Strukturwandel

Versorgung neu verflechten

Ob mit stationsersetzenden Behandlungen oder spezialfachärztlichen Leistungen: Kliniken können zunehmend gleiche Aufgaben wie die niedergelassene Ärzteschaft übernehmen. Um Doppelstrukturen zu vermeiden, die Transparenz für Patientinnen und Patienten zu erhöhen und die Zusammenarbeit im Gesundheitssystem zu verbessern, empfiehlt Birgit Schliemann einen gemeinsamen sektorenunabhängigen Ordnungsrahmen.

Miriam P. ist 65 Jahre alt. Sie diagnostiziert bei sich rheumatische Beschwerden. Diese treten seit einigen Wochen in Intervallen auf, zuerst in den kleinen Gelenken. Fast wäre sie bereit gewesen, die Notfallaufnahme des nahegelegenen Krankenhauses aufzusuchen, denn es ist Sonntag und sie hat genug Zeit. Sie berät sich mit ihrer Freundin, ob sie zu einem Orthopäden mit der Zusatzbezeichnung Rheumatologie gehen, ihre Hausärztin konsultieren und um ein Physiotherapierezept bitten oder eine Ernährungsberatung in Anspruch nehmen sollte. Die Liste der Möglichkeiten wird mit der Dauer des Gesprächs immer länger. Schließlich könnte auch ihre Hautärztin wegen der Schuppenflechte noch auf die Gelenke schauen. Deshalb wartet Miriam P. erst einmal ab. Es wird viel Zeit kosten, die Symptome einzuordnen und Therapieoptionen abzuwägen.

Miriams Geschichte wird seit mehr als 20 Jahren so erzählt. Sie skizziert die zunehmende Intransparenz für Patientinnen und Patienten mit komplexen Behandlungsanliegen, die einen geeigneten Zugang zur Versorgung suchen. Im Jahr 2000 erhielten die Krankenkassen mit der Integrierten Versorgung die Option, Selektivverträge sektorenübergreifend zu gestalten (siehe Glossar). Die kollektivvertragliche Welt war klar geordnet: Niedergelassene Ärztinnen und Ärzte mit Kassenvertrag erbrachten ambulante und Krankenhäuser stationäre Leistungen. Selektivverträge förderten Koordination und Kooperation der Leistungserbringer und eine strukturierte Behandlung der Patientinnen und Patienten entlang der Sektorengrenze.

Behandlung gerät zum Puzzle.

Trotz der langjährigen Bemühungen, Patientinnen und Patienten strukturierte Versorgungsabläufe mit eindeutigen Zugangsmöglichkeiten zu bieten, gelingt das bis heute nicht flächendeckend. Inzwischen befindet sich die kollektivvertragliche Versorgung mit einer wachsenden Zahl von Spezialangeboten in einem mehrschichtigen Transformationsprozess (siehe Grafik „Ambulante Versorgung wird sektoren­unabhängig“). Er erfordert neue Lösungen zur Integration der Versorgung. Miriam P. könnte heute ihre rheumatischen Beschwerden im Rahmen der Ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung (ASV, siehe Glossar) am Krankenhaus oder von einer ASV-Vertragsärztin behandeln lassen. Vielleicht wäre auch ein Disease-Management-Programm (siehe Glossar) geeignet. Die Voraussetzung dafür ist, dass sie die wachsende Anzahl ambulanter Behandlungsangebote entweder selbstständig überblicken kann oder mit kompetenter Unterstützung den Zugang zur geeigneten Versorgung findet. Für Patienten mit inter- und multidisziplinären sowie sektorenübergreifenden Behandlungsanliegen gerät die Behandlung daher zunehmend zu einem Puzzle.

An Kliniken und im vertragsärtzlichen Bereich entstehen parallele Strukturen der ambulanten Versorgung.

