Interview

„Freude am Kopfkino wecken“

Bei der Lesefähigkeit bestehen in Deutschland große Unterschiede. Das hat auch Auswirkungen auf die Gesundheitskompetenz. Welche Defizite existieren und wie sie sich beheben lassen, erklärt der Autor und Psychotherapeut Michael Kortländer von der LegaKids-Stiftung.

Herr Kortländer, wie ist es um die Lesefähigkeit in Deutschland bestellt?

Michael Kortländer: Die PISA-Studie hat gezeigt, dass die Lesekompetenz von Kindern insgesamt leicht gestiegen ist. Doch die Unterschiede sind groß: bei den mittleren und vor allem bei den guten Lesern hat sie sich verbessert, während die schlechten Leser leider noch schlechter geworden sind. Auch die Lesehäufigkeit geht bei guten Lesern leicht nach oben, bei schlechten Lesern nimmt sie dagegen stark ab. Lesekompetenz ist abhängig von verschiedenen Faktoren, wie etwa dem Vorlesen zu Hause.

Foto von Michael Kortländer, Psychotherapeut

Zur Person

Michael Kortländer ist Psychotherapeut, Autor sowie Gründer und Geschäftsführer der LegaKids-Stiftung.

Vorlesen aus Büchern, wie etwa beim Vorlesetag im November, ist essenziell?

Kortländer: Ja. Die Eltern oder andere Personen als freudige Leser zu erleben, gemeinsam eine kuschelige Zeit mit Büchern zu verbringen, das motiviert Kinder zum Selberlesen. Durch das Vorlesen entsteht bei den Kindern ein Film im Kopf. Diese Freude am Kopfkino sollten Erwachsene bei Kindern wecken. Hier gibt es jedoch eine Bildungsschere: Je geringer das Bildungsniveau, desto weniger wird zu Hause vorgelesen.

Was hat Lesekompetenz mit Gesundheitskompetenz zu tun?

Kortländer: Das eigene und das gesellschaftliche Leben mitbestimmen zu können, hängt in hohem Maße von der Lesefähigkeit ab. Das gilt auch für Fragen der Ernährung, der Gesundheitsvorsorge oder der Hygiene. Es geht hier etwa um das Studieren von Koch­rezepten, Gesundheitstipps und Bei­packzetteln. Gerade jetzt in der Pandemie ist es wichtig, sich gut zu informieren. Sich auf YouTube-Filme verlassen zu müssen, kann zu sonderbaren Einschätzungen führen.

Wie groß ist das Ausmaß von Lese- und Rechtschreibschwäche bei Kindern in Deutschland?

Kortländer: Jedes fünfte Kind verlässt die Schule ohne ausreichende Lese- und Schreibkompetenzen. Aus medizinischer Sicht wird bei etwa vier Prozent der Kinder eine Lese-Rechtschreib-Störung angenommen. Die medizinische Diagnostik macht allerdings an einer beliebigen Stelle einen Schnitt zwischen Kindern mit und ohne eine sogenannte Störung. Schulen und Lehrer fühlen sich dann oft nicht mehr zuständig, weil sie sagen, für Kinder mit Störung sind wir nicht ausgebildet. Bei einem diagnostizierten Handicap sinkt zudem die Bereitschaft der Eltern, sich bei der Leseförderung des Kindes zu engagieren. Dabei könnte viel für die Betroffenen getan werden. Doch stattdessen verlieren die Kinder früh den Anschluss, sind gedemütigt, frustriert und leiden unter starken Selbstzweifeln.

Sich auf YouTube-Filme verlassen zu müssen, kann zu sonderbaren Einschätzungen führen.

Wie kann ihnen denn konkret geholfen werden?

Kortländer: Es geht zum einen um den Abbau von Vorurteilen. Betroffene Kinder sind weder faul noch dumm. Sie dürfen auch nicht als Legastheniker stigmatisiert werden, deren Schicksal es sei, niemals lesen zu können. Verbesserungen der schriftsprachlichen Kompetenz sind bei allen Mädchen und Jungen möglich. Zudem gilt es, die äußeren Ursachen anzupacken: Gleichschrittiges Lernen, unpassende Unterrichtsmethoden, bildungsferne Elternhäuser und nicht angemessen ausgebildete Lehrkräfte sind wesentliche Faktoren. In den Schulen müssen Fördermöglichkeiten für die Kinder geschaffen werden. Zudem brauchen die Eltern Unterstützung von außen, etwa durch die Schule, wenn Kinder nicht mit dem erwarteten Tempo und der erhofften Qualität lesen lernen.

Thorsten Severin führte das Interview. Er ist Redakteur der G+G.
Bildnachweis: LegaKids