Häusliche Pflege

Hilfe nach DIN-Standard

Hunderttausende Betreuungskräfte aus Osteuropa sorgen in deutschen Haushalten für hilfsbedürftige Menschen und wohnen bei ihnen. Doch der Markt ist komplett unreguliert, die meisten der Frauen und Männer arbeiten illegal in den Familien. Eine Expertengruppe hat nun einen DIN-Standard entwickelt, der Missstände vermeiden und mehr Qualität bringen soll. Von Thorsten Severin

Für Susanne Böhmer scheint nach rund einem Jahr doch noch alles gut zu werden. Mehr als zwölf Monate gab im Haus ihrer Eltern eine polnische Betreuungskraft der anderen die Klinke in die Hand. Es war ein ständiges Auf und Ab. Die erste sprach kaum Deutsch, eine andere reiste ohne Ankündigung ab und ließ ihre Eltern allein, einer weiteren wurden sämtliche Verrichtungen zu viel. Erst mit Joanna und Ewa wurde alles besser. Böhmer hofft nun, dass sie mit den beiden Polinnen zwei Stammbetreuerinnen für ihre 93-jährige bettlägerige Mutter im westfälischen Lippstadt gefunden hat, die sich alle sechs bis acht Wochen abwechseln.

Böhmer selbst lebt im Ruhrgebiet. Ihr Vater verstarb Ende vergangenen Jahres. Die Idee, es mit osteuropäischen Betreuungskräften zu versuchen, kam von ihm, als er noch nicht pflegebedürftig war. „Mein Vater hatte klar für sich entschieden, dass er nicht in ein Heim möchte“, erzählt die 49-Jährige. Die Empfehlung einer Bekannten für eine Vermittlungsagentur für Betreuungskräfte kam ihr da gerade recht.

Boom bei Betreuungskräften.

Wie Susanne Böhmer entscheiden sich viele Menschen für eine Betreuungskraft auf eigene Kosten, die Eltern oder andere Angehörige versorgt, mit ihnen spazieren geht, Spiele spielt, für sie einkauft und den Haushalt führt. Nach Schätzungen der Bochumer Professorin für Alterswissenschaften, Dr. Tanja Segmüller, sind 300.000 bis 500.000 Betreuungskräfte in deutschen Familien tätig. Sie stammen vornehmlich aus Osteuropa – aus Polen, Bulgarien Rumänien bis hin zur Ukraine. Der Bundesverband für häusliche Betreuung und Pflege (VHBP) geht sogar von rund 700.000 ausländischen Betreuungskräften im Laufe eines Jahres aus.

Für Böhmer ist die Vermittlungsagentur bei Fragen und Problemen rund um die Uhr erreichbar. Im Vertrag ist vorgesehen, dass die Betreuungskraft über kommunikative Deutschkenntnisse verfügen soll und auch Pflegeleistungen erbringt. Für Joanna und die anderen Frauen muss im Haus ein eigenes Zimmer und WLAN zur Verfügung stehen. Derlei Vorgaben gibt es in der Branche eher selten.

Illegal und schutzlos.

Zum großen Teil arbeiteten die Frauen und wenigen Männer in deutschen Haushalten „illegal und schutzlos“, beklagt der VHBP-Vorsitzende Daniel Schlör. Die meisten Schätzungen gingen von etwa 90 Prozent illegalen Beschäftigungsverhältnissen aus. Pflege-Expertin Segmüller weiß, dass viele der Betreuungspersonen ausgebeutet würden. „Oft müssen sie wie Haussklavinnen arbeiten und werden schlecht behandelt.“ Auf der anderen Seite aber gebe es auch Fälle, wo eine vermeintliche Helferin ihrer Verantwortung nicht nachkomme. „Da kommt es schon mal vor, dass eine Betreuungskraft eine demenzkranke Person im Gitterbett liegen lässt, während sie selbst in die Stadt geht.“

Es kommt daher zum großen Teil auf die Vermittlungsagentur an, gute und verlässliche Kräfte im Ausland zu finden, und zugleich für eine menschenwürdige Unterbringung und Arbeitszeit der Frauen zu sorgen. Laut Segmüller gibt es jedoch eine große Gruppe an Agenturen, die in erster Linie auf die Provision schielt. „Ob es in der Familiensituation mit der Betreuungsperson klappt oder nicht, ist diesen Agenturen relativ egal.“  

Wichtige Säule der Versorgung.

