen. Zu diesem Zeitpunkt lag die europäische Zulassung des ersten EGF-Rezeptor-Tyrosinkinase-Hemmer für diese Indikation bereits acht Jahre zurück. Auch bei anderen häufigen Treibermutationen lag der Anteil der mit spezifischen Tyrosinkinase-Hemmern behandelten Patienten niedriger als eigentlich zu erwarten war. Gleichzeitig wurden jedoch 8,3 Prozent der Patienten mit Nivolumab behandelt, das zuvor in einer großen randomisierten Studie keinen Nutzen zeigen konnte und daher keine Zulassung für die Erstlinientherapie des nichtkleinzelligen Lungenkrebses erhalten hatte.

Seit 2016 kann die Untersuchung auf Treibermutationen im vertragsärztlichen Sektor nach eigenen Gebührenordnungsziffern abgerechnet werden, wobei Gen, Indikation und beabsichtigtes Medikament angegeben werden müssen. Bei neu aufgetretenem nichtkleinzelligen Lungenkrebs müssen alle Treibermutationen mit zugelassenen Therapien untersucht werden. 2018 waren dies fünf Treibermutationen. Bei einer Auswertung der abgerechneten Fälle der ersten beiden Quartale 2018 zeigte sich, dass bei einem Drittel der Patienten nur auf EGF-Rezeptor-Mutationen untersucht wurde, bei 16 Prozent nur auf ALK und/oder ROS und bei immerhin 42 Prozent auf die drei häufigsten Mutationen EGF-Rezeptor, ALK und/oder ROS. Nur bei zwei Prozent erfolgte auch eine Untersuchung auf BRAF-Mutationen und bei einem Prozent auch auf EGF-Rezeptor-Expression. Obwohl diese Leistungen im vertragsärztlichen Sektor vergütet werden, werden die Treibermutationen bei nichtkleinzelligem Lungenkrebs also erschreckend unvollständig untersucht.

Präzisionsmedizin erfordert Expertise.

Vor allem bei schnell voranschreitenden Krebserkrankungen ohne befriedigende Behandlungsoption gelangen neue Therapien mit hohem Nutzenpotenzial bereits mit sehr geringer Studienevidenz in die Versorgung und werden in Deutschland auch sofort vergütet – anders als in fast allen anderen Ländern weltweit. Nach der Zulassung besteht in diesen Fällen zunächst eine hohe Unsicherheit über den Nutzen und die Risiken. Es wäre darum sinnvoll, wenn nur Zentren mit besonderer Expertise diese Behandlungen durchführen und dabei, nachgelagert zur Zulassung, auch das notwendige Wissen generieren würden. Solche Einschränkungen gibt es jedoch in Deutschland leider nicht. Einige der neuen Therapien haben zudem erhebliche Nebenwirkungen, die beherrscht werden müssen. So kommt es bei der Anwendung der zugelassenen CAR-T-Zellen bei vielen Patienten zu einer Entgleisung des Immunsystems, einem sogenannten Zytokin-Sturm, der unerkannt oder falsch behandelt tödlich verlaufen kann. Ebenso sind während der Behandlung schwere Nebenwirkungen im Bereich des Gehirns möglich, deren Beherrschung ein spezifisch erfahrenes intensivmedizinisches Team erfordert.

Noch immer dauert es oft viel zu lange, bis neue Forschungsergebnisse in der Patientenversorgung ankommen.

Therapieentscheidung auf Leben und Tod.