Die ursprünglich mit der im Jahr 2012 eingeführten ASV verbundene Absicht, auch die Zusammenarbeit von Vertragsärzten und Krankenhäusern im Rahmen der kollektivvertraglichen Versorgung zu entwickeln, ist weitgehend fehlgeschlagen. In der Regel wird je nach Indikation weniger als ein Drittel der Patientinnen und Patienten von Teams über die Sektorengrenzen hinweg behandelt. Mehr als zwei Drittel der Patienten werden daher entweder nur von Vertragsärztinnen und -ärzten oder nur von Krankenhaus-Teams versorgt. Dem Gemeinsamen Bundesausschuss ist es bis heute nicht gelungen, aus dem Auftrag, den ihm der Gesetzgeber mit dem Versorgungsstrukturgesetz 2012 in Paragraf 116b Sozialgesetzbuch (SGB) V übertragen hatte, eine Richtlinie zu entwickeln, mit der die interdisziplinäre Zusammenarbeit und Kooperation von Vertragsärzten und Krankenhäusern zur Regel wird. Erschwerend eröffnete das Versorgungsstärkungsgesetz 2015 Universitätskliniken die Option, ihre Patientinnen und Patienten mit dem Diagnosespektrum der ASV ausschließlich in Hochschulambulanzen zu behandeln.

Zahl der Spezialambulanzen steigt.

Für eine Vielzahl komplexer Beschwerdebilder steigt die Zahl der Spezialambulanzen an Krankenhäusern seit rund zehn Jahren kontinuierlich an. Die Politik reagierte mit deren Ermächtigung auf Lücken in der vertragsärztlichen Versorgung, die jeweils unterschiedliche Akteure beklagt hatten. Anfänglich verfolgte der Gesetzgeber das Ziel, Brücken zu bauen oder Drehtüreffekte zu verringern und eine sektorenübergreifende ambulante Versorgung im Sinne einer Integrierten Versorgung (siehe Glossar) durch Vertragsärzte und Krankenhäuser zu entwickeln. Mittlerweile entstehen jedoch in beiden Sektoren parallele Strukturen der ambulanten Versorgung. Damit verbunden ist die Absicht, das Portfolio der Vertragsärzte und Krankenhäuser mit gleichen Leistungen anzureichern und diese durch gleiche Vergütungen zu honorieren. Die Kooperation der Krankenhäuser mit den Vertragsärztinnen und -ärzten ist in den Hintergrund der politischen Agenda getreten.

Die Entwicklung der ambulanten Versorgung durch Krankenhäuser nahm in den vergangenen zehn Jahren ein beträchtliches Tempo auf. Sie lässt sich in vier Phasen unterteilen. In der ersten Phase ermächtigte der Gesetzgeber spezialisierte Ambulanzen mit besonderen Versorgungsaufträgen. Dadurch fiel dieser Bereich aus der Sicherstellungsverantwortung für die ambulante vertragsärztliche Versorgung, die Kassenärztliche Vereinigungen und Krankenkassen wahrnehmen, in der Regel heraus. Krankenhausambulanzen arbeiten überwiegend nicht im Ordnungsrahmen der vertragsärztlichen Versorgung, gleichwohl zählen sie rechtlich dazu. Sie sollen vorwiegend Patientinnen und Patienten behandeln, die aufgrund von Art, Dauer, Schwere oder Komplexität eine aufwendige Versorgung benötigen. Die Behandlungen in einer Ambulanz unterscheiden sich von der vertragsärztlichen Versorgung, wenn mehrere Gesundheitsberufe zusammenarbeiten und die Behandlungsfrequenz höher ist. Das ist nicht immer der Fall. So lässt sich zum Beispiel die Behandlung in Psychiatrischen Institutsambulanzen nur unzureichend von der Behandlung durch niedergelassene Psychotherapeuten abgrenzen.

Kliniken erweitern ambulantes Spektrum.

