Sprachbarrieren ade: Das medizinisch ausgebildete Team im Gesundheitskiosk spricht mehrere Sprachen.
Vernetzung

Gesundheit kommt zu den Menschen

Seit vier Jahren bietet ein Gesundheitskiosk im Hamburger Osten gesundheitliche Beratung und Hilfe an. Wie groß der Nutzen ist, macht die Evaluation des Projekts durch die Universität Hamburg deutlich. Von Tina Stähler

Die Elbphilharmonie,

Villen in Blankenese und Spaziergänge an der Alster – das sind Symbole, die mit der Schönheit und dem Reichtum Hamburgs in Verbindung gebracht werden. Nur gut acht Kilometer und doch eine ganze Welt entfernt liegt der Hamburger Osten mit den Stadtteilen Billstedt und Horn. Die Gegend zählt zu den ärmsten der Stadt, und das Durchschnittseinkommen liegt hier mehr als 40 Prozent unter dem Hamburger Durchschnitt. Überdurchschnittlich viele sozioökonomisch benachteiligte Menschen wie Arbeitslose, Empfänger von Entgeltersatzleistungen, Migranten, kinderreiche Familien, Alleinerziehende, Kinder in Mindestsicherung und Menschen mit niedrigeren Schulabschlüssen leben hier.

Zahlreiche Studien zeigen, dass Menschen mit niedrigem sozialen Status, Bildungsniveau und beruflicher Stellung, vermehrt an chronischen Krankheiten und Beschwerden leiden, ihre eigene Gesundheit und gesundheitsbezogene Lebensqualität schlechter einschätzen und ein erhöhtes vorzeitiges Sterberisiko haben. Auch fällt es ihnen oftmals schwerer, gesundheitsrelevante Informationen zu finden, zu verstehen, zu beurteilen und umzusetzen. Verschärft werden diese Probleme durch Defizite in der medizinischen Versorgung. So praktizieren in Billstedt und Horn deutlich weniger Fachärzte als in anderen Stadtteilen Hamburgs. 30.000 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren leben hier. Für ihre ärztliche Versorgung stehen gerade einmal drei Kinderarztpraxen zur Verfügung.

Ärztenetz schafft neue Versorgungsform.

Mit dem Ziel, die gesundheitlichen Chancen der Menschen im Hamburger Osten deutlich zu verbessern und die Versorgungsqualität vor Ort zu erhöhen, gründete die Gesundheit für Billstedt/Horn UG (GfBH UG) mit ihrem Hauptgesellschafter, dem Ärztenetz Billstedt­Horn, 2017 eine neue Versorgungsform: Invest – die Abkürzung steht für „Hamburg Billstedt/Horn als Prototyp für Integrierte Vollversorgung in deprivierten großstädtischen Regionen“. Gefördert wurde das Projekt knapp vier Jahre lang vom Innovationsfonds (Förderkennzeichen: 01NVF16025), der sich aus Mitteln der gesetzlichen Krankenversicherung speist. Seit Anfang 2020 finanziert die AOK Rheinland/Hamburg als eine von vier Krankenkassen die GfBH UG im Rahmen eines Selektivvertrags.

Für 30.000 Kinder in Billstedt und Horn stehen nur drei Kinderarztpraxen zur Verfügung.

Im Ärztenetz Billstedt/Horn e. V. haben sich 61 Ärzte aus insgesamt 27 Arztpraxen zusammengeschlossen. Mit vier Krankenhäusern, mehr als 100 Einrichtungen aus dem Sozialraum und zwölf stationären und ambulanten Pflegeeinrichtungen in Billstedt und Horn bestehen Kooperationsverträge. Für vulnerable Gruppen und Hochrisiko-Patienten mit chronischen Erkrankungen wie Diabetes oder COPD wurden eigene Behandlungs- und Versorgungsprogramme geschaffen.

Bedarfsorientierte Betreuung anbieten.

Herzstück dieser Versorgungsform ist der „Gesundheitskiosk“. Die Stadtteilinstitution liegt zentral am Marktplatz in Billstedt neben dem U-Bahneingang. Inspiriert wurde dieses Modell von niedrigschwelligen Versorgungsangeboten unter anderem aus Finnland, Kanada und Irland, die von sogenannten Community Health Nurses geleitet werden. Das sind hoch qualifizierte Pflegefachpersonen, die autonom zentrale Koordinations-, Steuerungs- und Leitungsfunktionen übernehmen. Der Gesundheitskiosk bietet den Bewohnern eine bedarfsorientierte und kontinuierliche Gesundheitsbetreuung in ihrer Muttersprache an. Über 50 Prozent der Bewohner von Billstedt und Horn haben einen Migrationshintergrund. Die Mitarbeiter sprechen neben Deutsch auch Türkisch, Russisch, Polnisch, Spanisch, Englisch, Portugiesisch, Dari und Farsi.

Angebot begleitet ärztliche Behandlung.