Von der Zuverlässigkeit der Biomarker-Untersuchung hängt die richtige Therapieentscheidung und damit die Überlebenschance der Betroffenen ab. Daher muss diese mit höchstmöglicher Qualität erfolgen. Wenn wie beim Lungenkrebs mehrere Treibermutationen bekannt sind, muss eine molekulare Diagnostik auch alle diese Treibermutationen berücksichtigen. Sind nur kleine Proben des Tumors verfügbar, ist eine Multiplexanalyse geboten, bei der alle Gene in einer Untersuchung analysiert werden können. So wird vermieden, den Patienten durch eine neuerliche Probenentnahme zu gefährden. Nicht nur die hochspezialisierte molekulare Diagnostik, sondern auch die daraus resultierende Therapieentscheidung ist essenziell. Die Entwicklung der Evidenzlage ist hoch dynamisch. Therapien, die einen neuen Standard setzen, können schon nach kurzer Zeit von erfolgreicheren Therapie­optionen verdrängt werden. Unter den Therapien entwickeln sich Resistenzen des Tumors. Es gibt stetig neue Erkenntnisse zu wirksamen Behandlungsoptionen für diese Resistenzen, die in einer stufenweisen Behandlung eine weitere erhebliche Verbesserung des Überlebens ermöglichen. Das Wissen, das für eine richtige, aus der molekularen Diagnostik resultierende Therapieempfehlung erforderlich ist, wird immer komplexer. Gleichzeitig hat sich über Jahre nicht einmal die relativ einfache Erkenntnis flächendeckend durchgesetzt, dass alle Fälle von fortgeschrittenem nichtkleinzelligem Lungenkrebs auf Mutationen im EGF-Rezeptor untersucht und bei Nachweis einer Treibermutation mit einem Tyrosinkinase-Hemmer behandelt werden sollten.

Richtungsweisende Strukturen.

Damit alle Patienten aus den neuen Möglichkeiten der Personalisierten Medizin den größtmöglichen Nutzen ziehen können, bedarf es besonderer Strukturen. Ein hervorragendes Beispiel dafür ist das Nationale Netzwerk Genomische Medizin (nNGM) Lungenkrebs. Dessen Ausgangspunkt war das Netzwerk Genomische Medizin (NGM), das der Onkologe Jürgen Wolf und der Pathologe Reinhard Büttner an der Universität zu Köln ab 2010 initiiert und aufgebaut haben. Da keine gesetzliche Grundlage für die notwendigen Qualitätsanforderungen und Strukturen im Sozialgesetzbuch zur Verfügung stehen, schloss das Netzwerk Verträge zur besonderen Versorgung zunächst mit der AOK-Rheinland/Hamburg. Weitere Krankenkassen traten nach und nach bei.

Durch die Förderung der Deutschen Krebshilfe ist es nun gelungen, dieses Netzwerk bundesweit auszurollen. Mittlerweile umfasst es bundesweit 18 besonders qualifizierte onkologische Zentren, die die hohen Qualitätsanforderungen erfüllen. Jedes davon hat als Netzwerkzentrum wiederum ein Netzwerk mit Kliniken und onkologischen Praxen als Netzwerkpartnern aufgebaut. Durch die teilnehmenden Netzwerkpartner und Netzwerkzentren können Patienten so heimatnah behandelt werden. Die Tumorproben werden in den Netzwerkzentren molekulargenetisch auf Treibermutationen analysiert. Hierfür haben sich die Netzwerkzentren auf sehr hohe Qualitätsanforderungen und deren regelmäßige Überprüfung geeinigt. Diese Anforderungen sind auch Vertragsbestandteil der Selektivverträge mit den Krankenkassen.

Die Ergebnisse der molekulargenetischen Analyse werden in molekularen Tumorboards unter Einbindung der behandelnden Ärzte besprochen und die aus der molekularen Diagnostik und dem klinischen Bild resultierenden Therapieempfehlungen abgestimmt. Hierfür gibt es innerhalb der klinischen Experten der teilnehmenden Netzwerkzentren eine Taskforce, die sich regelmäßig über die handlungsleitenden Erkenntnisse der aktuellen Studienlage abstimmt.

Flächendeckend bestmöglich versorgt.

Zur Finanzierung dieser Leistungen wurde ab Februar 2019 ein Selektivvertrag mit den AOKs abgeschlossen, dem inzwischen viele Betriebskrankenkassen beigetreten sind. Die Ersatzkassen haben im Herbst einen inhaltlich weitgehend deckungsgleichen Vertrag geschlossen. In Baden-Württemberg wird diese Leistung durch die Zentren für Personalisierte Medizin erbracht, sodass inzwischen für etwa 80 Prozent der gesetzlich Versicherten flächendeckend die bestmögliche Behandlung in dieser besonderen Versorgungsstruktur sichergestellt ist.

