Prävention

Wissenschaft statt Querdenken

Während ein großer Teil der Bevölkerung im Kampf gegen Corona Einschränkungen in Kauf nimmt, gehen andere dagegen auf die Straße. Was das mit der Gesundheitskompetenz zu tun hat, erläutern Matthias Mohrmann und Prof. Dr. Kai Kolpatzik.

Das Interesse an Informationen

über die Corona-Pandemie ist groß: Mehr als 100 Millionen Mal wurde „Das Coronavirus-Update“ abgerufen (Stand 5/21). In diesem wöchentlichen NDR-Podcast berichten Professorin Sandra Ciesek und Professor Christian Drosten über die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse zu Covid-19, analysieren sie und ordnen sie ein. Andererseits gehen in vielen Städten Hunderte von Menschen ohne Masken auf sogenannte Querdenker-Demos. Dort schließen sich unter anderem Impfgegner und Corona-Leugner gegen die von der Bundesregierung verhängten Infektionsschutz-Maßnahmen zusammen.

Wissen bringt Akzeptanz.

Offenbar kommen wissenschaftlich fundierte Informationen über Sars-CoV-2 nicht bei allen Menschen gleichermaßen an. Dies hat Folgen für die Gesundheit. Denn um die Pandemie zu bewältigen, muss die Bevölkerung einen aktiven Beitrag zum Infektionsschutz leisten: Masken tragen, Abstand halten, Kontakte einschränken, Hygieneregeln beachten und sich impfen lassen. Nur so lässt sich das Virus effektiv bekämpfen.

Informationen über Covid-19 gibt es mehr als genug. Doch Qualität und Verständlichkeit lassen oft zu wünschen übrig.

Aktive Mitarbeit bedarf aber der Akzeptanz der Maßnahmen. Dies ist nur möglich mit Wissen zum Beispiel um die Übertragungswege des Virus und mit Verständnis für naturwissenschaftliche Zusammenhänge. Zudem müssen verschiedene Bevölkerungsgruppen in die Entscheidungen mit einbezogen werden, sodass die Maßnahmen nachvollziehbar und angemessen erscheinen.

Gesundheitskompetenz als Antwort.

Informationen zu Covid-19 gibt es mehr als genug. Doch Qualität und Verständlichkeit lassen oft zu wünschen übrig. So beklagte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bereits zu Beginn der Pandemie eine begleitende Infodemie mit Fake News und Verschwörungstheorien. Viele Menschen finden sich im Dickicht des Informationsdschungels nicht mehr zurecht. Ihnen fehlt das nötige Werkzeug, um Gesundheitsinformationen zu suchen, zu finden, zu bewerten und letztendlich anzuwenden.

Es mangelt in der Pandemie auch an Gesundheitskompetenz. Das führt dazu, dass Menschen gesundheitliche Risiken nicht richtig einschätzen und daher auch nicht eigenverantwortlich handeln können. Eine aktuelle AOK-Studie belegt: Mehr als die Hälfte (52,4 Prozent) der Deutschen hat eine eingeschränkte digitale Gesundheitskompetenz. Die größten Schwierigkeiten bereiten den Befragten die Auswahl der Informationen im Netz, die Nutzbarkeit im Alltag und die Bewertung der Verlässlichkeit (siehe Grafik: Studie zeigt Lücken bei digitaler Gesundheitskompetenz).

Handlungsbedarf deutlich gemacht.

Diese Ergebnisse zeigen, dass bei der digitalen Gesundheitskompetenz dringender Handlungsbedarf besteht. Das Ziel sind mündige, digitalversierte Bürger, die keine Mühe haben, an die richtigen Gesundheitsinformationen zu kommen. Jeder Einzelne muss dazu befähigt werden, wissensbasierte Entscheidungen für seine Gesundheit zu treffen. Dies erhöht die Chancengleichheit innerhalb der Gesellschaft maßgeblich. Denn wer eine hohe Gesundheitskompetenz hat, weiß verlässlicher, wie er Krankheiten vermeiden kann und an wen er sich im Krankheitsfall wenden muss. Er findet sich im Gesundheitssystem gut zurecht und verbessert den individuellen Gesundheitszustand.

Grafik: Lücken bei digitaler Gesundheitskompetenz

In der ersten bundesweiten repräsentativen Umfrage zur digitalen Gesundheitskompetenz hat die AOK 8.500 Frauen und Männer zum Umgang mit gesundheitsbezogenen digitalen Angeboten und Informationen befragen lassen. Die größten Schwierigkeiten bereiten den Befragten die Auswahl der Informationen im Netz, die Nutzbarkeit im Alltag und die Bewertung der Verlässlichkeit. Mehr als ein Viertel der Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer haben demnach Probleme, eine Auswahl in der großen Menge der gefundenen Infos zu treffen oder genau die Infos zu finden, die sie suchen (28,3 Prozent). Nahezu jeder Vierte hat bei der Anwendung von Gesundheitsinformationen im Alltag Schwierigkeiten. Fast die Hälfte der Befragten kann nicht beurteilen, ob eine Gesundheitsinformation zuverlässig ist. Vier von zehn Befragten können zudem nicht abschätzen, ob hinter der Information ein kommerzielles Interesse steckt.

