Gemeinsam Lasten tragen: Die Akzeptanz der solidarischen Sozialversicherung hängt davon ab, dass alle die Beiträge als fair empfinden.
Beitragssatzstabilität

Garantie für Generationen?

Die Beiträge zur Sozialversicherung sollen insgesamt 40 Prozent nicht überschreiten, verspricht die Bundesregierung. Der Ökonom Dr. Jochen Pimpertz reflektiert über die „Sozialgarantie 2021“ und über Reformansätze, die einen langfristig drohenden Anstieg bremsen könnten.

Die Geburtenrate sinkt

in Deutschland seit Jahren. Der Anteil der älteren Menschen in der Bevölkerung steigt. Das stellt die gesetzlichen Kranken-, Pflege- und Rentenversicherungen gleichermaßen vor Herausforderungen. Denn ihnen ist gemeinsam, dass das jeweils abzusichernde Risiko vom Alter der Versicherten abhängt.

In der Rentenversicherung ergibt sich das unmittelbar durch den Wechsel von der beitragspflichtigen Erwerbsphase in den Rentenbezug. In der Krankenversicherung besteht der Zusammenhang aufgrund der mit dem Alter steigenden Durchschnittsausgaben. Das betrifft die Pflegeversicherung noch stärker, denn das Gros der Leistungen kommt hochbetagten Menschen zugute. Mit der alternden Bevölkerung werden die Ausgaben der Sozialversicherungen selbst bei unveränderten Leistungsansprüchen weiter steigen. Gleichzeitig wird bei anhaltend niedrigen Geburtenraten die Zahl der aktiven Beitragszahler weiter sinken.

Die zusätzlichen Finanzierungserfordernisse können im bestehenden, umlagefinanzierten System nur über höhere Beitragssätze gedeckt werden. Sie belasten, wenn man den ganzen Lebenszyklus betrachtet, die Mitglieder der jeweils jüngeren Kohorten stärker. Dabei geht es nicht um ein oder zwei Zehntelpunkte. Bis zum Jahr 2050 droht die Summe auf rund 48 Prozent zu steigen – je nach Modellrechnung mal etwas weniger, mal etwas mehr. Der Trend setzt aber schon in den kommenden Jahren ein, wenn die geburtenstarken Jahrgänge nach und nach in den Ruhestand wechseln.

Zwei Effekte bedenken.

Vor diesem Hintergrund ist die Debatte um die „Sozialgarantie 2021“ einzuordnen. Der Begriff steht für das Versprechen der Bundesregierung, dass die Sozialversicherungsbeiträge insgesamt 40 Prozent des Einkommens kurzfristig nicht überschreiten. Die Beiträge werden als Prozentsatz zum überwiegenden Teil von Bruttogehältern und Renten erhoben. Das Bruttogehalt der Arbeitnehmer wird um den halben Beitrag gemindert, die andere Hälfte zahlen die Arbeitgeber. Für Unternehmen rechnet sich deshalb eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung nur, wenn der Mitarbeiter mit seiner Arbeitsleistung beides erwirtschaftet: Bruttolohn und Arbeitgeberbeitrag.

Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände hat im Februar 2019 eine Kommission zur Zukunft der Sozialversicherung eingesetzt. Unter der Leitung von Professor Dr. Martin Werding (Ruhr Universität Bochum) hat sie Vorschläge erarbeitet, wie sich die Summe der Beitragssätze der Sozialversicherungen auf Dauer unter 40 Prozent halten lassen. Die Kommission empfiehlt insbesondere Folgendes:
 

  • Aktive Lebensphase verlängern: automatische Regelbindung der Regelaltersgrenze an die Lebenserwartung
  • Abschlagsfreien vorzeitigen Renteneintritt abschaffen
  • Abschläge und Zuschläge bei vorzeitigem beziehungsweise späteren Renteneintritt erhöhen
  • Nachhaltigkeitsfaktor verstärken
  • Nicht beitragsgedeckte Leistungen voll aus dem Bundeshaushalt finanzieren
  • Strikteres Versorgungsmanagement auf Basis von Selektivverträgen der Krankenkassen mit Ärzten und Krankenhäusern ermöglichen
  • Krankenhausbedarfsplanung ändern, monistische Krankenhausfinanzierung durch die GKV einführen und Steuermittel für die erforderlichen Investitionen bereitstellen
  • GKV-Tarife mit Versorgungsmanagement als Wahltarife anbieten und für andere GKV-Tarife einkommensunabhängige Zusatzbeiträge der Versicherten erheben
  • Nachhaltigkeitsfaktor bei Anpassungen der Pflegeleistungen einführen
  • Charakter der Arbeitslosenversicherung als beitragsfinanzierte Risikoversicherung stärken, unter anderem maximale Laufzeit der Ansprüche auf Arbeitslosengeld auf zwölf Monate begrenzen

Quelle: BDA, www.arbeitgeber.de

Steigen die Beitragssätze, führt das zunächst zu zwei Effekten: Kann das Bruttogehalt kurzfristig nicht angepasst werden, sinkt das Nettoeinkommen der Arbeitnehmer. Gleichzeitig steigen die Arbeitskosten aufgrund des höheren Arbeitgeberbeitrags. Nun kommt es auf die Gehaltsverhandlungen an, bei denen es um die Aufteilung der Produktivitätszuwächse geht. Da höhere Sozialbeiträge einen Teil aufzehren, wird der Verteilungsspielraum knapper. Gelingt es der Arbeitnehmerseite, das Nettolohnniveau zu halten oder gar zu steigern, geraten die Arbeitgeber unter Kostendruck – mit ungewissem Ausgang für die Beschäftigungschancen der Belegschaften.

