Die Anforderungen der Corona-Pandemie haben die Gesundheitsberufe an ihre Grenzen geführt. Kollegiale Unterstützung hilft, belastende Situationen zu meistern.
Second Victims

Hilfe für Corona-Helfer

Die Gesundheitsberufe sind von der Corona-Pandemie körperlich wie seelisch stark betroffen. Viele dieser Helfer brauchen Unterstützung, um das Erlebte zu verarbeiten und nicht selbst zum Opfer zu werden. Von Dr. Silke Heller-Jung

Die Bilder aus den ersten Monaten

der Corona-Pandemie haben sich ins Gedächtnis eingebrannt: Ärztinnen und Ärzte, die verzweifelt um das Leben ihrer Patientinnen und Patienten kämpften. Pflegekräfte, denen die Erschöpfung ins Gesicht geschrieben stand. Auch in Deutschland hat die Pandemie den Gesundheitsberufen sehr viel abverlangt. Viele Angehörige dieser Berufsgruppen haben sich selbst mit dem Virus angesteckt. Eine Auswertung der Arbeitsunfähigkeitsdaten von AOK-Mitgliedern für den Zeitraum von März bis Dezember 2020 durch das Wissenschaftliche Institut der AOK ergab, dass Beschäftigte in der Alten-, Gesundheits- und Krankenpflege überdurchschnittlich oft im Zusammenhang mit Covid-19 arbeitsunfähig waren.

Am Ende der Kräfte.

Auch die seelische Belastung hat bei vielen Beschäftigten tiefe Spuren hinterlassen. Der US-amerikanische Mediziner Albert Wu prägte im Jahr 2000 den Begriff „Second Victims“ für Behandler, die durch einen Fehler einen Patienten geschädigt hatten und darunter litten. Seit etwa einem Jahrzehnt wird der Begriff weiter gefasst und schließt nun Helfende aller Berufsgruppen ein, die durch eine außergewöhnliche Situation in der Patientenversorgung selbst traumatisiert werden.
 
Der Schritt, vom Behandler zum Patienten zu werden, ist mitunter sehr kurz. So zeigte etwa die Hälfte derer, die während der SARS-Pandemie im Jahr 2003 Erkrankte betreut hatten, akute psychische Reaktionen. Schon kurz nach Beginn der Corona-Pandemie, im Frühjahr 2020, warnte der International Council of Nurses (ICN), der Weltbund der Krankenschwestern und -pfleger, dass das Risiko von Burnout sowie posttraumatischen Belastungsstörungen unter den Pflegekräften stark ansteige.

Der Schritt, vom Behandler zum Patienten zu werden, ist mitunter sehr kurz.

In Deutschland nahmen zwischen Juni und August 2020 insgesamt rund 1.100 Ärzte an einer Online-Befragung der Wissensplattform Medscape teil. Gut die Hälfte von ihnen gab an, sich körperlich, emotional und mental erschöpft zu fühlen. Etwa jeder Zweite sagte, die Pandemie habe das Gefühl, ausgebrannt zu sein, verstärkt.

Psychische Narben.

Wie unterschiedlich Betroffene traumatische Erfahrungen verarbeiten, weiß Professor Reinhard Strametz. Der Notfallmediziner lehrt an der Hochschule RheinMain Medizin für Ökonomen und befasst sich seit Jahren mit dem Phänomen der Second Victims.

Manche Menschen, so Strametz in einem Interview mit dem Niedersächsischen Ärzteblatt, wüchsen an einer belastenden Situation und gingen gestärkt daraus hervor, andere trügen psychische Narben davon. Bis zu zwei Drittel aller Second Victims aber verarbeiten das Trauma dysfunktional. Sie reagieren mit Isolation und Rückzug, zweifeln an ihren beruflichen Fähigkeiten oder durchleben die Situation in Form von Flashbacks gedanklich immer wieder. Manche entwickeln Schlafstörungen, Depressionen oder eine posttraumatische Belastungsstörung. Andere versuchen, sich mit Alkohol oder Medikamenten zu betäuben. Im schlimmsten Falle kommt es sogar zum Suizid.

Was wirklich hilft.

Gemeinsam mit Wissenschaftlern der Charité, des Wiener Krankenhausverbundes und der Hochschule Mannheim hat Reinhard Strametz die Handlungsempfehlung „Stärkung der Resilienz von Behandelnden und Umgang mit Second Victims im Rahmen der Covid-19-Pandemie zur Sicherung der Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens“ erarbeitet, die das Aktionsbündnis Patientensicherheit im April 2020 veröffentlichte.
 