Menschen mit einem fortgeschrittenen nichtkleinzelligen Lungenkarzinom erhalten dank dieses Netzwerks die bestmögliche Therapie gemäß dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse und können dennoch bei ihrer Familie und ihren Freunden sein. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie in der Stadt oder auf dem Land leben, ob sie durch Vertragsärzte, Krankenhäuser der Grundversorgung oder spezialisierte Spitzenzentren behandelt werden. Der Nutzen der angewendeten Therapien wird erfasst und führt zu einem weiteren Wissenszuwachs. Bei neuen Entwicklungen werden Patienten in Studien rekrutiert. Der Aufbau und die erfolgreiche Zusammenarbeit innerhalb des nNGM zeigen beispielhaft, wie der neueste Stand des medizinischen Wissens rasch und wirksam zu den Patienten gelangen kann.

Glossar:

CAR-T-Zellen

(Chimeric-Antigene-Receptor-T-Zellen) sind gentechnisch veränderte T-Zellen, die mit „maßgeschneiderten“ Rezeptoren versehen wurden. Mit deren Hilfe können sie bestimmte Ziel-Zellen erkennen und zerstören.

Chronische Myeloische Leukämie (CML)

Bei dieser bösartigen Erkrankung des Knochenmarks führt eine genetische Veränderung zu einer unkontrollierten Vermehrung von weißen Blutkörperchen. Unbehandelt verläuft die CML tödlich.

Immun-Checkpoint-Inhibitoren

Krebszellen können sich als normale Zellen ausgeben, indem sie den weißen Blutkörperchen bestimmte Signale präsentieren und damit das Immunsystem ausbremsen. Checkpoint-Inhibitoren können diese Bremse lösen.

Stratifizierung

In der Entwicklung der Medizin hat sich immer wieder gezeigt, dass Erkrankungen unterteilt werden müssen, um die Untergruppen richtig zu behandeln. Die Stratifizierung bei Krebs erfolgt zunächst durch das Mikroskop, dann durch immer ausgefeiltere Färbetechniken von Krebszellen und inzwischen durch Untersuchungen der Tumorgene.

Systemische (Krebs-)Therapien

sind Behandlungen, die im gesamten Körper wirken, um den Krebs zu bekämpfen – zum Beispiel zellzerstörende Chemotherapien, die die Krebszellen am meisten schädigen, weil diese sich schnell teilen und so am empfindlichsten gegenüber diesen Zellgiften sind.

Tyrosinkinasen

sind Enzyme, die an der Signalweiterleitung in Zellen beteiligt sind. Werden sie durch eine Mutation unkontrolliert aktiviert, können sie das Wachstum von Krebs begünstigen. Solche Mutationen nennt man Treibermutation.

Tyrosinkinase-Inhibitoren oder -Hemmer (TKI)

blockieren die Weiterleitung des Signals durch eine Tyrosinkinase. Bei sogenannten Treibermutationen können sie die unkontrollierte Zellteilung und damit das Tumorwachstum verlangsamen oder stoppen.

T-Zellen

sind weiße Blutkörperchen. Sie stellen einen wichtigen Bestandteil des erworbenen Immunsystems dar. 

T-Zell-Rezeptoren

befinden sich auf der Oberfläche von T-Zellen. Sie sind für das Erkennen von fremden Strukturen zuständig, docken an diese an und ermöglichen so die Zerstörung der feindlichen Zellen.

Zytostatisch

bedeutet „das Wachstum von Zellen hemmend“.

Gerhard Schillinger ist Facharzt für Neurochirurgie und Leiter des Stabs Medizin im AOK-Bundesverband.
Bildnachweis: Universität zu Köln, Michael Wodak, Titelfoto Startseite: iStock/Ivan-balvan