Die „Live-Ins“– wie die im Haushalt lebenden Hilfskräfte oft genannt werden – seien in den vergangenen Jahren zu einer wichtigen Säule der Versorgung geworden, weiß auch Christian Heerdt vom Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA). Oft werde jedoch „in einem Graubereich“ agiert. Da die Betreuung in der Privatheit des eigenen Zuhauses geleistet werde, bleibe die Ausgestaltung häufig eine „Black-Box“. „Es gibt in diesem Sektor nach wie vor Schwarzarbeit und Anbieter, die sich um das reine Vermittlungsgeschäft kümmern, aber nicht um eine adäquate Versorgung der Menschen und angemessene Arbeits- und Wohnbedingungen für die Betreuer“, sagt Katrin Andruschow von der Stiftung Warentest. Bei einer Untersuchung im Jahr 2017 seien „Defizite quer durch die Branche“ erkennbar geworden. Teils hätten die Vermittler mit ihren ausländischen Partnern nur sehr dürre Vereinbarungen getroffen, wie diese etwa eine passgenaue Auswahl und Qualifizierung ihrer Betreuungskräfte sicherstellen oder welche Anforderungen an den Dienstleistungsvertrag zu stellen sind.

Betreuungskräfte oft in Geldnöten.

Bei den Betreuungskräften handele es sich häufig selbst um Menschen in einer schwierigen Lebenssituation, die zu 98 Prozent an- oder ungelernt seien, erzählt Segmüller. Meist hätten sie einen ganz anderen Beruf, seien als Schneiderin, Bäuerin oder Büroangestellte tätig gewesen. Oft seien sie arbeitslos, hätten eine Familie zu ernähren und entschieden sich dann, für einige Zeit zum Arbeiten ins wohlhabende Deutschland zu gehen. „Ihre Passion ist meist nicht, Menschen zu pflegen, sonst hätten sie ja in ihrem Heimatland den Pflegeberuf ergriffen.“ In ihrer Not wenden sie sich an eine Agentur in ihrer Heimat, die mit einem Vermittlungsunternehmen in Deutschland zusammenarbeitet. Dabei könne es sein, dass sie an ein Büro gerieten, das dicke Provisionen einstreiche, sodass am Ende kaum Lohn übrigbleibe, sagt Segmüller.

Video-Interview mit Sven Nobereit, alternierender Vorsitzender des Verwaltungsrates der AOK PLUS über die AOK-Pflegeberatung:

Oliver Weiss, Geschäftsführer und Mitbegründer des Stuttgarter Pflegeunternehmens Mecasa, betont: „Am Ende steht und fällt es mit den Partnern im Ausland. Sie müssen vertrauenswürdig sein und qualitätsorientiert arbeiten.“ Sein Unternehmen zur Vermittlung von Betreuungskräften hat zehn Mitarbeiter und rund 150 Kunden, überwiegend im Südwesten Deutschlands. Mecasa sucht die Personaldienstleistungsunternehmen in Osteuropa nach einem bestimmten Prinzip aus. „Es gibt einmal jährlich ein Audit, was zum einen schriftlich und zum anderen auch persönlich vor Ort erfolgt“, erzählt Weiss. Der 31-Jährige und seine Mitarbeiter reisen oft selbst nach Polen, Bulgarien und Rumänien, um ihre Partner persönlich kennenzulernen, die Büroräume zu besichtigen, mit Mitarbeitern zu sprechen und sich Dokumente zeigen zu lassen.

Hinter dem 2016 gegründeten Start-up stehen die Erfahrungen, die Weiss und Mitbegründer Simon Spangenberg mit ihren eigenen Großeltern gemacht haben. „Wir haben bei unserer Oma und unserem Opa mitbekommen, was bei Pflege und Betreuung gut und was schlecht läuft, wo Hürden und Herausforderungen bestehen“, sagt Weiss.

Psychologisches Zuordnungssystem.

Um eine Betreuungskraft und die unterstützungsbedürftige Person zusammenzubringen, haben die Jungunternehmer gemeinsam mit der Uni Heidelberg ein psychologisches Zuordnungssystem entwickelt, für das sie Fördergelder von der Europäischen Union erhielten. Dabei geht es etwa um das Kommunikationsverhalten, welches sich der ältere Mensch wünscht: Lebt er eher zurückgezogen und möchte seine Ruhe haben oder wünscht er Ansprache und will unterhalten werden? Ein ganz großes Thema sei die Frage der Berührung in der Pflege, erzählt Weiss. „Handelt es sich um jemanden, der getröstet werden möchte, der Zuspruch braucht, der in den Arm genommen werden will. Oder ist es eher ein Mensch, der Wert auf Abstand legt, dem die persönliche Nähe nicht so wichtig ist?“ Solche Aspekte versuchen Weiss und sein Kollege im Vorfeld zu berücksichtigen. Dazu erhalten die unterstützungsbedürftigen Personen einen Fragebogen, ebenso die Betreuungskräfte. Letztere werden zudem noch bei einem Gespräch in Augenschein genommen.

