Digitale Gesundheitsanwendungen

Medizinischer Mehrwert statt Lifestyle

Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte hat die ersten Apps auf Rezept zugelassen. Ärzte und Krankenkassen begrüßen das Potenzial für die Gesundheitsversorgung, fordern aber mehr Qualität und Sicherheit. Von Thomas Rottschäfer

Über eine „Weltneuheit“

freute sich Bundesgesundheitsminister Jens Spahn. „Deutschland ist das erste Land, in dem es Apps auf Rezept gibt“, so der Minister bei der Vorstellung der ersten beiden digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA), die Ärzte und Psychotherapeuten zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) verordnen können. Mit „kalmeda“ für Patienten mit chronischer Tinnitus-Belastung und „velibra“ zur Unterstützung von Patienten mit bestimmten Angststörungen nahm das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) Anfang Oktober die ersten beiden verordnungsfähigen Produkte in das neue DiGA-Verzeichnis auf. 21 weitere befanden sich zu dem Zeitpunkt im Prüfverfahren.

Prüfung innerhalb von drei Monaten.

Grundlage der „Apps auf Rezept“ ist das Ende 2019 in Kraft getretene Gesetz zur besseren Versorgung durch Digitalisierung und Innovation (DVG). Danach müssen die Krankenkassen Webanwendungen oder Apps bezahlen, die das BfArM nach Prüfung im öffentlichen DiGA-Verzeichnis auflistet. Die Produkt­anforderungen sind in einer Verordnung geregelt, die am 21. April in Kraft getreten ist. Im sogenannten Fast-Track-Verfahren prüft die Bonner Unterbehörde des Bundesgesundheitsministeriums „innerhalb von drei Monaten die Angaben des Herstellers zu Sicherheit, Leistung, Datenschutz, medizinischer Qualität und Interoperabilität der DiGA sowie die wissenschaftlichen Nachweise zu ihrem positiven Versorgungseffekt“.

Apps auf Rezept versprechen Hilfe beispielsweise bei Tinnitus und Angststörungen.

Die Krankenkassen begrüßen das DiGA-Potenzial für die Gesundheitsversorgung. Sie dürfen laut DVG auch Risikokapital einsetzen, um die Entwicklung geeigneter Produkte zu fördern. Doch die Kassen befürchten auch, dass bei Spahns Drängen auf mehr digitales Tempo die Qualität unter die Räder kommt.

„Das geforderte Evidenzniveau von Studien ist auf viel zu niedrigem Niveau festge­schrieben worden“, bedauert der Leiter des Stabs Medizin beim AOK-Bundesverband, Dr. Gerhard Schillinger. Ein weiterer Mangel aus Sicht der AOK: Das BfArM muss sich auch bei Sicherheit und Datenschutz auf die Angaben der Hersteller verlassen und darf Verstöße nicht sanktionieren. Der GKV-Spitzenverband fordert „echten medizinischen Mehrwert“. „Was die Solidargemeinschaft finanziert, muss Hand und Fuß haben. Damit schützen wir die Nutzerinnen und Nutzer vor verkappten Lifestyle-Apps“, sagt Vorstandsmitglied Stefanie Stoff-Ahnis. Sie warnt, „dass die Kassen ein Jahr lang mehr bezahlen müssen, als eine neue App tatsächlich wert ist“. Für eine zugelassene DiGA müssen die Kassen laut Rechtsverordnung ein Jahr lang den allein vom Hersteller bestimmten Preis bezahlen. Danach gilt ein zwischen Unternehmen und GKV-Spitzenverband ausgehandelter Preis.

Pflegeanwendungen auf dem Weg.

„Die Krankenkassen werden für Apps künftig viel Geld ausgeben, obwohl der Nutzen nicht ausreichend belegt ist“, vermutet der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Dr. Andreas Gassen. Er fordert für die DiGA „ähnlich hohe Anforderungen wie bei anderen verordnungsfähigen Leistungen“. Dass die Krankenkassen jeden Euro nur einmal ausgeben können, ist der Digitalbranche bewusst. Bei der #eHealthCon – einer Veranstaltung der AOK Nordost zum DiGA-Start – warnte Dr. Janko Schildt, Geschäftsführer des Medizintechnik-Unternehmens Emperra, seine Branche deshalb vor „Mondpreisen nach der Zulassung“. Die AOK Nordost-Vorstandsvorsitzende machte zudem deutlich, dass die DiGA keine separate Säule im Gesundheitssystem darstellen dürften. „Wir brauchen integrative Versorgungslösungen“, forderte Daniela Teichert. Die DiGA sollten Engpässe und Versorgungslücken schließen.

DiGA-Infos des BfArM für Patienten, Ärzte und Hersteller, darunter ein Verzeichnis bereits zugelassener Anwendungen

Unterdessen plant Spahn den nächsten Schritt: Das „Dritte Digitalisierungsge­setz“ soll digitalen Pflegeanwendungen auf Kosten der Pflegeversicherung den Weg ebnen und DiGA-Daten mit der neuen elektronischen Patientenakte (ePA) verknüpfen. Ein Zugriff der DiGA auf die ePA dürfte dabei mit erheblichen datenschutzrechtlichen Herausforderungen verbunden sein. Immerhin sollen zukünftig die DiGA-Hersteller derselben Schweigepflicht unterliegen, wie sie für Ärzte gilt.

Thomas Rottschäfer ist freier Journalist mit dem Schwerpunkt Gesundheitspolitik.
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