Ärztegesundheit

Heilen kann krank machen

Hohe Arbeitsdichte, viele Überstunden, wenig Bewusstsein für die eigene Gesundheit: Ärztinnen und Ärzte laufen Gefahr, selbst krank zu werden. Warum sie mit diesem Rollenwechsel Schwierigkeiten haben, wie sie gesund bleiben und was das für die Patientensicherheit bedeutet, zeigt der Überblick von Florian Staeck.

Covid-19 gefährdet insbesondere auch Beschäftigte im Gesundheitswesen: Rund 18.500 in deutschen Krankenhäusern, Arztpraxen, Dialyseeinrichtungen und bei Rettungsdiensten tätige Menschen hatten sich nach Angaben des Robert Koch-Instituts bis Ende Oktober mit Covid-19 infiziert. 749 von ihnen mussten im Krankenhaus behandelt werden, 24 sind gestorben. Unter diesen Corona-Opfern befindet sich eine unbekannte Zahl von Ärztinnen und Ärzten. Angehörige der Gesundheitsberufe setzen ihre eigene Gesundheit aufs Spiel, um andere zu heilen.

Das ist nicht erst seit Beginn der Corona-Pandemie so. Viele Ärztinnen und Ärzte arbeiten häufig am Limit – mit Folgen wie Sucht, Burnout und anderen Erkrankungen. Dabei verlangt schon die ärztliche Berufsordnung, auf die eigene Gesundheit zu achten. In der Präambel heißt es: „Ich werde meine Gesundheit, mein Wohlergehen und meine Fähigkeiten achten, um eine Behandlung auf höchstem Niveau leisten zu können.“ Freilich ist der dauerhaft belastbare, seelisch stabile und stets hilfsbereite Arzt so wenig realitätsnah wie bei Beschäftigten in jeder anderen Berufsgruppe auch. Hinzu kommt, dass es im ärztlichen Berufsalltag offenbar mit der Selbstsorge nicht weit her ist.

Fehlzeiten bilden Krankheitsgeschehen nicht ab.

Dabei sind die Ausgangsvoraussetzungen bestens. Ärzte genießen hohes gesellschaftliches Ansehen. Sie üben eine Tätigkeit aus, die als in hohem Maße sinnvoll und sinnstiftend angesehen wird. Und sie scheinen selten krank zu sein. Laut dem Fehlzeiten-Report 2018 des AOK-Bundesverbandes waren Ärztinnen und Ärzte im vorausgegangenen Jahr acht Tage arbeitsunfähig – rund vier Tage weniger als der Durchschnitt aller Erwerbstätigen. Nur Hochschullehrer und Software-Entwickler fehlen noch seltener im Job.
 
Die formalen Fehlzeiten bilden jedoch das Krankheitsgeschehen bei Ärztinnen und Ärzten unzureichend ab. Viele von ihnen kümmern sich auch dann um ihre Patienten, wenn es ihnen selbst psychisch oder körperlich schlecht geht. Dieses Phänomen wird oft als Ethikfalle bezeichnet. „Ärzte identifizieren sich sehr stark mit ihrem Beruf und erhalten darüber auch viele positive Rückmeldungen“, sagt Dr. Bastian Willenborg, Ärztlicher Direktor an der Oberberg Fachklinik Berlin-Brandenburg. „Wenn man erkrankt, droht diese Gratifikation durch Anerkennung zu entfallen – auch dies ist ein Grund, Erkrankungssymp­tome zu verdrängen“, sagt Willenborg.

Befragung deckt hohen Alkoholkonsum auf.

Wissenschaftler im In- und Ausland haben in den vergangenen Jahren das Gesundheitsverhalten von Ärzten untersucht. Zuletzt befragte eine Gruppe um Dominik Pförringer von der Technischen Universität München Ärztinnen und Ärzte in Krankenhaus und niedergelassener Praxis (siehe Lese- und Webtipps). Nach Rücklauf von rund 1.100 Fragebögen konstatierten die Forscher, dass 23 Prozent der Ärzte (32 Prozent der Männer, 13 Prozent der Frauen) Alkohol in gefährlichen Mengen konsumieren. Die Autoren räumen dabei ein, dass sehr kranke oder gestresste Ärzte erst gar nicht an der Befragung teilgenommen haben.

