Mondpreise für Medikamente? Neue Lösungsansätze könnten Arzneimittelkosten senken.
Arzneimittel

Pillenpreise aus der Balance

Extrem teure Medikamente treiben die Ausgaben der Krankenkassen in die Höhe. Wie sich die Preise entwickelt haben und wie die Arzneitherapie künftig bezahlbar bleiben kann, beleuchtet der Arzneimittel-Kompass 2021. Von Dr. Melanie Schröder und Dr. Carsten Telschow

Dass ein Arzneimittel mehr als 100.000

oder sogar über eine Million Euro kostet, war noch vor wenigen Jahren kaum denkbar. Inzwischen veranschlagen Pharmahersteller jedoch immer öfter solche hohen Preise. Damit steigt auch der Durchschnittspreis von Medikamenten immer stärker an. Wie der Arzneimittel-Kompass 2021 zeigt, lag der Preis für eine Arzneimittelpackung 2011 bei durchschnittlich 180 Euro. Aktuell liegt er bei 1.225 Euro.
 
Der Anstieg ist im Patentmarkt und insbesondere bei Arzneimitteln, die in den letzten 36 Monaten auf den Markt gekommen sind, noch deutlicher (siehe Grafik „Neue Arzneimittel treiben Preise in die Höhe“): Während der durchschnittliche Packungspreis für patentgeschützte Arzneimittel 2011 noch 1.002 Euro und für Marktneueinführungen 902 Euro betrug, liegen mittlerweile die Durchschnittspreise im Patentmarkt bei 14.098 Euro und für Marktneueinführungen bei 51.189 Euro.

Preisspirale dreht sich weiter.

Jeder fünfte Wirkstoff erzielt inzwischen einen Packungspreis von 1.000 Euro. Vor zehn Jahren war es nur jeder zehnte. Und auch beim Umsatz steigt die Relevanz der hochpreisigen Präparate: Sie machten im Jahr 2020 rund 43 Prozent des gesamten Arzneimittelumsatzes der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) aus. Vor zehn Jahren lag ihr Anteil noch bei 17 Prozent. Bei Medikamenten zur Krebsbehandlung scheinen extrem hohe Preise weitgehend akzeptiert zu sein. Doch darüber hinaus tragen in immer mehr Indikationsgebieten einzelne hochpreisige Medikamente als „Preisanker“ zur Verteuerung der Therapien bei. Damit beeinflussen sie nicht nur die heutigen Preise und Umsätze. Da sich die Preise neuer Arzneimittel auch immer an den Preisen bereits vorhandener Vergleichstherapien orientieren, dreht sich die Preisspirale auch zukünftig in immer mehr Bereichen weiter nach oben.

Milliardengewinne auf Kassenkosten.

Bei einer solchen Preis- und Umsatzentwicklung ist es nicht verwunderlich, dass die weltweit Top-21-Pharmaunternehmen auch im Krisenjahr 2020 wieder Milliardengewinne eingefahren haben. Im Schnitt liegt die Gewinnmarge dieser 21 Unternehmen bei 25,7 Prozent. Damit gehören sie der Unternehmensberatung EY zufolge zu den profitabelsten Branchen. Einen Großteil der Umsätze erzielen sie dabei mit hochpreisigen Arzneimitteln: Rund drei Viertel der Nettokosten für hochpreisige Arzneimittel entfallen auf Präparate der Top-21-Pharma­unternehmen.

Mit dem Arzneimittel-Kompass 2021 startet eine neue Reihe, die jährlich fortgesetzt wird. Herausgeber sind das Wissenschaftliche Institut der AOK (Helmut Schröder, Dr. Melanie Schröder, Dr. Carsten Telschow), die Universität Witten/Herdecke (Prof. Petra Thürmann) und die Technische Universität Berlin (Prof. Reinhard Busse). Der Arzneimittel-Kompass trägt zur Transparenz und zur Sicherstellung einer bedarfsgerechten und wirtschaftlichen Versorgung bei. In einem jährlich wechselnden Schwerpunkt behandeln Autorinnen und Autoren mit unterschiedlichen Expertisen ein aktuelles und für die gesetzliche Krankenversicherung relevantes Thema.

Schröder/Thürmann/Telschow/Schröder/Busse (Hrsg.): Arzneimittel-Kompass 2021: Hochpreisige Arzneimittel – Herausforderung und Perspektiven. Springer Verlag. Open Access

Offenbar tragen gerade die hohen Preise neuer Arzneimittel und die dadurch seit Jahren kräftig steigenden Ausgaben der GKV wesentlich zu den traumhaften Gewinnmargen einiger Pharmakonzerne bei. Die Herausforderung besteht deshalb darin, die GKV finanziell nicht zu überfordern und den Pharmaunternehmen angemessene Gewinne zu ermöglichen. Doch was ist ein angemessener Preis für ein Arzneimittel? Konsens besteht darin, dass der Preis einerseits die Forschung und Entwicklung eines Arzneimittels adäquat honorieren sollte. Zugleich müssen Patientinnen und Patienten einen finanzierbaren Zugang zu dieser Therapie haben.

Interimspreis begrenzt Herstellermacht.