Nach eigenen Angaben ist es dem Start-up auf diese Weise gelungen, die Wahrscheinlichkeit des Abbruchs einer Betreuungsbeziehung von mehr als 30 Prozent auf 17 Prozent zu senken. Allerdings: Zwischenmenschliche Probleme lassen sich im Endeffekt nie ganz ausschließen, wie Weiss betont. Und eher selten läuft es zwischen beiden so perfekt wie im Kinofilm „Ziemlich beste Freunde“.

„Am Ende steht und fällt es mit den Partnern im Ausland. Sie müssen vertrauenswürdig sein und qualitätsorientiert arbeiten.“

Auch Volkswirt Weiss stört es, dass der Bereich der Betreuung in den eigenen vier Wänden bislang völlig unreguliert ist. „Es herrschte quasi Wilder Westen.“ Das sei in diesem Sektor anders als etwa im Altenheim, wo eine dreijährige Ausbildung und eine Fachkraftquote von 50 Prozent gewährleistet sein müssten.

Arbeitsgruppe tagte eineinhalb Jahre.

Damit in den Sektor mehr Regeln einkehren, hat eine interdisziplinär besetzte Arbeitsgruppe einen Standard entwickelt, der in diesem Jahr vom Deutschen Institut für Normung (DIN) veröffentlicht wurde. Den Mecasa-Geschäftsführern ist es gelungen, für die Erarbeitung Pflegewissenschaftler, Verbraucherschützer, Juristen und auf Qualität bedachte Anbieter an einen Tisch zu holen. Neben Segmüller und Katrin Andruschow von der Stiftung Warentest gehörten auch das Kuratorium Deutsche Altershilfe, der DIN-Verbraucherrat, die Bundesinteressenvertretung für alte und pflegebetroffene Menschen und eine ganze Reihe von Wissenschaftlern dem Gremium an. Nach eineinhalb Jahren und 19 Sitzungen ist dabei der DIN SPEC 33454 herausgekommen – der erste DIN-Standard für die Vermittlung häuslicher Betreuungskräfte. „SPEC“ ist dabei die Abkürzung für das englische Wort „Specification“. Auf 35 Seiten beschreibt der Standard Anforderungen an Vermittler, Dienstleistungserbringer und Betreuungskräfte. Zertifiziert werden aber im Augenblick nur Unternehmen, die sich aus freien Stücken dazu entscheiden.

Die Betreuungsperson etwa muss volljährig und sollte nicht älter als 67 Jahre sein. Außerdem soll sie über eine ärztliche Unbedenklichkeitsbescheinigung und ein polizeiliches Führungszeugnis verfügen. Die deutsche Sprache muss sie mindestens auf Stufe A1 des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens beherrschen. Auch sollen die Sprachkenntnisse den Erwartungen des Kunden gerecht werden, die dieser gewünscht hat. Als personale Kompetenzen werden unter anderem genannt: Anpassungsfähigkeit, Eigenverantwortung, Leistungs- und Verantwortungsbereitschaft, Sorgfalt und ein grenzwahrendes Verhalten. Außerdem sollen die Betreuungspersonen über sozial-kommunikative Kompetenzen wie Einfühlungsvermögen, Kritikfähigkeit und interkulturelle Kompetenz verfügen. Ab dem 1. März 2022 müssen sie einen Kurs in Erster Hilfe nachweisen, der nicht länger als fünf Jahre zurückliegt.

Vorgaben für den Einsatzort.

DIN SPEC 33454 formuliert auch eine Reihe von Anforderungen an den Einsatz und den Einsatzort: Wie es bei Suanne Böhmer schon gewährleistet ist, muss für die Betreuungskraft ein eigenes Zimmer zur alleinigen Nutzung zur Verfügung stehen. Dort sollen mindestens ein Bett, Bettzeug, ein Schrank, Tisch und eine Sitzgelegenheit vorhanden sein. Der Wohnraum muss beheizbar, verschließbar sowie hygienisch einwandfrei sein. WLAN muss den ausländischen Helfern „uneingeschränkt und kostenfrei“ zur Verfügung stehen. Auch ein uneingeschränkter Zugang zur Toilette und zum Bad mit Dusche oder Badewanne soll möglich sein, wie auch der Zugang zur Küche und zu Kochgelegenheiten. Der DIN-Standard schreibt darüber hinaus vor, dass finanzielle Mittel zur Verfügung stehen, wie etwa ein angemessenes Haushaltsbudget für Mahlzeiten und gemeinsame Freizeitaktivitäten.

