Normaler Ehekrach oder Ausübung von Gewalt? Der Unterschied wird Männern oft erst klar, wenn sie darüber reden.
Häusliche Gewalt

Männer als Opfer wahrnehmen

Wenn sich in Partnerschaften Aggressionen entladen, richten sich meist Männer gegen Frauen. Gar nicht so selten sind Männer aber Gewaltopfer. Auch für sie muss es deshalb niedrigschwellige Unterstützungsangebote geben. Von Ralf Ruhl

Paul ruft an.

Mit dem Handy eines Freundes. „Meins trackt sie ja sowieso.“ „Sie“, das ist seine Frau. Am Vortag hat sie ihm eine Kanne mit heißem Kaffee an den Kopf geworfen. Die ist zersplittert, er hat Schnitte im Gesicht davongetragen und Verbrennungen dritten Grades. Er war deswegen in der Notaufnahme, hat gesagt, er sei ungeschickt gewesen. Trotz der skeptischen Blicke der Ärztin. „Wer glaubt mir denn?“, ruft er fast verzweifelt. Paul ist 1,90 Meter groß und 95 Kilo schwer. „Das hatte ich doch schon einmal.“ Da hatte er die Polizei gerufen, als seine Frau ihn mit einem Messer angegriffen hatte. Er sei damals der Wohnung verwiesen worden. Weil seine Frau – deutlich kleiner und leichter als er – angegeben hatte, sie habe sich ja nur gewehrt. Die Polizei habe ihr geglaubt.

Nicht im Fokus der Öffentlichkeit.

Lebens- und Leidensgeschichten wie die von Paul hört Björn Süfke, Psychologe und Buchautor, täglich. Er ist Projektleiter des bundesweiten „Hilfetelefons Gewalt an Männern“ in Bielefeld (siehe Webtipps). „Männer sind als Opfer von Gewalttaten nicht im Fokus der Öffentlichkeit“, sagt er. Dabei zeigt es uns die Tagesschau jeden Abend. Ob gekenterte Flüchtlingsboote, rassistische Hetzjagden, Krieg, Banküberfälle, Schlägereien im Fußballstadion oder auf der Kirmes: Die meisten Opfer dieser Taten sind Männer. „Allerdings stellen sie auch den größten Teil der Täter“, betont er. „Männer üben massiv Gewalt gegen andere Männer aus.“

Grafik: Kriminalstatistik – Gewalt in Partnerschaften, Darstellung als Tabelle

In der Minderheit, aber nicht zu vernachlässigen: Männer als Opfer von Partnerschaftsgewalt. So verzeichnete im Jahr 2019 die Polizeiliche Kriminalstatistik 26.889 männliche und 114.903 weibliche Opfer. Bei Mord und Totschlag in Partnerschaften war fast ein Drittel der Opfer männlichen Geschlechts (93 von insgesamt 301). Bei anderen Delikten, wie beispielsweise Freiheitsberaubung, liegt ihr Anteil deutlich niedriger.

Quelle: Bundeskriminalamt, Berichtsjahr 2019

Auch im Bereich häuslicher Gewalt sind Männer vor allem Täter. Aber laut Kriminalstatistik von 2019 sind auch fast 20 Prozent der Opfer männlichen Geschlechts (siehe Kasten „Kriminalstatistik: Gewalt in Partnerschaften“). In absoluten Zahlen sind das knapp 27.000, die Größenordnung einer mittleren Kleinstadt. Jedes Jahr. Das sächsische „Lagebild Häusliche Gewalt“ von 2019 identifiziert sogar fast 30 Prozent der Betroffenen im sozialen Nahraum über 18 Jahren als Männer. Und es werden mehr: „Die Partnerschaftsgewalt zum Nachteil von Männern scheint von zunehmender Relevanz zu sein“, schreibt das Bundeskriminalamt in seinem Bericht.

Am Anfang stehen Drohungen.

Schläge, Tritte, Beißen und andere körperliche Angriffe stehen selten am Anfang. Auch Paul hat das so erlebt. „Sie hat mich als Versager beschimpft, wenn ich ihren Internet-Kaufrausch nicht bezahlen konnte. Ich war immer der Weichling und Schlappschwanz, wenn die Kinder nicht gehorcht haben.“ Der körperlichen Gewaltausübung gehen fast immer Erniedrigungen, Diffamierungen, Beleidigungen und Drohungen voraus. „Das kann über viele Monate oder Jahre gehen“, sagt Enrico Damme, Fachreferent Presse und Öffentlichkeit bei der Bundesfach- und Koordinierungsstelle Männergewaltschutz. Weiterhin hebt er die Isolierung des Mannes, das Abschneiden von Freunden und Verwandten hervor: „Das führt nicht selten zu depressiven Zuständen bis hin zu Suizidversuchen.“

Hilfsbedürftigkeit gilt als unmännlich.