Quelle: Kai Kolpatzik, Matthias Mohrmann, Hajo Zeeb (Hrsg.): Digitale Gesundheitskompetenz in Deutschland. Berlin, KomPart 2020.

So zeigen etwa Ergebnisse aus einem Kooperationsprojekt des Public Health Zentrums der Hochschule Fulda und des Interdisziplinären Zen­trums für Gesundheitskompetenzforschung der Universität Bielefeld auf Basis einer bundesweiten Online-Befragung während der Corona-Pandemie im Jahr 2020, dass Studierende mit einer hohen digitalen Gesundheitskompetenz auch ein höheres psychisches Wohlbefinden aufweisen (Dadaczynski et al., 2020).

Verunsicherung durch Infoflut.

Nicht nur die oben erwähnte AOK-Studie belegt große Defizite bei der digitalen Gesundheitskompetenz. Auch die Studie des Interdisziplinären Zentrums für Gesundheitskompetenzforschung bestätigt diese Ergebnisse (Schaeffer et al., 2021). Besonders ältere Menschen ab 65 Jahren (86 Prozent) weisen laut dieser Erhebung eine geringe digitale Gesundheitskompetenz auf. Eine Vergleichserhebung aus 2014 und 2020 zeigt zudem eine Verschlechterung der allgemeinen Gesundheitskompetenz: Wissenschaftler der Universität Bielefeld haben ermittelt, dass der Anteil der Bevölkerung mit einer eingeschränkten Gesundheitskompetenz von 54,3 auf 64,2 Prozent gestiegen ist (Hurrelmann et al., 2020). Auch nach Ergebnissen dieser Studie haben die älteren Bevölkerungsgruppen eine besonders niedrige Kompetenz. Alle Studien zeigen: Große Probleme bereitet den Befragten die Beurteilung von Informationen zu Gesundheitsfragen in den Medien. Diese Verunsicherung wird einheitlich auf die Zunahme von Informationen im Internet zurückgeführt.

Gesundheit als Bildungsverantwortung.

Bereits seit 2018 liegen mit dem Nationalen Aktionsplan Gesundheitskompetenz konkrete Handlungsempfehlungen zur Steigerung der Gesundheitskompetenz auf dem Tisch. Sie sind mit sieben weiteren, daraus abgeleiteten Strategiepapieren spezifiziert worden.

  • Klaus Hurrelmann, Julia Klinger, Doris Schaeffer: Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland – Vergleich der Erhebungen 2014 und 2020. Interdisziplinäres Zentrum für Gesundheitskompetenzforschung, Universität Bielefeld, 2020. Download
  • Kevin Dadaczynski, Orkan Okan, Melanie Messer, Katharina Rathmann: Digitale Gesundheitskompetenz von Studierenden in Deutschland. Ergebnisse einer bundesweiten Online-Befragung, 2020. Download
  • Doris Schaeffer, Eva-Maria Berens, Svea Gille, Lennert Griese, Julia Klinger, Steffen de Sombre, Dominique Vogt, Klaus Hurrelmann: Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland – vor und während der Corona Pandemie: Ergebnisse des HLS-GER 2. Interdisziplinäres Zentrum für Gesundheitskompetenzforschung, Universität Bielefeld, 2021. Download

Die Politik muss nun endlich sektoren- und ressortübergreifend handeln. Laut Schätzungen der WHO sind etwa drei bis fünf Prozent der Gesamtausgaben im Gesundheitswesen auf eine geringe Gesundheitskompetenz zurückzuführen. Das entspricht einer Summe von jährlich zwölf bis 20 Milliarden Euro in Deutschland. Die Förderung der Gesundheitskompetenz ist somit wichtiger denn je. Die Steigerung der Gesundheitskompetenz ist dabei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe: Gesundheit sollte als Bildungsverantwortung verstanden werden. Gesundheitsinformationen müssen zuverlässig und für alle Menschen leicht verständlich sowie leicht zugänglich sein – nicht nur, um die Pandemie zu bewältigen.

Matthias Mohrmann ist Mitglied des Vorstandes der AOK Rheinland/Hamburg.
Kai Kolpatzik, MPH, EMPH, leitet die Abteilung Prävention im AOK-Bundesverband.
Bildnachweis: Foto Startseite: iStock.com/Vladimir Vladimirov