Grafik: Ärztinnen und Ärzte fühlen sich häufig überlastet

Mehr als die Hälfte der in deutschen Krankenhäusern beschäftigten Ärztinnen und Ärzte fühlt sich überlastet. Das zeigt eine Umfrage unter Mitgliedern des Marburger Bundes, darunter 42 Prozent Ärzte in Weiterbildung, 23 Prozent Fachärzte, 24 Prozent Oberärzte, sechs Prozent Chefarzt-Stellvertreter und drei Prozent Chefärzte. Knapp die Hälfte der Befragten (49 Prozent) gab an, sie seien häufig überlastet, jeder zehnte Befragte stimmte der Aussage zu: „Ich gehe ständig über meine Grenzen.“

Quelle: Marburger Bund, MB-Monitor 2019

Das Selbstbild vieler Ärzte geht vom Irrglauben aus, dass man selber nicht krank wird. Das hat Folgen, berichtet Willenborg: „Insbesondere Kollegen mit depressiver Symptomatik kommen im Erkrankungsverlauf in der Regel sehr spät zu uns.“ Sie nähmen Symptome, die sie bei ihren Patienten klar erkennen würden – wie Schlafstörungen oder Gereiztheit – bei sich selber nicht wahr, erläutert der Psychiater.

Willenborg hat oft mit erkrankten Kollegen zu tun. Die private Klinikgruppe mit 18 Einrichtungen in Deutschland ist unter Ärzten bekannt. Sie wurde 1988 vom Neurologen Professor Dr. Matthias Gottschaldt gegründet, der selbst an Burnout und Alkoholabhängigkeit erkrankte. Ärzte, die als Patienten eine Oberberg-Klinik aufsuchen, haben am häufigsten affektive Störungen – in der Regel Depressionen oder eine Burnout-Symptomatik, berichtet Willenborg. Die zweitgrößte Gruppe leidet an stoffgebundenen Süchten: Alkohol, Benzodiazepine, Stimulanzien oder Opiate. Dass erkrankte Kollegen sich erst dann in Behandlung begeben, wenn es gar nicht mehr anders geht, hat auch mit dem Arbeitsumfeld zu tun, weiß Willenborg. „Gerade niedergelassene Kollegen tun sich aufgrund wirtschaftlicher Zwänge besonders schwer, in Behandlung zu gehen. Mit einem einwöchigen Klinikaufenthalt ist es gerade im Fall einer Depression nicht getan.“

Hohe Belastung hinterlässt Spuren.

Doch was macht Ärzte krank? Hinweise auf die Arbeitsumstände und -verhältnisse angestellter Ärztinnen und Ärzte in Krankenhäusern gibt der MB-Monitor der Ärztegewerkschaft Marburger Bund. An der jüngsten Befragung im Herbst 2019 nahmen bundesweit 6.474 Ärzte teil. Zehn Prozent der Befragten erklärten, sie gingen bei ihrer Arbeit „ständig über ihre Grenzen“ (siehe Grafik: „Ärztinnen und Ärzte fühlen sich häufig überlastet“). 49 Prozent der Ärzte beschreiben sich als „häufig überlastet“. Für 39 Prozent der Befragten hält sich „der Stress in Grenzen“, nur zwei Prozent empfinden bei ihrer Arbeit keinen Stress.

Vier von zehn Ärzten arbeiten nach dem MB-Monitor 49 bis 59 Stunden pro Woche. Mehr als jeder Fünfte (22 Prozent) gibt die Wochenarbeitszeit sogar mit 60 bis 80 Stunden an. Die Befragten wünschen sich jedoch eine maximale wöchentliche Arbeitszeit von durchschnittlich 48 Stunden – inklusive aller Dienste und Überstunden. Nach Berechnungen des Marburger Bundes fallen bei den bundesweit rund 186.000 Krankenhausärzten pro Jahr etwa 65 Millionen Überstunden an. Fast jeder Fünfte (19 Prozent) verzichtet laut Umfrage täglich auf seine Pause, 41 Prozent der Befragten tun dies „häufiger pro Woche“. Drei von vier Ärzten erklären, die Arbeit belaste sie so stark, dass das Privat- und Familienleben leidet.

