Interview

„Wir wissen zu wenig“

Viele Fragen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie sind noch nicht ausreichend untersucht. Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen wäre geeignet, den Nutzen von Maßnahmen zu bewerten, meint dessen Chef Prof. Dr. Jürgen Windeler.

Herr Professor Windeler, vielen Corona-Maßnahmen fehle die wissenschaftliche Basis, haben Sie in einem Interview kritisiert. Welche Wissenslücken müssten vorrangig geschlossen werden?

Jürgen Windeler: Wir wissen gegenwärtig zum Beispiel zu wenig über die Infektiosität der positiv Getesteten. Eine Quarantäne hat erhebliche soziale, wirtschaftliche und rechtliche Auswirkungen. Daher ist hoch relevant, wer wie lange in Quarantäne sollte, damit er niemanden ansteckt. Wir wissen außerdem immer noch zu wenig über die Infektionsverläufe, auch im Vergleich zu anderen Infektionen. Ab wann ist eine infizierte Person immun? Welche Spätfolgen sind zu beobachten? Mit einer Längsschnittstudie könnten wir diese Fragen besser beantworten.

Porträt von Jürgen Windeler, Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen

Zur Person

Prof. Dr. Jürgen Windeler leitet seit September 2010 das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, das im Auftrag des Gemeinsamen Bundesausschusses oder des Bundesgesundheitsministeriums arbeitet. Zuvor war er beim Medizinischen Dienst des GKV-Spitzenverbandes als stellvertretender Geschäftsführer und Leitender Arzt tätig.

Warum haben andere Länder derartige Lücken teilweise schon geschlossen, Deutschland aber noch nicht?

Windeler: Hier zeigen sich die sehr unterschiedlichen Wissenschaftskulturen in den einzelnen Ländern. Wissenslücken zu schließen setzt das Benennen der offenen Fragen, eine etablierte Forschungsstruktur, ein erkennbares Interesse der Entscheidungsträger an Evidenzgenerierung und eine ausreichende öffentliche Forschungsfinanzierung voraus. An alledem fehlt es bei uns.

Müssen wir Corona-Maßnahmen medizinisch begründen können? Oder ist das gar nicht leistbar, weil wir nicht monatelang auf Forschungsergebnisse warten können?

Windeler: Natürlich gilt es, im Notfall schnell zu handeln – auch ohne Forschungsergebnisse. Genauso natürlich sollte man schnell viel Energie darauf verwenden, Evidenz für einzelne Maßnahmen zu generieren. Ihre Fragestellung finde ich sehr spannend. Warum sollten wir denn monatelang auf Forschungsergebnisse warten müssen? Logistische Hemmnisse können in einer so großen Herausforderung wie der Corona-Pandemie keine Rolle spielen – das ist allein eine Frage des Ressourceneinsatzes. Hohe Fallzahlen gibt es auch. Bleibt die notwendige Dauer der Beobachtung. Da sich die Morbidität und Mortalität innerhalb von vier bis acht Wochen ereignet, ist das hier ebenfalls nicht relevant. Fazit: Es gibt keine unüberwindbaren Hindernisse zur Klärung vieler wichtiger Fragen.

Evaluation erfordert einen Vergleich. Wenn alle das Gleiche tun, ist sie kaum möglich.

Darf man von der Politik überhaupt eine langfristige Strategie einfordern oder muss man auf Sicht fahren?

Windeler: Gegenfrage: Was verstehen Sie unter langfristig? Der Sommer hätte genutzt werden können, um Vorschläge zu diskutieren, Szenarien durchzuspielen, Handlungsoptionen festzulegen und Vorbereitungen zu treffen – insbesondere zum Schutz der bekannten Risikogruppen. An Hinweisen hierfür hat es nicht gemangelt. Man hätte also durchaus das Fernlicht anschalten und auf längere Sicht fahren können, um im Bild zu bleiben.

Könnte denn nicht wenigstens eine Evaluation der Maßnahmen gegen Ende der Pandemie erfolgen?

Windeler: Natürlich sollte versucht werden, nach Ende der Pandemie eine Bilanz zu ziehen. Eine solche Evaluation erfordert jedoch immer einen Vergleich. Wenn aber alle im Wesentlichen das Gleiche tun und keine essenziellen Standardisierungen erfolgen, dann ist eine Evaluation praktisch kaum noch möglich.

Ines Körver führte das Interview. Sie ist Redakteurin im KomPart-Verlag.
Bildnachweis: IQWiG/Ralf Baumgarten