Beitragsbasis verbreitern.

Dabei ist die 40-Prozent-Marke historisch gewachsen. Ökonomisch erklärt sie sich im Zusammenspiel von Bruttolohnniveau und Sozialversicherungsbeitrag. Denn theoretisch ließen sich die Sicherungsansprüche auch mit höheren Beitragssätzen finanzieren, aber eben nicht bei gleichen Nettogehältern und unverändertem Beschäftigungsstand. Umgekehrt heißt das aber auch, dass eine Summe von zum Beispiel 35 Prozent ein höheres Nettolohnniveau ermöglichen würde.

Wenn aber steigende Finanzierungserfordernisse die Beschäftigungs- und Einkommenschancen der Arbeitnehmer belasten, dann stellt sich die Frage nach Alternativen zur Finanzierung der gesetzlichen Sozialversicherungen. Ein längeres Arbeitsleben könnte einen Lösungsbeitrag leisten, sind die beitragspflichtigen Einkommen während der aktiven Berufsphase doch in der Regel höher als im Ruhestand. Bei gleichem Beitragssatz lassen sich so höhere Einnahmen erzielen. Doch nach den bislang vorliegenden Modellrechnungen wird das allein nicht reichen.

Deshalb wird vorgeschlagen, Beiträge auch auf Lohnbestandteile oberhalb der Bemessungsgrenze zu erheben. Im Idealfall könnte der Beitragssatz einmalig sinken, weil sich die gleiche Finanzierungslast auf eine breitere Basis verteilt. Für die Arbeitgeber wäre damit wenig gewonnen, weil sich ihr Gesamtbeitrag nicht reduziert. Es sei denn, andere Quellen würden hinzugezogen – zum Beispiel Vermögenserträge, Mieteinnahmen und anderes mehr. Damit stellt sich allerdings die Frage, wie die Kapitaleigner auf die Abgabenlast reagieren. Eine Abwanderung wäre kontraproduktiv, ebenso eine Erhöhung des Mietniveaus – der Ausgang bleibt ungewiss.

Steuern hinzuziehen.

Alternativ wird – nicht nur wegen Corona-bedingter Mehrausgaben – über Steuerzuschüsse diskutiert. Selbst wenn sich damit höhere Beitragssätze vermeiden ließen, müsste der Staat dann bei anderen Aufgaben abspecken oder neue Steuerquellen erschließen. Und wieder stellt sich die Frage nach möglichen Ausweichreaktionen der Steuerzahler.

• BDA-Kommission: Zukunft der Sozialversicherungen: Beitragsbelastung dauerhaft begrenzen. Bericht der Kommission vom 29.7.2020
• Klaus Jacobs: Beitrag oder Steuer? In G+G 10/2020, Seite 20–25

Nicht ohne Neid blickt man hierzulande auf den norwegischen Staatsfonds. Warum nicht die historisch niedrigen Zinsen des Bundes nutzen und einen schuldenfinanzierten Fonds aufsetzen, um das Kapital rentierlicher anzulegen? Aus den Überschüssen ließen sich Leistungsversprechen mitfinanzieren. Doch offen bleibt, wie lange die Niedrigzinsphase anhält, ob schwankende Finanzmärkte jederzeit Überschüsse ermöglichen und wer für die Schuldentilgung aufkommen soll.

Selbst wenn es gelänge, die Beitragssatzsumme einmalig zu reduzieren, würden die Sätze aufgrund der demografischen Entwicklung fortan wieder steigen. Deshalb votierten einige Ökonomen für den Auf- und Ausbau einer ergänzenden kapitalgedeckten Finanzierungssäule auf privaten Versicherungsmärkten. Dieser Vorschlag offenbart schließlich das grundlegende Problem: Eine Generation muss die umlagefinanzierten Ansprüche bedienen und gleichzeitig eigenverantwortliche Vorsorge betreiben. Sie wird also doppelt belastet.

Leistungsumfang diskutieren.

Um die Ausgabendynamik infolge der Bevölkerungsalterung zu durchbrechen, bedürfte es vielmehr einer Diskussion über den Leistungsumfang, die zum Beispiel an der Frage des Rentenniveaus entbrennt. In der Kranken- und mehr noch in der Pflegeversicherung geht es stattdessen bislang eher um Leistungsverbesserungen, die den Ausgabenanstieg in einer alternden Bevölkerung noch beschleunigen. Wenig Beachtung findet die Frage, wie es gelingen kann, die medizinische und pflegerische Versorgung kostengünstiger zu erbringen.

Wenn es also im Kern um die Verteilung demografisch bedingter Zusatzlasten geht, muss darüber letztlich der Souverän entscheiden. Dabei gilt: Nichtstun ist auch eine Entscheidung. Denn ohne Reformen werden die jeweils jüngeren Bevölkerungsgruppen höhere Beitragslasten schultern müssen als ältere Jahrgänge zu der Zeit, als sie im gleichen Alter waren. Es ist aber zu vermuten, dass die Akzeptanz der solidarischen Sozialversicherung auch von einer Lastenverteilung abhängt, die von allen Generationen als fair empfunden wird.

Jochen Pimpertz leitet das Kompetenzfeld „Öffentliche Finanzen, Soziale Sicherung und Verteilung“ im Institut der deutschen Wirtschaft, Köln.
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