„Die Umfrageergebnisse zeigen, dass die hohe Belastung nicht spurlos an der Gesundheit vieler Ärztinnen und Ärzte vorbeigeht“, kommentiert Hans-Jörg Freese, Sprecher des Marburger Bundes. Die Rückmeldungen der Mitglieder machten deutlich, dass sie sich dessen bewusst sind. Im MB-Monitor wurde auch gefragt, ob die Ärzte genügend auf die eigene Gesundheit achten. Nur 27 Prozent erklärten, sie würden dies tun. Elf Prozent der Ärzte gaben an, sie würden „sehr nachlässig“ mit ihrer Gesundheit umgehen, 62 Prozent meinten, sie müssten mehr auf ihre Gesundheit achten.

Arbeitszeiterfassung hat Lücken.

Die Nachlässigkeit beginnt bereits bei der systematischen Erfassung von ärztlicher Arbeitszeit: Nur 44 Prozent der Kliniken erfassen Arbeitszeiten elektronisch. Dagegen muss rund jeder vierte Arzt (26 Prozent) seine Stunden handschriftlich dokumentieren. Bei einem knappen Drittel der Ärztinnen und Ärzte (30 Prozent) gibt es weder das eine, noch das andere. MB-Sprecher Freese beklagt, die Behörden würden kaum überprüfen, ob die Dienstpläne und die tatsächlich geleisteten Arbeitszeiten in Krankenhäusern den gesetzlichen Regeln entsprechen. Denn gerade bei kommunalen Kliniken sind Interessenkonflikte programmiert. In Ländern wie Baden-Württemberg und Bayern sei die Zuständigkeit für Kontrollen bei der Gewerbeaufsicht der jeweiligen Landkreise angesiedelt, berichtet Freese. Im Konfliktfall müsste die dem Landrat unterstehende Aufsichtsbehörde Verstöße gegen das Arbeitszeitgesetz in einem Krankenhaus ahnden, „dessen Aufsichtsratsvorsitzender wiederum in der Regel der jeweilige Landrat ist“, so Freese.

Arbeitsschutz bleibt unter Standards.

Aus Sicht der Arbeitsmedizinerin Professor Dr. Monika A. Rieger wird die Einhaltung von Arbeitsschutzstandards im deutschen Gesundheitswesen generell wenig überprüft. Die Ärztliche Direktorin des Instituts für Arbeits- und Sozialmedizin und Versorgungsforschung an der Universität Tübingen hält das „Unrechtsbewusstsein angesichts einer laxen Auslegung von Arbeitsschutzstandards“ für „nicht sehr ausgeprägt“. Als Arbeitsmedizinerin kennt Rieger Arbeitsbedingungen sowohl im Gesundheitswesen als auch in anderen Branchen. Dabei sei sie „immer wieder überrascht, wie wenig im Gesundheitswesen auf Ergonomie und Anpassung der Arbeit an den Menschen – und nicht andersherum – geachtet wird“. Verwundert zeigt sie sich auch, wie viel ihre Kollegen an schlecht designten Instrumenten oder ergonomisch ungünstigen Arbeitsumständen zu akzeptieren bereit sind – von der Zwangshaltung bei laparoskopischen Operationen bis hin zu hohen Lärmpegeln im OP. „Was man hier oft in Operationssälen vorfindet, wäre in jeder Autofabrik undenkbar.“

Dem Ausbrennen von Ärztinnen und Ärzten vorbeugen: Das ist in Kliniken auch eine Führungsaufgabe.