Die Beiträge der Expertinnen und Experten im Arzneimittel-Kompass 2021 zeigen zahlreiche und vielfältige Lösungsansätze auf. Zunächst liegen Justierungen am bestehenden gesetzlichen Rahmen in Deutschland nahe, also an den Regelungen des 2011 eingeführten Arzneimittelmarkt­neuordnungsgesetzes (AMNOG). Danach dürfen die Hersteller ein neues Arzneimittel unmittelbar nach der Zulassung mit dem von ihnen gewählten Preis auf den Markt bringen. Ärztinnen und Ärzte können das Präparat dann sofort verordnen, und die Krankenkassen müssen es erstatten. Die mit dem AMNOG eingeführte Preisverhandlung erfolgt innerhalb des ersten Jahres nach abgeschlossener Nutzenbewertung des Arzneimittels. Der verhandelte Erstattungsbetrag gilt zum 13. Monat nach Marktzutritt.

Ein Interimspreis in Verbindung mit einer Rückwirkung des Erstattungsbetrags könnte die Preissetzungsmacht des Herstellers im ersten Jahr eindämmen. Zudem könnten in den Vereinbarungen des Erstattungsbetrags innovative Mechanismen zum Zuge kommen. Dazu gehören beispielsweise Preis-Mengen-Vereinbarungen oder eine erfolgsabhängige Erstattung. Bei letzterer gilt im Prinzip: Nur, wenn das Arzneimittel auch tatsächlich die versprochene Wirkung entfaltet, wird der volle Preis gezahlt.

Forschungsförderung berücksichtigen.

Andere im Arzneimittel-Kompass beschriebene Lösungsansätze gehen das Thema grundsätzlicher an und geben Antworten auf folgende Fragen: Wie sollte geforscht werden und wie lässt sich diese Forschung finanzieren? Wie ist der Wettbewerb fairer zu gestalten? Gibt es eine Möglichkeit, einen für alle Seiten fairen Preis zu bestimmen?

Grafik: Neue Arzneimittel treiben Preise in die Höhe

In den vergangenen zehn Jahren haben sich die Arzneimittelpreise stetig nach oben bewegt. Einen großen Anteil an dieser Entwicklung haben neu auf den Markt gebrachte Medikamente und Patent-Arzneimittel. Lag der Preis für neue Arzneimittel 2011 noch bei durchschnittlich 902 Euro pro Packung, betrug er 2021 51.189 Euro. Bei den Patent-Arzneien stieg der mittlere Packungspreis von 1.002 auf 14.098 Euro.

Quelle: Arzneimittel-Kompass 2021

Im Bereich der Forschung und Entwicklung diskutieren Experten beispielsweise eine stärkere Berücksichtigung von öffentlicher Finanzierung. Gerade die Grundlagenforschung ist heute zu einem großen Anteil öffentlich finanziert. Damit die öffentliche Hand bei den Arzneimittelpreisen nicht doppelt zur Kasse gebeten wird, sollen die finanzierenden Institutionen durch Preisvorteile und Rückzahlungen Entlastung erfahren.

Auch eine Entkopplung des Innovations- und Produktionsprozesses könnte gemäß einem Vorschlag aus dem Arzneimittel-Kompass die Preise senken. Forschende Hersteller würden dann in Form von Prämien und Lizenzgebühren für die marktreife Entwicklung des Arzneimittels entlohnt. Die Produktion erfolgt jedoch unabhängig, auch von anderen Unternehmen und ähnlich kostengünstig wie im Generikamarkt. Der Wettbewerb setzt somit schneller ein und kann seine preissenkende Wirkung entfalten.

Rechenverfahren für faire Preise.

Die Preisbildung, die durch den „Wert“ des Arzneimittels für die behandelten Patienten und die Gesellschaft getrieben ist, könnte grundsätzlich eine andere Ausgestaltung haben. Die sogenannte Kosten-basierte Bepreisung beispielsweise setzt an den Entstehungskosten des Arzneimittels an.

Patienten müssen einen finanzierbaren Zugang zur Arzneitherapie haben.

Dass dies eine Möglichkeit sein kann, die zu einem für alle Seiten fairen Preis führt, zeigt ein Beitrag des Internationalen Verbands der Krankenkassenverbände und Krankenversicherungen auf Gegenseitigkeit (AIM) im Arzneimittel-Kompass: Mittels eines einfachen, effektiven und transparenten Rechenverfahrens lässt sich ein fairer Preis für Europa ermitteln. Dabei berücksichtigen die Experten die Kosten für die Entstehung (Forschung und Entwicklung, Produktion, Vertrieb), gewähren darauf einen Grundgewinn für das pharmazeutische Unternehmen und belohnen echte Innovationen mittels eines zusätzlichen Bonus von bis zu 40 Prozent der gesamten Kosten. Dieser Innovationsbonus soll eine Anreizwirkung zur Entwicklung therapeutisch innovativer Arzneimittel entfalten. Ein solchermaßen fairer Preis soll das gesellschaftlich erwünschte Gleichgewicht zwischen Bezahlbarkeit, Nutzen des Arzneimittels und den auskömmlichen Einnahmen der Industrie wiederherstellen.
 
Hohe Arzneimittelpreise fordern die GKV und die Gesellschaft heraus. Die Wissenschaft hat Lösungsansätze vorgelegt. Jetzt ist die Politik gefragt, diese Ansätze zu diskutieren und zu entscheiden, wie Arzneimittel-Therapien heute und zukünftig finanzierbar bleiben.

Melanie Schröder ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsbereich Arzneimittel des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO).
Carsten Telschow leitet den Forschungsbereich Arzneimittel im WIdO.
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