Die zweite Phase bereitet mit der ASV und den ambulanten Operationen (Pa­ragraf 115b SGB V) einen „Dritter Sektor“ vor. Dieser erweitert für Krankenhäuser das ambulante Leistungsspektrum und für Vertragsärztinnen und -ärzte die Abrechnungsmöglichkeiten außerhalb der Budgetgrenzen. Vertragsärzte und Krankenhäuser benötigen für diese Versorgungsformen keine gesonderte Zulassung, sondern müssen lediglich bestimmte Voraussetzungen nachweisen. Dadurch können beide die gleichen Leistungen ambulant erbringen und abrechnen. Ab dem Jahr 2022 soll der Katalog von Leistungen nach Paragraf 115b SGB V (neu) erweitert werden. Mit den „stationsersetzenden Behandlungen“ werden dann Krankenhäusern weitere neue ambulante Tätigkeitsbereiche zusätzlich zu ambulant durchführbaren Operationen (AOP) und stationsersetzenden Eingriffen ermöglicht. Für die Sicherstellung heißt das „Wer kann – das heißt die Abrechnungsgenehmigung erhält und bereits zugelassen ist –, der darf“, sodass es weitgehend dem Markt überlassen bleibt, in welchem Umfang die ASV- und AOP-Leistungen tatsächlich angeboten werden.

Grafik: Ambulante Versorgung wird sektorenunabhängig

Im Gesundheitssystem vollzieht sich derzeit ein tiefgreifender Wandel: Der Trend geht in Richtung einer leistungsbezogenen Übernahme von ambulanten Versorgungsaufträgen sowohl durch Vertragsärztinnen und -ärzte als auch durch Krankenhäuser. Nach einer Transformationsphase soll das Ziel eine ambulante Versorgung auf drei Stufen sein, in der ambulante Leistungserbringer integriert zusammenarbeiten.

Quelle: Schliemann/AOK-Bundesverband

In der dritten Phase wuchs das Interesse insbesondere der Bundesländer, Krankenhäuser in die Sicherstellung weiterer ambulanter Versorgungsleistungen bis hin zur Grundversorgung einzubinden. Diese Möglichkeit war in den Paragrafen 116 und 116a SGB V bereits angelegt. Sie hilft den Kassenärztlichen Vereinigungen, ihre Sicherstellungsprobleme insbesondere in infrastrukturschwachen Regionen zu lösen. Wenn es ihnen nicht gelingt, entsprechend qualifizierte Ärztinnen und Ärzte für eine Region zu gewinnen, können sie im Rahmen von Ermächtigungen einerseits auf Leistungen von Spezialisten und andererseits auf grundversorgende Leistungen der Krankenhäuser zurückgreifen. Im Unterschied zu den Spezialambulanzen und den Leistungen des „Dritten Sektors“ sind diese Ermächtigungen an den Sicherstellungsauftrag der Kassenärztlichen Vereinigungen gebunden. Sie werden genutzt, um damit Versorgungslücken vor Ort zu schließen.

Sekundärversorgung für ambulante Leistungen.

So wächst der Vierte Abschnitt im SGB V, der die Beziehungen der Krankenhäuser zu Vertragsärztinnen und -ärzten beziehungsweise deren ambulante Versorgungsaufgaben regelt, seit rund zehn Jahren. Mit ihm erweitert und vergrößert sich das Portfolio ambulanter Leistungen der Krankenhäuser kontinuierlich. Mit den Spezialambulanzen, den Leistungen des „Dritten Sektors“ sowie den Ermächtigungen von Krankenhäusern und Krankenhausärzten wird eine Sekundärversorgung für ambulante Leistungen etabliert, die systematisch Aufgaben der vertragsärztlichen Versorgung ergänzt, substituiert oder dupliziert.
 
In jüngster Zeit kamen als vierte Phase dieser Entwicklung weitere singuläre Versorgungsaufträge hinzu. Dazu zählen Aufgaben, die Krankenhäuser im Rahmen der Notfallversorgung und durch die Vermittlung von Terminservicestellen der Kassenärztlichen Vereinigungen erbringen. Mit diesen Regelungen wurde die Kernfunktion der Sicherstellungsverantwortung der Kassenärztlichen Vereinigungen – eine Versorgung in drängenden beziehungsweise Notfällen zu gewährleisten – auch zum Auftrag der Krankenhäuser.