Besonders ist jedoch die Drohung: „Du siehst deine Kinder nie wieder.“ Hier wende sich, so Süfke, die klassisch-patriarchale Ordnung gegen die Männer. Immer noch gehe die Gesellschaft davon aus, dass Kinder zur Mutter gehören und die Bindung der Kinder an die Mutter die stärkere und die wichtigere sei. „Das zeigen ja auch die Schwierigkeiten, nach einer Trennung oder Scheidung eine 50/50-Betreuung für die Kinder, das sogenannte Wechselmodell, zu etablieren“, meint Süfke.

Die Erpressung mit dem drohenden Kindesentzug ist auch für Paul der wesentliche Grund, warum er es seit Jahren mit einer Frau aushält, die ihn erniedrigt und misshandelt. „Meine Kinder nicht mehr jeden Tag zu sehen, das würde mir den Lebenssinn nehmen“, sagt er. Warum aber bleibt er, wehrt sich nicht, trennt sich nicht, sucht keine Hilfe vor Ort, scheut den Gang zum Rechtsanwalt, zur Polizei, zum Gericht? „Viele Männer erleben oder erwarten von vornherein, dass ihnen nicht geglaubt wird“, so Damme. Männer seien schließlich groß und stark, im Unterschied zu der vielleicht viel kleineren Partnerin. „Es gibt bei der Polizei, bei Ämtern und auch bei sozialen Einrichtungen und im Gesundheitsbereich eine höhere Sensibilität für Frauen als Opfer.“

Außerdem gelte das Eingestehen von Hilfsbedürftigkeit immer noch als unmännlich. Angebote anzunehmen ist daher schambehaftet.
 
Das ging auch Paul so. „Als ich die Nummer des Hilfetelefons zum ersten Mal gewählt hatte, habe ich sofort wieder aufgelegt“, erzählt er. Es habe mehrere Telefonate gebraucht, bis er Vertrauen zu der Person am anderen Ende der Leitung gefasst und seine Situation nicht mehr beschönigend dargestellt habe. Süfke sieht das als typisches Männerthema: „Frauen brauchen etwa neun Monate, bis sie sich wegen eines Problems Unterstützung holen. Bei Männern sind es durchschnittlich 69 Monate.“

Erst sei er nur durcheinander gewesen, hätte seine Situation gar nicht richtig beschreiben können, erinnert sich Paul. Er habe gedacht, ihre Streitereien seien normal, eben das, was es in jeder Beziehung gebe. „Wenn sie mich geohrfeigt hat, habe ich das auch als normalen Teil des Ehekrachs gesehen. Erst als es weiter eskalierte, als Teller flogen und zuletzt eben die Kaffeekanne, habe er gemerkt, dass da „etwas nicht normal“ sei. „Dass das Gewalt ist, was mir da angetan wird, habe ich erst begriffen, als ich darüber geredet habe.“

Angebote im sozialen Nahraum.

Dies sei besonders deutlich beim Thema sexuelle Gewalt. „Männer sagen, dass sie mit ihrem Babysitter Sex hatten, oder dass sie mit ihrer Mutter geschlafen haben. Dass es sich dabei um sexuelle Übergriffe oder Vergewaltigung handelt, deren Opfer sie geworden sind, können sie sich oft erst nach langer Zeit eingestehen,“ sagt Süfke. Langsamkeit sei daher in der Beratung mit Männern die Devise. Denn erst, wenn sie spüren und ihre Gefühle wahrnehmen, könnten sie erkennen, was sie wollen, ist Süfke überzeugt: „Erst dann lassen sich Handlungsoptionen und -strategien aufzeigen und durchspielen, die wirklich tragfähig sein können.“
 
„Männer brauchen zuerst einmal ein offenes Ohr, müssen erleben, dass ihnen geglaubt wird“, sagt Damme. Dafür seien niedrigschwellige Angebote wichtig. Er plädiert für Aktionen im sozialen Nahraum, im Bereich Sport oder in Vereinen. Sensibilisierung sei wichtig. Für die Opfer und für Menschen, die möglicherweise zeigen können, dass sie eine Notlage erkennen. „Da kann der Nachbar auch mal rübergehen und nach Salz fragen, wenn er hört, dass in der Wohnung immer wieder geschrien wird“, nennt er als Beispiel.

Neun Schutzwohnungen bundesweit.

Männer, die aus einer akuten Notlage fliehen müssen, können Unterstützung und Aufnahme in einer Männerschutzwohnung finden. Von denen gibt es allerdings erst neun. Im ganzen Bundesgebiet. Mit insgesamt 29 Plätzen für Betroffene und deren Kinder. Nach Angaben der Bundesfach- und Koordinierungsstelle Männergewaltschutz sind sie durchschnittlich zu zwei Dritteln belegt. Seit Oktober 2019 unterstützt das Bundes­familienministerium deren Austausch und Vernetzung. Die Einrichtung und der Betrieb sind aber Ländersache.

Ralf Ruhl ist freier Journalist mit Schwerpunkt auf Männer- und Familienthemen.
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