Die Leistungen im Gesundheitskiosk umfassen Beratungen zu Themen wie Prävention und Ernährung und beziehen oftmals die Angehörigen mit ein. So werden beispielsweise ärztliche Gespräche im Gesundheitskiosk vor- und nachbereitet, Versorgungspläne erarbeitet und Formulare für Pflege- oder Rehaanträge gemeinsam ausgefüllt. Der Gesundheitskiosk leitet seine Besucher an ärztliches Personal oder auch Hilfs- und Community-Einrichtungen für Pflegeberatung, Integrationskurse, Familien- und Erziehungsberatung weiter. Die Leistungen unterstützen die ärztliche Heilbehandlung, enthalten aber keine Sicherungs- und Risikoaufklärung für Behandlungen und Therapien sowie keine ärztliche oder therapeutische Beratung. Unterstützend zur Beratung bietet der Gesundheitskiosk regelmäßige Informationsveranstaltungen, Themenwochen, Schulungen und Kurse zu Gesundheitsthemen wie Übergewicht und gute Ernährung an.

Wer mit einer ärztlichen Überweisung kommt, nutzt das Angebot deutlich öfter.

„Der Gesundheitskiosk ist ein Angebot, das barrierefrei und auf Augenhöhe Gesundheitswissen vermittelt, die Gesundheitskompetenz stärkt und Orientierung in der Versorgung vor Ort gibt,“ sagt Matthias Mohrmann, Vorstandsmitglied der AOK Rheinland/Hamburg. Die Evaluation zeige, dass solche Angebote geeignet seien, die Versorgungssituation von Menschen in sozioökonomisch schwächeren Regionen nachhaltig zu verbessern. Ein wichtiger Erfolgsfaktor sei die Verzahnung kommunaler Versorgungsangebote mit denen der gesetzlichen Krankenversicherung und anderer Sozialleistungsträger.

Übergewicht als Beratungsgrund.

Aktuell betreut der Gesundheitskiosk knapp 4.000 gesetzlich Versicherte der insgesamt circa 110.000 Einwohner von Billstedt und Horn. Die meisten, etwa 60 Prozent, werden durch ihren behandelnden Arzt an den Gesundheitskiosk überwiesen. Jeweils ein Fünftel kommt auf eigene Initiative oder wird durch soziale Einrichtungen auf die Angebote des Gesundheitskiosks aufmerksam. Das haben Forscher des Hamburg Center for Health Economics (HCHE) an der Universität Hamburg in einer Langzeitstudie herausgefunden. Das HCHE hat den Gesundheitskiosk 18 Monate lang wissenschaftlich begleitet und dessen Arbeit evaluiert. In diesem Zeitraum wurden an die 8.000 Beratungsgespräche im Gesundheitskiosk geführt. Wer mit einer ärztlichen Überweisung zum Gesundheitskiosk kommt, nutzt das Angebot laut Erkenntnissen des HCHE signifikant öfter.

Weitere Ergebnisse: Mehr als jeder zweite teilnehmende Versicherte (57 Prozent) hat sich während der Projektlaufzeit mindestens einmal im Gesundheitskiosk beraten lassen. Im Durchschnitt nahmen Versicherte drei Beratungen in Anspruch. Fast jeder zweite Nutzer (40 Prozent) kam mit dem Anliegen „Übergewicht“ zum Gesundheitskiosk.

Bessere Versorgung für Patienten.

Nicht nur die Patienten selbst äußerten sich positiv über die Beratungsleistungen und berichteten von einem besseren Verständnis der ärztlichen Informationen (80 Prozent) und von Hinweisen, wie sie sich selbst helfen könnten (83 Prozent). Auch die teilnehmenden Ärzte sahen in der Arbeit des Gesundheitskiosks eine Arbeitserleichterung sowie eine verbesserte Versorgung für ihre Patienten. In Bezug auf die Rate der Krankenhauseinweisungen (ASK-Rate) in Billstedt und Horn im Vergleich zu anderen Hamburger Stadtteilen ergaben sich gegenüber der Vergleichsgruppe keine eindeutigen Effekte.

Mehr Informationen zum Gesundheitskiosk Billstedt-Horn:
 

Die Evaluation zeigt aber, dass die ASK-Rate im Zeitverlauf bei den Versicherten in Billstedt und Horn im Vergleich zu anderen Hamburger Stadtteilen gesunken ist. Der vereinfachte Zugang zur ambulanten Versorgung habe also auch die Kliniken, entlastet, bestätigt Professor Jonas Schreyögg, wissenschaftlicher Direktor am HCHE. Gleichzeitig stiegen die Arztbesuche in Billstedt und Horn im Evaluationszeitraum um durchschnittlich 1,9 Besuche pro Versichertem und Jahr.

„Auf Basis der bisherigen Evaluationsergebnisse empfehlen wir, das Projekt in die Regelversorgung zu überführen“, sagt Professorin Eva Wild, Projektleiterin der Studie am HCHE. Die verbesserte Versorgung und Zufriedenheit von Versicherten und Akteuren der Gesundheitsversorgung zeige schon jetzt, dass das Projekt ein Vorbild für andere sozial benachteiligte großstädtische Regionen in Deutschland sein könne.

Tina Stähler ist Redakteurin der G+G.
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