Sektorenübergreifende Versorgung neu definieren.

Anders als noch zu Beginn dieses Jahrtausends verlaufen die Sektorengrenzen nicht mehr zwischen ambulanten und stationären Leistungen. Gleichwohl lassen sich die Leistungen der Vertragsärztinnen und -ärzte von denen der Krankenhäuser abgrenzen. Sofern Leistungserbringer mit einer Zulassung oder Ermächtigung Patientinnen und Patienten behandeln, werden sie in ihrem jeweiligen Rechtsgefüge, das heißt der vertragsärztlichen oder Krankenhausversorgung tätig. Für den politischen Diskurs wäre daher ein gemeinsames erneuertes Verständnis der sektorenübergreifenden Versorgung angebracht. Wenn Vertragsärzte und Krankenhäuser die gleichen ambulanten Leistungen erbringen, gelten sektorenabhängig unterschiedliche Standards für deren Qualität, Dokumentation, Vergütung und Abrechnung. Bislang entscheidet der Zulassungsweg über die Zahl der Angebote sowie über die Voraussetzungen und die Pflichten, die für die Behandlung von Patientinnen und Patienten zu erfüllen sind. Aus der Perspektive des Gesetzgebers erscheint ein gemeinsamer Ordnungsrahmen daher als verzichtbar. Aber aus Perspektive der Patientinnen und Patienten sind geordnete Strukturen dringend erforderlich. Denkbar ist ein nach Versorgungsstufen gegliederter Ordnungsrahmen, der jeweils für alle Leistungen einer „Grund- oder Basisversorgung“, einer „Spezialisierten Versorgung“ und einer „Hochspezialisierten Versorgung“ unabhängig vom Sektor der Leistungserbringung gilt.

Bund-Länder-Arbeitsgruppe benennt Reformfelder.

Ein besonderes Problem stellt die Sicherstellung der ambulanten Leistungen dar. Die Regierungskoalition hat deshalb eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe (BLAG) eingerichtet, die in der laufenden Legislaturperiode ordnungspolitische Vorschläge zur Bedarfsplanung, Sicherstellung, Zulassung, Dokumentation, Qualitätssicherung und Kooperation wie auch Koordination der Gesundheitsberufe erarbeiten sollte. Die Digitalisierung war dabei in allen Themenbereichen zu berücksichtigen. Dieser Reformauftrag sollte in einem über Jahrzehnte gewachsenen und entwickelten Rechtsgefüge zweier Sektoren neue Maßstäbe setzen. Nach einem Jahr Arbeit und nach Ausbruch der Corona-Pandemie ist die BLAG nicht mehr zusammengekommen. Vorschläge für einen Ordnungsrahmen und die Sicherstellung fehlen weiterhin.

  • Robert Messerle und Jonas Schreyögg: Sektorenübergreifende Versorgungssteuerung. In Krankenhaus-Report 2021. Springer, Open Access
  • Deutsche Krankenhausgesellschaft: Positionen der Deutschen Krankenhausgesellschaft für die 20. Legislaturperiode des Deutschen Bundestags. 2021. Download
  • Fortschrittsbericht der Bund-Länder-Arbeitsgruppe „sektorenübergreifende Versorgung“, Stand: Januar 2020. Download
  • Bundestagsdrucksache 19/21881: Gesundheitsregionen – Aufbruch für mehr Verlässlichkeit, Kooperation und regionale Verankerung in unserer Gesundheitsversorgung. Antrag der Grünen-Fraktion, 26.8.2020. Download
  • Bericht der Enquetekommission „Sicherstellung der ambulanten und stationären medizinischen Versorgung in Niedersachsen – für eine qualitativ hochwertige und wohnortnahe medizinische Versorgung“. Niedersächsischer Landtag, Drucksache 18/8650, 22.2.2021. Download

