Arzthaftung

Regeln für die Patientenakte

Streiten sich Arzt und Patient, ob eine Behandlung fehlerhaft war, ist die Dokumentation ein wichtiges Beweismittel. Setzt die Praxis aber eine Software ein, die Änderungen nicht kenntlich macht, ist allein der Eintrag in die Patientenakte kein Beleg dafür, dass die Behandlung auch erfolgt ist. Das hat der Bundesgerichtshof klargestellt. Von Anja Mertens

Urteil vom 27. April 2021
– VI ZR 84/19 –

Bundesgerichtshof

Seit Inkrafttreten

des Patientenrechte­gesetzes 2013 sind die Dokumentationspflichten von Behandelnden gesetzlich geregelt (Paragraf 630f Bürgerliches Gesetzbuch). Diese Pflichten sollen Therapien nachvollziehbar machen und eine sachgerechte Weiterbehandlung ermöglichen. Zudem können Patientinnen und Patienten jederzeit ihre Patientenakte einsehen und die Behandlung durch ­einen anderen Arzt überprüfen lassen. Die Dokumentation dient folglich auch der Beweissicherung, beispielsweise im Falle des Vorwurfs einer fehlerhaften Behandlung.

Im Arzthaftungsprozess tragen grundsätzlich die Patienten die Beweislast. Nur unter engen Voraussetzungen greifen zu ihren Gunsten Beweiserleichterungen oder eine Umkehr der Beweislast. Besonders wichtig für den Verfahrensausgang ist eine rechtsfehlerfreie Beweiswürdigung. Welche Anforderungen daran zu stellen sind, wenn Ärzte in einer elektronischen Patientenakte eine nicht fälschungssichere Software benutzen, hatte nun der Bundes­gerichtshof (BGH) zu entscheiden.

Nach Netzhautablösung erblindet.

Dem Revisionsverfahren lag der Fall eines Mannes zugrunde, bei dem plötzlich schwarze Flecken im linken Auge auftraten. Er rief deshalb am 4. November 2013 bei seiner Augenärztin an und erhielt drei Tage später einen Termin. Er solle eine Fahrbegleitung mitbringen, da die Untersuchung das Sehvermögen für geraume Zeit einschränke. Nach der Untersuchung erklärte ihm die Ärztin, dass es sich um eine altersbedingte Erscheinung infolge einer Glaskörpertrübung handele. Er müsse sich keine Sorgen machen. Zur Dokumentation des Behandlungsablaufs in der elektronischen Patientenakte benutzte die Augenärztin eine Software, die nachträgliche Änderungen nicht kenntlich macht.

Die ärztliche Dokumentation einer Behandlung muss fälschungssicher sein, so die obersten Zivilrichter.

Monate später stellte ein Optiker bei ­einem Sehtest einen Netzhautriss fest. Der Mann suchte erneut die Augenärztin auf. Sie diagnostizierte eine Netzhaut­ablösung. Er müsse im Krankenhaus operiert werden. Nach der Operation traten Komplikationen auf, und er erblindete auf dem linken Auge. Daraufhin verklagte er die niedergelassene Augenärztin auf Schadenersatz wegen fehlerhafter Behandlung. Sie habe die Untersuchung ohne Pupillenweitstellung vorgenommen und daher die Netzhautablösung übersehen. Zudem habe sie ihn nicht informiert, dass er bei weiteren Beschwerden oder spätestens nach einem Jahr zur Kontrolle wieder in die Praxis kommen soll. Auch sei sie durch ihren Sohn, der im Behandlungszimmer gespielt habe, abgelenkt worden.
 
Mit seiner Klage scheiterte der Patient vor dem Landgericht und vor dem Oberlandesgericht (OLG). Seine Angaben sowie die seiner Ehefrau seien zwar nachvollziehbar und widerspruchsfrei, aber ihm sei der Beweis nicht gelungen. Aus der ärztlichen Dokumentation ginge hervor, dass eine Untersuchung unter Pupillenerweiterung gemacht worden sei. Dass keine fälschungssichere Software verwendet wurde, führe weder zu einer Beweislastumkehr noch dazu, dass der Dokumentation keine Indizwirkung für die Richtigkeit und Vollständigkeit des Eintrags zukomme. Auch gäbe es keine Anhaltspunkte dafür, dass der Eintrag nachträglich erfolgt sein könnte. Gegen diese Entscheidung legte der Patient Revision ein. Der BGH hob das Berufungsurteil auf und verwies den Fall zur erneuten Entscheidung an das OLG zurück.

Keine Umkehr der Beweislast.

Die obersten Zivilrichter folgten der Beurteilung des Berufungsgerichts, dass kein Behandlungsfehler wegen einer unterlassenen therapeutischen Information vorläge. Zwar hätte die Ärztin den Patienten auf die Notwendigkeit einer nachgehenden Kontrolluntersuchung hinweisen müssen. Allerdings hätte der für das Vorliegen eines Behandlungsfehlers beweisbelas­tete Patient nachweisen müssen, dass diese Information unterblieben sei.

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Den Beweis dafür habe er jedoch nicht erbracht. Auch greife in seinem Fall keine Umkehr der Beweislast. Eine Beweislastumkehr nach Paragraf 630h Absatz 3 BGB trete nur dann ein, wenn die Patientenakte abhandengekommen oder eine wesentliche medizinische Maßnahme nicht dokumentiert sei. Dies sei hier nicht der Fall.

Beweiswert fraglich.

Allerdings beanstandeten die obersten Zivilrichter die Auffassung der Vorinstanz, der Ärztin sei kein Befunderhebungsfehler unterlaufen. Rechtsfehlerhaft hätte das OLG aus dem Vermerk in der Behandlungsdokumentation geschlossen, die Untersuchung des Augenhintergrundes unter Weitstellung der Pupillen sei erfolgt.

Seit der Regelung, dass Änderungen nur noch zulässig sind, wenn der ursprüngliche Inhalt und der Zeitpunkt der Änderung erkennbar bleiben (Paragraf 630f Absatz 1 Satz 2 und 3 BGB), komme einer nicht fälschungs­sicheren Behandlungsdokumentation nicht mehr der volle Beweiswert zu. Anders als das Berufungsgericht meint, gelte dies auch dann, wenn der Patient keine greifbaren Anhaltspunkte dafür darlegt, dass die Dokumentation nachträglich zu seinen Lasten geändert worden sei.

Einer elektronischen Dokumentation fehle es gerade deshalb an der Zuverlässigkeit, weil sie Veränderungen so zulässt, dass sie unbemerkt bleiben. Der Patient stehe insoweit außerhalb des maßgeblichen Geschehens. Er werde deshalb regelmäßig nicht in der Lage sein, Anhaltspunkte für eine – bewusste oder versehentliche – nachträgliche Abänderung der elektronischen Dokumentation vorzutragen.
 
Die Tatsache der Verwendung einer nicht fälschungssicheren Dokumenta­tionssoftware müsse vom Gericht einer umfassenden und sorgfältigen, aber auch kritischen Beweiswürdigung unterzogen werden.

Anja Mertens ist Rechtsanwältin im Justiziariat des AOK-Bundesverbandes.
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