Ein typisches Beispiel für die schwach ausgeprägte Kultur der Arbeitssicherheit im Gesundheitswesen ist für Rieger die Einführung von Sicherheitskanülen. Der Einsatz dieser – etwas teureren – Kanülen, die Ärzte und Pflegepersonal vor Stichverletzungen schützen sollen, sei seit Anfang der 2000er Jahre verpflichtend gewesen. „In vielen Krankenhäusern hat das teilweise noch ein Jahrzehnt gedauert, bis Sicherheitskanülen flächendeckend eingeführt worden sind.“ Dabei ist rund die Hälfte aller jährlich gemeldeten Versicherungsfälle im Gesundheitswesen nach Angaben der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege auf Stichverletzungen zurückzuführen. Valide Zahlen zur Häufigkeit dieser Arbeitsunfälle insgesamt gibt es nicht: Die hohe Dunkelziffer und die Vielfalt der Versicherungsträger erschweren eine Erfassung.

Ärztetag kritisiert mangelnde Prävention.

Im vergangenen Jahr hat der Deutsche Ärztetag in Münster die Gesundheit des eigenen Berufsstands erstmals prominent auf die Tagesordnung seiner Beratungen gesetzt. In einem Beschluss hielt der Ärztetag fest, dass der „Prävention von Krankheit innerhalb der Ärzteschaft eine zu geringe Bedeutung beigemessen wird“. Ärzte müssten Selbstfürsorge und eigene Achtsamkeit verbessern, heißt es weiter. Liegt demnach die Gesundheit von Ärzten vor allem in der Verantwortung des Einzelnen?

Jedenfalls ist der Stellenwert der Gesundheitsförderung in Krankenhäusern für die eigenen Beschäftigten „absolut ausbaufähig“, sagt Professor Dr. Harald Gündel, Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Universität Ulm. In den meisten größeren Unternehmen gebe es heutzutage ein systematisches Gesundheitsmanagement, in Krankenhäusern dagegen nicht. „Das liegt im Kern daran, dass die Personaldecke zumeist so dünn ist, dass die Beschäftigten häufig keine Zeit haben, an entsprechenden Veranstaltungen überhaupt teilzunehmen“, so Gündel. Er leitet den Forschungsverbund „Seelische Gesundheit am Arbeitsplatz Krankenhaus“ (SEEGEN). Das gemeinsame Projekt von vier Universitätskliniken und der Universität Düsseldorf wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung mit 2,6 Millionen Euro gefördert. An fünf Kliniken in Deutschland werden dabei unterschiedliche Einzelinterventionen entwickelt und evaluiert – von der Sensibilisierung der Führungsebene (Chefärzte und Pflegebereichsleitungen) für das betriebliche Gesundheitsmanagement bis hin etwa zur Stärkung der „Dilemmakompetenz“ von Führungskräften im mittleren Management.

Die 2017 abgeschlossene WorkSafeMed-Studie beleuchtete den Zusammenhang von Arbeits- und Patientensicherheit, „um auf diese Weise auch die Auswirkungen auf die Qualität der Patientenversorgung messen zu können“, so Prof. Dr. Monika Rieger. Die Direktorin des Instituts für Arbeits- und Sozialmedizin und Versorgungsforschung an der Universität Tübingen hat die Studie mitverantwortet.

Zusammen mit dem Institut für Patientensicherheit am Universitätsklinikum Bonn befragten die Forscher nicht nur Ärzte und Pflegekräfte an den Universitätskliniken in Tübingen und Bonn. Sie untersuchten beispielsweise auch die Vollständigkeit der ärztlichen Verordnung oder die Dokumentation der Medikationsgabe. Schließlich gingen in die Studie elektronisch gespeicherte Routinedaten zur Erfassung der Arbeitsdichte von Ärzten und Pflegekräften und der Versorgungsqualität ein. „So konnten wir eine Korrelation von ungünstigen Arbeitsbedingungen und ungünstiger, auch patientenbezogener Sicherheitskultur aufzeigen“, berichtet Rieger. „Wir konnten erste Hinweise generieren, dass es möglich ist, aus Routinedaten in Krankenhäusern Rückschlüsse auf die Patientensicherheit zu ziehen – beispielsweise im Hinblick auf die Belegungsdichte auf einer Station.“

Von den Ärzten und Pflegekräften wahrgenommene Belastungen korrelieren demnach sehr stark mit den tatsächlichen zeitlichen Belastungen, etwa in Form von Überstunden. Durch Routinedaten könnten dadurch künftig kontinuierlich problematische Entwicklungen bei der Arbeitsorganisation und -belastung erkannt werden – damit die Verantwortlichen rasch gegensteuern, bevor der Stress der Beschäftigten zulasten der Patientensicherheit geht.

