Pflege

Heime müssen taggenau abrechnen

Pflegebedürftige müssen für das Freihalten eines Heimplatzes keine Reservierungsgebühr bezahlen. Heimbetreiber dürfen bei gesetzlich und privat Pflegeversicherten die anfallenden Heimkosten nur taggenau ab dem Einzug oder bis zum Auszug in Rechnung stellen. Das hat der Bundesgerichtshof klargestellt. Von Anja Mertens

Urteil vom 15. Juli 2021
– III ZR 225/20 –

Bundesgerichtshof

Einen Platz im Pflegeheim

zu finden, ist nicht leicht. Häufig müssen Heime Pflege­bedürftige vertrösten, weil sie über keine Plätze verfügen oder diese freilassen müssen, weil ihnen das Fachpersonal fehlt. Ein Heimplatz wird in der Regel erst dann frei, wenn eine Bewohnerin oder ein Bewohner stirbt. Viele Pflegebedürftige stehen auf einer Warteliste, und mancher Heimbetreiber stellt die Reservierung eines Platzes in Rechnung. Doch das ist prinzipiell nicht zulässig, urteilte nun der Bundesgerichtshof (BGH) – unabhängig davon, ob jemand gesetzlich oder privat pflegeversichert ist.

Klage gegen Vertragsklausel.

Geklagt hatte der vertretungsberechtigte Sohn einer inzwischen verstorbenen Frau, die im Januar 2016 pflegebedürftig wurde. Diese war zunächst kurzfristig in einem Heim untergebracht. Vor ihrem Umzug in ein Seniorenzentrum schloss ihr Sohn einen „Vertrag für vollstationäre Pflegeeinrichtungen“ ab dem 15. Februar 2016. Dieser Vertrag enthielt eine Klausel, nach der bis zum Einzug für das Freihalten des Zimmers täglich 75 Prozent der Pflegevergütung zu zahlen sei. Die pflege­bedürftige Frau zog am 29. Februar 2016 in die Einrichtung. Der für die Reservierung in Rechnung gestellte und rechnerisch korrekte Betrag in Höhe von 1.127,84 Euro, wurde zunächst bezahlt. Ende Dezember 2018 forderte jedoch der Sohn diesen Betrag zurück. Er machte geltend, dass dem Heim erst ab dem Aufnahmetag seiner Mutter eine Vergütung zustehe (Paragraf 87a SGB XI). Ab­weichende Vereinbarungen wie sie die Platzgebühr darstelle, seien unwirksam. Da das Heim die Rückzahlung verweigerte, klagte er.

Pflegeheime dürfen prinzipiell keine Reservierungsgebühr erheben, so die obersten Zivilrichter.

Das Amtsgericht gab ihm Recht und verurteilte die Trägerin des Seniorenzentrums antragsgemäß. Da­gegen legte die Beklagte Berufung ein. Das Landgericht änderte das erstinstanzliche Urteil ab und beschränkte den Rückzahlungsanspruch des Klägers auf 209,30 Euro für vom Heim zu Unrecht abgerechnete Investitionskosten. Im Übrigen war das Berufungsgericht der Auffassung, dass Paragraf 87a SGB XI nicht auf privat Versicherte anwendbar sei. In den Schutz der sozialen Pflegeversicherung des SGB XI wären kraft Gesetzes nur diejenigen einbezogen, die gesetzlich versichert seien.

Daraufhin legte der Sohn der Pflegebedürftigen Revision beim BGH ein und hatte Erfolg. Die obersten Zivilrichter entschieden, dass die Heimträgerin die erhobene Reservierungsgebühr voll­ständig zurückzahlen muss (Paragraf 812 Absatz 1 Bügerliches Gesetzbuch). In ihrer Begründung stellten sie zunächst klar, dass die Vorschriften des Wohn- und Betreuungsvertragsgesetzes (WBVG) anzuwenden seien. Denn die Beklagte habe sich gegenüber der pflegebedürf­tigen Mutter dazu verpflichtet, ihr ein Zimmer zu überlassen und Pflege- und Betreuungsleistungen zu erbringen. Die Vereinbarung einer Platz- oder Reservierungsgebühr sei mit Paragraf 15 des WBVG in Verbindung mit Paragraf 87a SGB XI unvereinbar und daher un­wirksam.

Vorgaben gelten für alle.

Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts umfasse der Anwendungsbereich des WBVG nicht nur Verbraucher, die Leistungen der sozialen Pflegeversicherung im Sinne des Paragrafen 28 SGB XI unmittelbar bezögen, sondern auch jene, die Leistungen einer privaten Pflegepflichtversicherung erhielten. Dafür sprächen nicht nur der enge systematische Zusammenhang und die leistungsmäßige Gleichstellung der sozialen und der privaten Pflegeversicherung (Paragraf 23 in Verbindung mit Paragraf 110 SGB XI), sondern vor allem auch der in der Gesetzesbegründung eindeutig zum Ausdruck gebrachte Wille des Gesetzgebers sowie Sinn und Zweck der Vorschrift.

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 Weitere Informationen über das Seminar

In der Gesetzesbegründung sei aus­geführt, dass mit Paragraf 15 WBVG eine Sonderregelung für das Verhältnis zwischen den vertraglichen Vereinbarungen von Unternehmer und Verbraucher und den gesetzlichen Regelungen des SGB XI geschaffen werde. Hiernach seien vertragliche Vereinbarungen unwirksam, die den Vorschriften des SGB XI sowie den aufgrund dieser Vorschriften getroffenen Regelungen nicht entsprächen. Erfasst würden mit Bezug auf die Regelungen des SGB XI auch die Fälle mittelbarer Leistungsinanspruchnahme im Rahmen der privaten Pflegepflichtversicherung.

Vorrang des Sozialrechts.

Dem in der Gesetzesbegründung betonten Zweck des Paragrafen 15 WBVG, den Vorrang der SGB XI-Regelung vor vertraglichen Vereinbarungen nach dem WBVG sicherzustellen und die Vorgaben des WBVG mit den leistungsrechtlichen Bestimmungen des SGB XI zu harmonisieren, sei nur dann umfassend Rechnung getragen, wenn der Anwendungsbereich der Norm auch auf die Fälle der mittelbaren Inanspruchnahme von Sozialleistungen nach dem SGB XI erstreckt werde. Andernfalls käme es zu einer kaum nachvollziehbaren Ungleichbehandlung der Privatversicherten, die hinsichtlich des Leistungsumfangs gleichgestellt seien. Dies aber habe der Gesetzgeber vermeiden wollen. Somit sei im vorliegenden Fall die Vereinbarung einer Platz- oder Reservierungsgebühr unwirksam.
 
Darüber hinaus verwies der BGH auf die mit den Kostenträgern vereinbarten Pflegesätze. Dort sei bereits eine „Auslastungskalkulation“ berücksichtigt. Wären Reservierungsgebühren erlaubt, bestehe die „naheliegende Gefahr“, dass Pflegeheime für Leerstände letztlich doppelt kassierten.

Anja Mertens ist Rechtsanwältin im Justiziariat des AOK-Bundesverbandes.
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