Für Sie gelesen 4

Cover: Die großen Epidemien
Medizingeschichte

Schwere Seuchen im Spiegel der Zeit

Dank der Erfolge in Wissenschaft und Medizin wissen wir heute mehr über pathogene Keime und Impfstoffe als die Generationen vor uns. Dies kommt uns bei der Bekämpfung der aktuellen Covid-19-Pandemie zugute. Ein solches Glück hatten unsere Vorfahren nicht. Sie mussten mit Polio, der Spanischen Grippe, Pocken und anderen Plagen ohne dieses Wissen fertig werden. Die Journalistin Letizia Gabaglio blickt auf die Geschichte der wichtigsten Epidemien von der griechischen Antike bis heute und stellt sie übersichtlich in ein­zelnen Kapiteln vor. Sie spürt die Ursprünge auf, berichtet anschaulich, wie die Menschen schon damals mit Social Distancing und anderen Verhaltensweisen versucht haben, Infektionsketten zu unter­brechen, und analysiert leicht verständlich, wie jede einzelne Epidemie dem besseren Verständnis von Infektionen und der Arzneimittel- und Impfstoffentwicklung Vorschub geleistet hat. Inspirierende Denkanstöße liefern die zahlreichen Zusatzinformationen zu teils kontroversen medi­zinischen und gesellschaftlichen Aspekten zum Thema, wie dem Zusammenhang zwischen Pandemien und dem Verlust der Artenvielfalt, dem gewinnorientierten Handel mit Impfstoffen oder der Impfpriorisierung. Besonderer Hingucker sind die zahlreichen bunten Illustrationen von Maddalena Carrai, die jedes einzelne Thema gekonnt in Szene setzen.
Letizia Gabaglio, Maddalena Carrai: Die großen Epidemien. 2021. 128 Seiten. 14,90 Euro. Midas Verlag, Zürich.

Cover: Das Jahr­hundert der Pandemien
Pandemien

Augen öffnen für die Natur

Es ist ein Irrtum zu glauben, dass es ausreicht, den Erreger und die Ätiologie einer Krankheit zu kennen, um eine Pandemie unter Kontrolle zu bringen, stellt Mark Honigsbaum gleich in seinem Vorwort klar. Nur wenn die ökologischen, immunologischen und verhaltensbiologischen Faktoren, die das Auftauchen und die Verbreitung neuartiger Pathogene beeinflussen, mitberücksichtigt werden, kann es gelingen, Seuchen zu verhindern. In seinem gut recherchierten Buch liefert der Medizinhistoriker die Fakten für seine These. Für zehn bedeutsame Pandemien der vergangenen 100 Jahre zeichnet er in einer Mischung aus Reportage und Feature lebhaft und anschaulich die Ereignisse von den ersten Anzeichen bis zur globalen Verbreitung nach. Die Leserinnen und Leser erfahren, wie Patienten und Ärzte mit neuen besorgniserregenden Symp­tomen konfrontiert werden und Politiker und Wissenschaftler von Ängsten und Sorgen getrieben nach ge­eigneten Gegenmitteln suchen. Honigsbaum lässt die Leser teilhaben an den Entscheidungen und Abwägungen und bewertet aus der Rückschau die zahlreichen Irrwege, die dabei eingeschlagen worden sind. Ob Legionärskrankheit, Aids oder Ebola – jedes Mal wurde blind auf Technologien gesetzt, aber die Zeichen zugrundeliegender Wechselbeziehungen mit der Natur wurden ignoriert. Honigsbaums Buch fordert ein Umdenken.
Mark Honigsbaum: Das Jahr­hundert der Pandemien. 2021. 480 Seiten. 24 Euro. Piper Verlag, München.

Cover: Mein fremdes Kind.
Medienerziehung

Steiniger Weg raus aus der Spielsucht

Als Lennart mit zehn Jahren ein Smartphone erhält, ahnen seine Eltern nicht, dass ihr Sohn schon wenige Wochen später in den Bann von Brawl Stars und Fortnite gerät. Ein Jahr später müssen sie feststellen, dass sie ihn an das Internet verloren haben. Ein GAU, aus dem die Familie erst nach einer herausfordernden Therapie mit Schrecken davonkommt. Eindrucksvoll begibt sich die Mutter und Wissenschaftsjournalistin auf Spurensuche und beschreibt ehrlich und lebhaft, wie ihr Sohn trotz Kontrollmaßnahmen immer wieder Wege findet, diese zu umgehen. Sie erzählt von ihren Enttäuschungen über die Vertrauensbrüche sowie der Hilf- und Machtlosigkeit. Denn sie muss feststellen, dass selbst harmlos aussehende Onlinespiele Meisterwerke der psy­chischen Manipulation sind. Doch auch ihre eigene feh­lende Medienkompetenz und ihr Desinteresse gegenüber Computerspielen haben den Weg in die Spielsucht ihres Sohnes begünstigt, gibt sie selbstkritisch zu. Erst in der Therapie lernt sie, elterliche Verantwortung zu übernehmen. Am Ende ihres Buches gibt sie Eltern hilfreiche Ratschläge zur digitalen Medienerziehung an die Hand. Wertvoll sind zudem die zahlreichen Statements ihres Sohnes, in denen er seine Gefühle mitteilt. Sie helfen, Kinder und Jugendliche in ihrer digitalen Welt besser zu verstehen.
Ulrike Wolpers: Mein fremdes Kind. 2021. 304 Seiten. 18 Euro. Benevento Verlag, Elsbethen.

Cover: Das Leben ist ein vorübergehender Zustand
Pflegende Angehörige

Zwischen Fürsorge und Bevormundung

Wie fühlt es sich nach zwei Schlaganfällen an, nicht deutlich sprechen, gehen, lesen, schreiben, aber immer noch schnell denken zu können? Was macht dies mit einem zuvor mitten im Leben stehenden Mann? Und was macht dies mit seiner pflegenden Ehefrau, die ihn eigentlich verlassen wollte? „Erzähl es“, rät eine Freundin Gabriele von Arnim, der genau dieses Schicksal widerfuhr und die nun in einem bewegenden, sehr persönlichen Buch schonungslos den schmalen Grat zwischen Angst, Fürsorge und Bevormundung beschreibt. Ihr Werk ist weniger eine Aneinanderreihung von leidvollen und glücklichen Momenten in den „zehn elenden Jahren des Leidens und Kämpfens“, sondern vielmehr eine bildreiche, atmosphärisch dichte Beschreibung von Gefühlen und Empfindungen untermauert mit Zitaten aus der Literatur. Immer wieder begleitet von Arnim die Frage der Würde, wie es gelingen kann, das Schicksal anzunehmen und zu ertragen, ohne die eigene Haltung zu verlieren, den kranken Mann nicht zu vernachlässigen – und auch sich selbst nicht. Es ist ihr gelungen. „Wir haben das Trotzdem gelebt“, schreibt sie nach seinem Tod. Ein mitreißendes und einfühlsames Buch, in dem sich viele pflegende Angehörige wiederfinden werden.
Gabriele von Arnim: Das Leben ist ein vorübergehender Zustand. 2021. 240 Seiten. 22 Euro. Rowohlt, Hamburg.

Beate Ebbers ist freie Journalistin in Peine.