Dennoch verdient das Ergebnis, das die Arbeitsgruppe mit zwei Papieren dokumentiert hat, Aufmerksamkeit. Es benennt drei Reformfelder: erstens den Umbau der Krankenhauslandschaft und Ausbau zu ambulanten Versorgungszentren insbesondere in ländlichen Regionen, zweitens die Weiterentwicklung des gemeinsamen ambulanten fachärztlichen Versorgungsbereichs sowie drittens die Kooperation der Leistungserbringer und Koordination der Leistungen. Die BLAG empfiehlt mit dieser Themensetzung implizit, den Ausbau der ambulanten Versorgung unabhängig vom Versorgungssektor fortzusetzen und dieses unter dem Blickwickel der Sicherstellung, insbesondere in ländlichen Regionen nicht ausschließlich auf spezialisierte Versorgungsaufgaben zu begrenzen. Zudem rückt sie die Zusammenarbeit der Gesundheitsberufe in einer koordinierten Behandlung wieder in den Fokus.

Care- und Casemanagement gewinnen an Bedeutung.

Langfristig sollte ambulante Versorgung nicht vergleichbare, sondern gleiche Standards erfüllen. Die Weiterentwicklung der Strukturen sollte sich mindestens an zwei Leitplanken orientieren: an der Verantwortung für Patientinnen und Patienten und dem verantwortungsvollen Umgang mit den Ressourcen.
 
Die ambulante Versorgung befindet sich in einem Transformationsprozess, der bei näherer Betrachtung zunehmend chaotisch verläuft. Effektiv und effizient erscheint dieser nicht. Der wachsende Einsatz von Ressourcen schafft Intransparenz und verbessert nicht unbedingt die Versorgungsqualität. Den Ärztinnen und Ärzten der Grundversorgung ist es kaum noch zuzumuten, sich selber und ihre Patientinnen und Patienten gut zu informieren und durch die Versorgungslandschaft zu navigieren. Die garantierte Behandlung nach Leitlinien, in definierten Behandlungspfaden und nach fest vereinbarten Qualitätsstandards ist bis heute ein Vorteil der Versorgung im Rahmen von Selektivverträgen. Die Voraussetzung dafür ist, dass Patientinnen und Patienten regional geeignete Angebote finden. Die kollektivvertragliche Versorgung gewährleistet einen strukturierten Zugang zu den jeweils notwendigen und angemessenen Behandlungsmöglichkeiten nur dann, wenn Patientinnen und Patienten die notwendigen Informationen erhalten. Die Koordination von erforderlichen Behandlungen und die Kooperation der Beteiligten wird jedoch mit einem zunehmend diversifizierten Leistungsangebot aufwendiger.
 
Care- und Casemanager oder Lotsen, die eine kontinuierliche Versorgung und arztentlastende Tätigkeiten organisieren, werden daher an Bedeutung gewinnen. Auch die Krankenkassen könnten ihre ausgezeichnete regionale Systemkenntnis für Lotsenaufgaben einsetzen. Zahlreiche Förderanträge für Innovationsfonds-Projekte weisen darauf hin, dass sich ein neues Tätigkeitsspektrum für weitere Gesundheitsberufe entwickelt. Im Care- und Casemanagement übernehmen diese schon heute Versorgungsaufgaben und unterstützen Patienten in ihren regionalen Möglichkeiten. Für eine koordinierte regionale Versorgung bietet diese Entwicklung hervorragende Anknüpfungspunkte.

Leistungsmengen nach Versorgungsstufen planen.

Insbesondere ländliche und grenznahe Regionen geraten in der Gewinnung von Fachkräften zur Sicherstellung einer haus- und fachärztlichen Grundversorgung zunehmend in eine wettbewerbliche Konkurrenz miteinander. Dieser Wettbewerb erfordert Handlungs- und Gestaltungsspielräume, die Länder gemeinsam mit Krankenkassen, Kassenärztlichen Vereinigungen und Krankenhäusern in einer neuen Form der Zusammenarbeit nutzen sollten. Die Regionen müssen vor dem Hintergrund dieser Entwicklung in einen kreativen Wettbewerb eintreten, damit sie ihre Verpflichtung zur Daseinsfürsorge einlösen können.