Ausflug auf den Bauernhof: Für gemeinsame Freizeitaktivitäten soll laut DIN-Standard ein Budget zur Verfügung stehen.

Auch die Anforderungen an die Vermittler haben das Zeug, die Branche umzukrempeln. Die Agenturen sollen auf ihrer Website und in Informationsmaterialien deutlich auf die Vermittlereigenschaft hinweisen. Außerdem müssen sie den Firmennamen sowie die vollständige Anschrift des Unternehmenssitzes sowie die Erreichbarkeit per Telefon und E-Mail hervorgehoben angeben. Der Vermittler muss zudem über eine Betriebshaftpflichtversicherung verfügen. Nicht zuletzt verlangt der DIN-Standard, dass die Vermittlungsunternehmen selbst ausgebildete Krankenschwestern und Altenpfleger beschäftigen. „Das ist für die Branche wirklich ein Paradigmenwechsel, denn es gibt große Anbieter mit vielen tausend Kunden, da sitzt keine einzige Pflegekraft im Team“, berichtet Weiss. Dem Standard zufolge muss der Kunde die Möglichkeit haben, mindestens einmal im Quartal mit einer examinierten Fachkraft zu sprechen. Eine 24-Stunden-Notrufnummer wird zur Pflicht.

Fachkraft soll Anfrage prüfen.

DIN SPEC 33454 enthält des weiteren die Vorgabe, dass jede Anfrage des Kunden durch eine Pflegefachkraft freigegeben werden muss. Sie muss bewerten, ob sie die Betreuung im häuslichen Umfeld befürwortet, ablehnt oder an Bedingungen knüpft. Eine solche kann etwa sein, dass zusätzlich ein Pflegedienst eingeschaltet wird. Ist der Pflegeaufwand für die Betreuungskraft zu hoch oder wird zu viel medizinisches Wissen benötigt, muss eine Anfrage auch mal abgelehnt werden. Ohnehin ist laut Weiss gewünscht, dass sich die im Haus lebende Betreuungsperson und ein ambulanter Pflegedienst ergänzen.

Weiss weist aber noch auf einen weiteren Punkt hin: „Es ist sehr klar vorgeschrieben, wie der Kunde aufgeklärt werden muss, welche Informationen er vorab erhalten soll und wie ihm die Preise kommuniziert werden müssen.“ So wird verlangt, dass schriftliche Verträge in Papierform geschlossen werden. „Das ist in der Branche nicht selbstverständlich“, erläutert Weiss. Einen Vertrag soll es auch nicht nur mit der Firma geben, die die Betreuungskraft aus dem Ausland beschäftigt, sondern gleichzeitig mit dem Vermittlungsunternehmen in Deutschland.

DEKRA überwacht Standard.

Die Prüfgesellschaft DEKRA hat sich bereit erklärt, die Einhaltung des Standards zu überwachen. In der Regel geschieht dies durch ein eintägiges Audit, das alle 18 Monate stattfindet. Dabei werden Prozesse und Kunden beispielhaft überprüft. An einer Zertifizierung interessierte Arbeitgeber könnten sich direkt mit einem Ansprechpartner von „DEKRA Certification“ in Verbindung setzen, sagt Expertin Saskia Weiger. Eine weitere Möglichkeit sei ein online verfügbares Webinar sowie eine Checkliste zur Zertifizierungsbereitschaft des Unternehmens. „Der DIN-Standard wird durch branchenspezifisch ausgebildete und erfahrene Auditoren in den Unternehmen überwacht und über ein Vier-Augen-Prinzip freigegeben“, erläutert die DEKRA-Prüferin.

Bald eine DIN-Norm?