  Weitere Informationen über WorkSafeMed

Florian Staeck

Wenn der Stresslevel in Klinikabteilungen steigt, nähmen mit dem Druck auch „negative soziale Interaktionen“ zu, sagt Gündel. „Man kann auch sagen: Stress fördert Entsolidarisierung.“ In solchen Situationen seien Führungskräfte besonders gefordert: Es gelte, die „Kraft der Gruppe zu stärken und Arbeitsbelastungen fair zu verteilen“. Mediziner in Führungsfunktionen wie beispielsweise Oberärztinnen und -ärzte würden indes nur selten auf solche Teamaufgaben adäquat vorbereitet, sagt Gündel. In vielen Branchen der Wirtschaft gebe es ausgefeilte Entwicklungsprogramme für Führungskräfte. „Das sehen wir leider in Krankenhäusern nur in Ausnahmefällen“, bedauert der wissenschaftliche Leiter des SEEGEN-Projekts. Die Arbeitsbelastung des Personals bremst auch das Forschungsprojekt, berichtet Gündel. Die Forscher müssten „sehr werben, weil Ärzte und Pflegekräfte so mit Arbeit belastet sind, dass sie nicht immer in ausreichendem Maß an den Veranstaltungen teilnehmen können“.

Viel Wissen, wenig Anwendung.

Wird der Arbeitsdruck dauerhaft zu hoch und kommen private sowie familiäre Konflikte hinzu, gelingt vielen Betroffenen der Ausstieg aus der Tretmühle nicht selbstständig. Dann erhielten die erkrankten Ärzte mehrheitlich „kleinere oder auch größere Anstöße aus ihrem Umfeld, bevor sie zu uns kommen“, berichtet Bastian Willenborg vom Oberbergklinikum Berlin-Brandenburg. „Eine kleine Minderheit – gerade die mit Suchterkrankungen – begibt sich erst dann in Behandlung, wenn sie beispielsweise vom Arbeitgeber die gelb-rote Karte gezeigt bekommen“, so Willenborg. Denn die kranken Kollegen „funktionierten“ meistens in ihrem Beruf noch erstaunlich gut, konstatiert der Psychiater. Das maskiere allerdings die Erkrankung und verzögere den Therapiebeginn. „Wer stundenlang jeden Tag in Praxis oder Klinik arbeitet, tut sich schwer, bei sich selbst eine Antriebsstörung – eines der Hauptkriterien einer Depression – wahrzunehmen, auch wenn er außerhalb der Arbeit keinen Antrieb mehr hat“, erläutert er.

Die kranken Mediziner verfügten zwar häufig über viel Wissen zu Bewältigungsstrategien oder Faktoren, die resilienzfördernd im Beruf wirken können. „Allerdings muss man korrigierende Faktoren auch konkret machen – etwa, dass mir Bewegung und Sport nach einem stressigen Arbeitstag tatsächlich gut tun. Daran fehlt es oft“, so Willenborg. Ein weiterer, wichtiger Schritt steht für erkrankte Ärzte an, wenn sie sich schlussendlich in Therapie begeben. „Der Hauptunterschied zu ‚normalen‘ Patienten besteht darin, dass es Ärzten schwerfällt, die Rolle des Patienten einzunehmen“, erläutert Willenborg. Das gelte vor allem im Falle psychischer Erkrankungen.

Sucht vom Stigma befreien.