Alle Beteiligten sollten die Versorgung ihrer Patientinnen und Patienten als gemeinsame und in den Abläufen aufeinander abgestimmte Aufgabe begreifen.

Um eine parallele Entwicklung der ambulanten Versorgung in beiden Sektoren aufzufangen, müssen die Steuerungsmechanismen angepasst werden. Arztsitze und Betten bieten heute keine geeignete Bezugsgröße mehr für die Leistungsmenge, die zur Versorgung der Bevölkerung einer Region geplant und sichergestellt werden muss.

Eine Planung der Leistungsmengen nach Versorgungsstufen bietet einen Lösungsansatz. Die Planungs- und Sicher­stellungs­verant­wortung könnte ein gemeinsames „3+1-Gremium“ aus Vertre­terinnen und Vertretern der Krankenkassen, Kassenärztlichen Vereinigungen, Krankenhäuser und Bundesländer mit unterschiedlichem Aufgabenzuschnitt der Beteiligten übernehmen. Denkbar ist, dass die Versorgungsaufträge gestuft für die Grund- und Basisversorgung, die Spezialisierte und die Hochspezialisierte Versorgung vergeben werden. Wer die Aufträge übernimmt, sollte Freiheiten für die Gestaltung der Strukturen erhalten, sofern sie sich an Qualitätszielen orientieren.

Vielfalt steigt, Vernetzung stagniert.

Alle Beteiligten sollten die Versorgung ihrer Patientinnen und Patienten als gemeinsame und in den Abläufen aufeinander abgestimmte Aufgabe begreifen. Sie dazu zu motivieren, ist nicht allein eine Frage von ausgeklügelten Anreiz- und Vergütungssystemen. Die ambulante kollektivvertraglich organisierte Versorgungslandschaft hat sich in den vergangenen 20 Jahren kaum stärker vernetzt, dafür hat sich ihre Vielfalt erhöht. Qualität und Wirtschaftlichkeit als oberste Gebote der ambulanten Versorgung verlieren auf der politischen Agenda offensichtlich an Bedeutung. Rahmenbedingungen sind völlig unterschiedlich, je nachdem für welche Versorgungsform Leistungen erbracht werden. Selten sind sie in Versorgungsabläufe integriert. Diese Vielfalt hat ihren Preis: Sie kostet Ressourcen und verschärft Engpässe in den Regionen, die es heute bereits schwer haben, Ärztinnen und Ärzte, Pflegerinnen und Pfleger und Angehörige weiterer Gesundheitsberufe zu gewinnen. Auch für Patientinnen und Patienten wird der Zugang zur jeweils geeigneten Versorgung schwieriger, wenn sie die Versorgungslandschaft nicht mehr überblicken.

Neue Strukturen entwickeln.

Diese Situation sollte als Übergangsphase betrachtet werden, in der engagiert neue Strukturen zu entwickeln sind. Andernfalls ist die wachsende Intransparenz kaum noch zu überwinden, und die Versorgungsunterschiede zwischen Stadt und Land sind nicht mehr aufzuhalten.
 
Viele Lösungsversuche zur Etablierung einer Integrierten Versorgung über Selektivverträge zeigen in der Summe ermutigende Ergebnisse. Für eine flächendeckende Versorgungsintegration sollte die Politik jedoch weiterhin grundlegende Weichen stellen. Die Umsteuerung zu einer integrierten Zusammenarbeit im Rahmen der kollektivvertraglichen Versorgung muss auf regionaler Ebene beginnen und flexible Lösungen für die Gestaltung der ambulanten Versorgungslandschaft ermöglichen. Das ist noch ein weiter Weg. Aber ein solches System wird es schließlich auch Miriam P. erleichtern, ihre komplexe Erkrankung erfolgreich zu managen.