„Es ist gut, dass es im Markt weiße Schafe gibt, die die Fahne hochhalten und über den Standard und die Zertifizierung die Spreu vom Weizen trennen wollen“, lobt Professorin Segmüller. Der DIN-Standard könne den Familien und den Anbietern Orientierung bieten. Es sei zu hoffen, „dass immer mehr Agenturen gezwungen sind, nachzuziehen“. Initiator Weiß ist sich sicher: „Je mehr Kundinnen und Kunden über diesen Standard Bescheid wissen und je mehr sie die Einhaltung der Vorgaben von ihrem Anbieter verlangen, desto höher ist der Druck, sich dem Standard zu beugen und danach zu arbeiten.“

Aktuell sind laut Weiss sechs Unternehmen nach dem DIN-Standard zertifiziert, weitere zwölf befinden sich im Prozess. Rund 400 kämen theoretisch infrage, doch handele es sich bei den meisten um Einpersonengesellschaften, die die Vorgaben wohl nicht erfüllen könnten. Rund 100 Agenturen fielen vermutlich in die Zielgruppe. Der Jungunternehmer hegt gar die Hoffnung, dass der freiwillige DIN-Standard irgendwann zu einer verpflichtenden „DIN-Norm“ weiterentwickelt wird. Das könne allerdings frühestens in zwei Jahren passieren, denn zuerst müssen Erfahrungen gesammelt werden.

Immerhin: Auch die Politik ist schon auf den DIN-Standard aufmerksam geworden. „Es kamen dazu Anfragen aus einem relevanten Ministerium“, erzählt Weiss. Zudem gibt es eine Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linken im Bundestag, in der sie auf den DIN-Standard verweist. Auch Christian Heerdt vom KDA sieht gute Chancen, dass die DIN ein „Anstoß für klare gesetzliche Regelungen und Rahmenbedingungen“ sein wird.

Noch ein langer Weg.

Doch es gibt auch Stimmen, die vor zu viel Euphorie warnen. „Der Standard ist ein Weg in die richtige Richtung, aber da ist noch viel Dunkel im Feld“, sagt Segmüller. „Wir sind da am Anfang der Bergbesteigung.“ Daniel Schlör vom Bundesverband für häusliche Betreuung und Pflege ist zwar überzeugt, dass mit dem DIN-Standard der „graue Pflegemarkt“ weiter ausgetrocknet werden kann. Das helfe, Qualität und Sicherheit für alle Seiten maßgeblich zu erhöhen. „Solange aber Schwarzarbeit flächendeckend geduldet und Familien keine entsprechende Rechtssicherheit geboten werden, wählen viele Familien den günstigeren Weg und damit die Illegalität“, dämpft er die Erwartungen. Seine Forderung: Die Betreuungskräfte sollten als arbeitnehmerähnliche Personen mit gesetzlichem Sozialversicherungsschutz anerkannt werden, so wie es in Österreich schon seit 2007 der Fall sei.
 
Bei echten Anstellungsverträgen gilt im übrigen das deutsche Arbeitszeitgesetz. Zwar wird die häusliche Betreuung oft auch als 24-Stunden-Betreuung bezeichnet, doch ist eine Rund-um-die-Uhr-Versorgung gar nicht erlaubt, wie die Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen betont. Die tägliche Arbeitszeit an Werktagen dürfe durchschnittlich nicht mehr als acht Stunden betragen, die Wochenarbeitszeit 48 Stunden nicht überschreiten. Bei einer Vollanstellung besteht zudem ein Urlaubsanspruch von mindestens 24 Tagen pro Jahr.

Es gilt der deutsche Mindestlohn.

Darüber hinaus muss bei Arbeitsverträgen der Mindestlohn gezahlt werden. Zusätzlich fallen die Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung und zur Berufsgenossenschaft sowie weitere Kosten an. Der Mindestlohn für eine 40-Stunden-Woche beträgt aktuell rund 1.560 Euro brutto. Allerdings: „Für einen solchen Betrag kommen heutzutage keine legalen Betreuungskräfte mehr nach Deutschland. Denn sie erwarten diesen Betrag netto, zuzüglich Kost und Logis“, sagt Frederic Seebohm vom VHBP. Für eine osteuropäische Hilfskraft ist laut Verbraucherzentrale insgesamt mit Kosten zwischen 2.000 und 3.000 Euro pro Monat zu rechnen.
 
Susanne Böhmer nimmt das notgedrungen in Kauf, wenngleich sie weiß, dass sich in der Realität die Arbeitszeiten bei der Betreuung einer pflegebedürftigen Person nicht immer genau einhalten lassen. Toilettengänge oder andere Dinge ließen sich eben nicht exakt planen. Trotz der nicht durchweg guten Erfahrungen mit den Betreuungskräften würde sie den Weg wieder einschlagen, um ihren Eltern das Heim zu ersparen. Und mit Joanna und Ewa läuft es nun sehr gut. „Beide kommen gerne zu uns“, freut sich Böhmer.

Thorsten Severin ist Redakteur der G+G.
Bildnachweis: Mecasa GmbH