Darin raten die Autoren zu einer niederschwellig erreichbaren, rund um die Uhr verfügbaren, gestuften Kriseninterventionsstrategie, die Second Victims zeitnah dabei unterstützt, die traumatisierende Erfahrung zu verarbeiten.

Die Basis bildet dabei die kollegiale Hilfe innerhalb der Abteilung, die bei Bedarf um eine Krisenintervention durch ein Spezialteam ergänzt werden sollte. Reicht auch dies nicht aus, sollen die Betroffenen an externe Kriseninterventionskräfte und professionelle Strukturen, wie Seelsorge oder Sozialarbeit, weitergeleitet werden. Als hilfreiche Maßnahmen vor Ort empfehlen die Experten unter anderem die Möglichkeit einer kurzen Auszeit, aktive Gesprächsangebote im Kollegenkreis sowie routinemäßige „Debriefings“, also strukturierte Nachbesprechungen von besonders belastenden Situationen.

Wichtig sei auch, Emotionen und Ängste zuzulassen, Unterstützung anzubieten und jede Art von Herabwürdigung zu vermeiden. „Um Hilfe zu bitten ist kein Zeichen von Schwäche, sondern menschlich und verantwortungsbewusst gegenüber seinen Patienten“, betonen die Autoren. Im stark leistungsorientierten Gesundheitswesen falle es gerade Ärzten oft schwer, sich einzugestehen, dass sie Hilfe brauchen, erklärt Reinhard Strametz.

Hilfe zur Selbsthilfe.

Vor allem in den ersten Monaten der Pandemie war es um Hilfsangebote für die belasteten Helfer offenbar nicht gut bestellt. Bei einer Umfrage des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe (DBfK) im Dezember 2020 gaben 62,1 Prozent der Befragten an, in ihrer Einrichtung gebe es kein Angebot zur psychosozialen Unterstützung.

Im weiteren Verlauf der Corona-Pandemie richteten aber zahlreiche Kliniken psychosoziale Notfallprogramme für ihre Beschäftigten ein. Daneben können Angehörige der Gesundheitsberufe auch auf verschiedene Angebote der „Hilfe zur Selbsthilfe“ zurückgreifen: Die „Bundesvereinigung Stressbearbeitung nach belastenden Ereignissen (sbe) e. V.“ etwa bietet unter anderem einen Leitfaden für Entlastungsrunden im Krankenhaus zum Download an. Bei der telefonischen „Help­line“ des in München ansässigen gemeinnützigen Vereins „PSU Akut“ erhalten Angehörige der Gesundheitsberufe in Stress- und Belastungssituationen kollegiale Unterstützung. An junge Notärztinnen und -ärzte richtet sich das Projekt EMPTY (Emergency Medicine Problem Talk der Young DGINA), ein ehrenamtliches Betreuungsnetz von Gesprächspartnern, organisiert von jungen Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft für Interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin (DGINA).

Jeder Dritte denkt darüber nach, der Pflege den Rücken zu kehren.

Der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe richtete schon während der ersten Welle der Pandemie in Kooperation mit der Bundespsychotherapeutenkammer eine Telefonhotline für beruflich Pflegende ein.

Perspektiven schaffen.

Diese und weitere Hilfen sind, so scheint es, bitter nötig, je länger die Pandemie andauert. Zwar ergab eine interdisziplinäre Studie der Universität Erlangen-Nürnberg, dass während der ersten Pandemiewelle die psychische Belastung des medizinischen Fachpersonals im Vergleich zur allgemeinen Bevölkerung geringer ausfiel. Offenbar konnten die Beschäftigten zu diesem Zeitpunkt noch auf vorhandene Ressourcen zurückgreifen. „Diese scheinen jetzt zunehmend erschöpft zu sein“, mahnte der Direktor des Leibniz-Instituts für Resilienzforschung in Mainz, Professor Klaus Lieb, im Mai dieses Jahres.
 
Erhalten Second Victims keine wirksame Unterstützung, kann das nicht nur die individuelle Gesundheit der Betroffenen, sondern die Leistungsfähigkeit des gesamten Gesundheitssystems beeinträchtigen. Bei der DBfK-Umfrage unter Pflegeberuflern im Dezember 2020 sagte etwa jeder Dritte, er habe im Laufe der letzten zwölf Monate daran gedacht, dem Pflegeberuf den Rücken zu kehren.

Silke Heller-Jung hat in Frechen bei Köln ein Redaktionsbüro für Gesundheitsthemen.
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