Glossar:

Integrierte Versorgung

Angebote der Integrierten Versorgung (IV) zielen auf eine patientenorientierte interdisziplinäre medizinische Versorgung durch eine enge Kooperation unterschiedlicher Leistungserbringer (zum Beispiel Haus- und Fachärzte, ärztliche und nicht-ärztliche Leistungserbringer, Krankenhäuser, Medizinische Versorgungszentren, Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen, Arztnetze). Hierdurch sollen die Qualität und die Wirtschaftlichkeit der medizinischen Versorgung verbessert werden. IV-Verträge der Krankenkassen können grundsätzlich alle medizinischen Belange der eingeschriebenen Versicherten umfassen, aber auch einzelne Indikationen abdecken.

Ambulante spezialfachärztliche Versorgung (ASV)

Das am 1. Januar 2012 in Kraft getretene GKV-Versorgungsstrukturgesetz ersetzt die im Paragraf 116b SGB V geregelten ambulanten Leistungen im Krankenhaus durch die ASV. Sie kann sowohl von Vertragsärzten als auch von zugelassenen Krankenhäusern erbracht werden. ASV betrifft komplexe und schwer therapierbare Krankheiten mit besonderen Krankheitsverläufen, die eine spezielle Qualifikation, interdisziplinäre Zusammenarbeit und eine besondere Ausstattung erfordern. Dazu gehören unter anderem Krebserkrankungen, HIV/Aids, rheumatologische Erkrankungen, Herzinsuffizienz oder Multiple Sklerose sowie seltene Krankheiten beziehungsweise Erkrankungszustände wie zum Beispiel Mukoviszidose und Hämophilie. Der Gemeinsame Bundesausschuss regelt das Nähere.

Disease-Management-Programme (DMP)

DMP sind strukturierte Behandlungsprogramme für chronisch kranke Menschen. Durch eine strukturierte und kontinuierliche medizinische Betreuung sollen Folgeschäden vermieden und die Lebensqualität der Patienten erhalten oder verbessert werden.

Kollektivvertrag

Kollektivverträge sind von den Landesverbänden der Krankenkassen und den Ersatzkassen gemeinsam und einheitlich mit den Kassen(zahn)ärztlichen Vereinigungen und den Landeskrankenhausgesellschaften geschlossene Verträge über die Grundlagen der ambulanten und stationären Versorgung. In der vertragsärztlichen Versorgung wird die Gesamtvergütung auf der Grundlage des Bundesmantelvertrags und des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs in Kollektivverträgen vereinbart. In der stationären Versorgung werden die Grundlagen und Strukturen der Krankenhausbudgets ebenfalls kollektivvertraglich geregelt.

Selektivvertrag

Im Gegensatz zum Kollektivvertrag wird ein Selektivvertrag ohne gesetzliche Verpflichtung zwischen einer oder mehreren Krankenkassen und einzelnen Leistungserbringern oder Gruppen von Leistungserbringern geschlossen. Vertragspartner der Kassen können zum Beispiel Arztnetze, Medizinische Versorgungszentren oder auch pharmazeutische Unternehmen sowie Hersteller von Medizinprodukten sein. Die Einbindung von kollektiven Institutionen, wie beispielsweise Kassenärztliche Vereinigungen, ist nicht erforderlich. Für die Versicherten ist die Teilnahme an der selektivvertraglich vereinbarten Versorgung in der Regel freiwillig und mit einer zeitlich befristeten Einschreibung verbunden. Soweit Selektivverträge die Leistungen der kollektivvertraglichen Versorgung ersetzen, werden diese aus der an die Kassenärztlichen Vereinigungen zu zahlenden Gesamtvergütung herausgerechnet.

Quelle: AOK-Bundesverband, Lexikon

Birgit Schliemann leitet das Referat Verträge in der Geschäftsführungseinheit Versorgung beim AOK-Bundesverband.
Oliver Weiss ist Illustrator und Designer.