Von den Herausforderungen des Rollenwechsels vom Arzt zum Patienten berichtet auch Dr. Klaus Beelmann, Geschäftsführender Arzt bei der Ärztekammer Hamburg. Die Kammer Hamburg ist bundesweit Pionier gewesen bei der Etablierung eines Suchthilfeprogramms für Ärzte. Dort hat man schon in den 90er Jahren Kontakt zu den Oberberg-Kliniken aufgenommen, um zu überlegen, wie suchtkranken Ärzten geholfen werden könnte. „Ziel war und ist es, Suchterkrankungen aus der Stigmatisierung herauszuholen. Hilfe statt Strafe ist hierbei seit Anbeginn der Grundsatz“, so Beelmann. Rund 70 Prozent der Suchterkrankungen bei Ärzten sind Schätzungen zufolge durch Alkohol verursacht. Der überwiegende Teil der Erkrankten komme nicht aus freien Stücken zur Kammer, „sondern wir erhalten aus den verschiedensten Quellen Hinweise auf eine Suchterkrankung“, sagt der Geschäftsführende Arzt. Zuvor sei es den suchtkranken Kollegen häufig lange gelungen, eine Fassade aufrechtzuerhalten, die ihnen geholfen hat, weiter im Beruf zu arbeiten.

Auch Beelmann hält es für die entscheidende Hürde, dass der suchtkranke Arzt den Rollenwechsel hin zum Patienten vollziehen muss. „Die betroffenen Ärzte verteidigen sozusagen mit ihrem professionellen Selbstverständnis ihre bisherige Rolle. Nur wenn sie einsehen können, dass jetzt andere in der Behandlung diesen Part übernehmen, kann die Entwöhnungsbehandlung erfolgreich sein“, erläutert Beelmann.

Räume für Reflexion eröffnen.

Erhärtet sich nach einem Erstgespräch der Verdacht der Kammer, dass der betroffene Arzt suchtkrank ist, dann werden in einem zweiten Treffen die weiteren Behandlungsschritte verabredet. In der Regel erfolge die Entgiftung und Entwöhnung stationär, meist vier bis acht Wochen. Dem Beispiel Hamburgs folgend, haben inzwischen alle 17 Landesärztekammern Interventionsprogramme für suchtkranke Ärzte aufgelegt. Zwar seien die Fallzahlen zu gering, um mit exakten Daten arbeiten zu können, „doch im Schnitt können wir drei Viertel aller suchtkranken Ärzten helfen“, resümiert der Geschäftsführende Arzt der Kammer Hamburg.

  • Dominik Pförringer, Regina Mayer, Christa Meisinger, Dennis Freuer, Florian Eyer: Health, risk behaviour and consumption of addictive substances among physicians – results of an online survey. In: Journal of Occupational Medicine and Toxicology (2018), Download
  • Marburger Bund: MB-Monitor 2019
  • Kassenärtzliche Bundesvereinigung: Berufsmonitoring Medizinstudierende 2018

Das bestätigt auch Chefarzt Willenborg für die Oberberg-Kliniken im Hinblick auf Ärzte mit psychischen Erkrankungen. Nach seinen Angaben könne „dem überwiegenden Teil der betroffenen Kollegen gut geholfen werden“. Als er studiert habe, seien alle Fragen, die mit Selbstsorge zu tun haben, noch kein Thema gewesen, erinnert sich Willenborg. „Das ist inzwischen besser geworden. Doch wir sind noch immer weit davon entfernt, dass dieses Thema kontinuierlich und breit in Aus-, Weiter- und Fortbildung verankert wäre“, bemängelt er. Nötig sei ein stärkeres Bewusstsein für Gesundheitsförderung in Kliniken, fordert Klinikleiter Harald Gündel. „Für die Beschäftigten öffnen sich dadurch Räume für Reflexion in Form von Seminaren und Workshops. Im Kern geht es immer darum, die Handlungsmöglichkeiten des Einzelnen und des Teams zu stärken“, erläutert er. Auch der Marburger Bund bietet über seine Stiftung seit einigen Jahren Seminare zur Überlastungsprävention von Ärzten an. Dort lernen die Teilnehmer, mit welchen Strategien und Arbeitstechniken sie „der täglichen Einladung zum Ausbrennen präventiv begegnen können“, sagt MB-Sprecher Freese. Die rege Inanspruchnahme ist für die Gewerkschaft ein Indikator, „dass es mehr solcher Fortbildungen und Seminare geben müsste – auch und gerade in Verantwortung der Krankenhäuser“.

Gute Arbeitsbedingungen herstellen.

Freilich stellt sich die Frage, ob angesichts der oft problematischen Arbeitsverhältnisse in Kliniken ein Fokus auf Verhaltensprävention – der Versuch, das individuelle Gesundheitsverhalten zu beeinflussen – geboten sein sollte. Die Arbeitsmedizinerin Rieger erinnert daran, dass es im Arbeitsschutz eine „ganz klare Hierarchie von Maßnahmen“ gebe. „Ganz oben stehen gute Arbeitsverhältnisse, die Verhaltensprävention kommt immer nur on top.“ So schreibe beispielsweise die Biostoffverordnung vor, dass dort, wo der Stress für die Beschäftigten so groß ist, dass das Risiko für Nadelstichverletzungen steigt, dieser Stress eben verringert werden muss. Stelle man die Verhaltensprävention in den Vordergrund, „dann wird die Verantwortung für die Gesundheit vom Arbeitgeber auf den einzelnen Beschäftigten übertragen. Das halte ich für bedenklich“, kritisiert Rieger.

Der Deutsche Ärztetag hat „klare Signale von der Ärzteschaft“ gefordert, sich nicht mehr „jede kalkulierte Missachtung von Arbeitsrechten auf Kosten der eigenen Gesundheit gefallen“ zu lassen. Der Marburger Bund nimmt gerade bei jüngeren Ärzten eine wachsende Bereitschaft wahr, für die eigenen Anliegen zu kämpfen. Die Warnstreiks des vergangenen Jahres seien maßgeblich von jungen Ärzten getragen worden, berichtet MB-Sprecher Freese. Klaus Beelmann sieht wie in der gesamten Gesellschaft auch eine sich verändernde Berufsauffassung bei der jüngeren Ärztegeneration. „Das kann einen positiven Effekt auch auf die Gefährdung durch Suchtstoffe haben“, hofft er.

Heilen und gesund bleiben.

Dass und wie sich die Berufsauffassung der nächsten Ärztegeneration ändern wird, lässt der „Berufsmonitor Medizinstudierende“ erkennen, die Kassenärztliche Bundesvereinigung, der Medizinischen Fakultätentag und die Bundesvertretung der Medizinstudierenden 2018 gemeinsam vorgestellt haben. Rund 13.800 Rückmeldungen angehender Ärzte wurden dafür ausgewertet. Klinikmanager werden sich etwas einfallen lassen müssen, wenn sie künftig ausreichend Nachwuchs gewinnen wollen: Denn die Studierenden nannten am häufigsten „hohe Arbeitsbelastung“ (78 Prozent) und „starken ökonomischen Druck“ (68 Prozent), die gegen eine Tätigkeit im Krankenhaus sprächen. Umgekehrt haben sie klare Kriterien für die Wahl des Fachgebiets im Praktischen Jahr, der letzten Phase des Medizinstudiums: Mit weitem Abstand führt die Vereinbarkeit von Familie und Beruf (71 Prozent) die Liste der Prioritäten an.

Gut möglich also, dass die künftige Ärztegeneration häufiger als ihre Altvorderen den Rat von Klaus Beelmann beherzigt: Demnach können Mediziner ihre Berufung als Arzt oder Ärztin dann leben, „wenn sie bei der Patientenversorgung bis an die Grenze des ihnen Möglichen gehen – aber nicht darüber hinaus“. Ähnlich formuliert es Bastian Willenborg: Wenn man es schaffe, „die Arbeitsbelastung dem Alter und der Lebenssituation anzupassen, und das bietet der Arztberuf heute in sehr vielen Fällen, dann können Ärzte ihre Berufung leben – und dabei gesund bleiben“.

Florian Staeck ist Redakteur bei Springer Medizin, Ärzte Zeitung.
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