Mediennutzung

Allein vor dem Bildschirm

Internet- und Onlinespielsucht nehmen zu. Die Betroffenen isolieren sich vor ihrem PC, setzen soziale Beziehungen aufs Spiel, vernachlässigen Job, Schule oder Studium. Nach Jahren stehen sie oft vor einem Scherbenhaufen. Ein Online-Programm bahnt den Weg aus der Abhängigkeit. Von Thorsten Severin

Auf der To-do-Liste von Jens K. (Name geändert) wimmelt es an unerledigten Dingen. In seinem Studium kommt der 25-Jährige kaum voran, immer wieder erfüllt er Aufgaben nicht fristgerecht oder nur in schlechter Qualität, fällt durch Prüfungen und gefährdet damit seinen Abschluss. K. leidet an einer Sucht nach Online-Computerspielen und zieht sich permanent in die virtuelle Welt zurück. In der Regel spielt er die Nächte durch und schläft tagsüber. So gelingt es ihm, nicht ständig an den wachsenden Berg unerledigter Aufgaben denken zu müssen. Immer mehr kehrt K. seinem sozialen Umfeld den Rücken, es kommt vermehrt zu Konflikten mit der Familie. Irgendwann wird dem jungen Mann bewusst, dass es so nicht weitergehen kann.

Per Webcam bekommt er jetzt Hilfe durch das Team von Oberarzt Dr. Jan Dieris-Hirche, Leiter der Mediensuchtambulanz am LWL-Universitätsklinikum Bochum, das den Fall dokumentiert hat. Dieris-Hirche ist Leiter eines Projekts verschiedener Fachkliniken in Deutschland, genannt OMPRIS. Betroffene bekommen ein vierwöchiges Kompaktprogramm mit zwei einstündigen Terminen pro Woche. Dabei sollen ihnen Wege aus der Online-Sucht aufgezeigt werden.

Streetworking im Internet.

Als der Mediziner und seine Mitarbeiter im Jahr 2019 begannen, Internetsüchtige im Web zu beraten, schlug ihnen zunächst viel Verwunderung entgegen. Online-Therapien waren noch längst nicht so etabliert, wie sie es einige Zeit später durch die Corona-Pandemie wurden. Und zudem fragten sich viele: Ist eine Online-Therapie für Internetsüchtige nicht, als würde man versuchen, einen Alkoholiker mit Sekt zu heilen? „Nein“, sagt Dieris-Hirche. Vielmehr gehe es bei dem Programm darum, Betroffene „dort abzuholen, wo sie süchtig sind“. OMPRIS sei damit ein wenig „wie Streetworking im Internet“. Die Abkürzung steht für einen sperrigen Titel: „Onlinebasiertes Motivationsprogramm zur Reduktion des problematischen Medienkonsums und Stärkung der Veränderungsmotivation bei Computerspielabhängigkeit und Internetsucht“.

Wenn jemand täglich zwölf bis 14 Stunden am Computer spielt, finden normale Dinge des Alltags und auch des Erwachsenwerdens nicht statt.

Dr. Jan Dieris-Hirche, Leiter der Mediensuchtambulanz LWL-Universitätsklinikum Bochum Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie

Schon seit 2012 werden in Bochum Menschen mit Computerspielsucht behandelt. „Wir haben jedoch immer wieder das Problem, dass wir Betroffene mit unserer Ambulanz nicht gut erreichen“, berichtet Dieris-Hirche. Viele erschienen für ein Gespräch, sagten dann aber wegen fehlender Motivation, Scham oder mangelndem Problembewusstsein eine Therapieteilnahme ab. So wurde OMPRIS geboren. „Es soll eine Brücke bauen zwischen den Betroffenen vor ihren digitalen Endgeräten und der psychotherapeutischen Behandlung in Kliniken, Beratungsstellen oder Praxen.“

Mehr Süchtige durch Corona.

Wie eine kürzlich präsentierte Untersuchung des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) und der DAK-Gesundheit ergab, nutzen zurzeit 4,1 Prozent aller Zehn- bis 17-Jährigen in Deutschland Computerspiele in krankhafter Weise. Hochgerechnet sind das rund 220.000 Mädchen und Jungen, was im Vergleich zu 2019 und damit vor der Pandemie ein Zuwachs um 52 Prozent ist. Jungen sind mit 3,2 Prozent deutlich häufiger betroffen als Mädchen mit 0,9 Prozent. Beim Gaming beträgt die durchschnittliche Spielzeit pro Werktag inzwischen 109 Minuten. Im Social-Media-Bereich erhöhte sich der Anteil pathologischer Nutzer auf 4,6 Prozent, ein Plus von knapp 44 Prozent. Das entspricht fast 250.000 Betroffenen. Auch hier sind Jungen doppelt so oft abhängig wie Mädchen.

Den steigenden Trend zeigten bereits frühere Erhebungen, so eine im Dezember 2020 veröffentlichte Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Demnach traten computerspiel- und internetbezogene Störungen im Jahr 2019 bei 7,6 Prozent der Zwölf- bis 17-Jährigen auf. (2015: 5,7 Prozent). Von den 18- bis 25-Jährigen waren 4,1 Prozent betroffen (2015: 2,6 Prozent). Hinzu kommt bei vielen weiteren jungen Leuten eine problematische Nutzung, die sich jederzeit verschlimmern kann.

Computer und Internet nehmen im Leben junger Menschen eine bedeutende Rolle ein. Laut BZgA besitzen 93 Prozent der Zwölf- bis 19-Jährigen in Deutschland ein Smartphone mit Internetzugang, zwei Drittel haben einen eigenen Computer oder Laptop. Sie nutzen das Internet, um zu kommunizieren, sich zu informieren, um zu spielen, den Alltag zu organisieren oder einfach zur Unterhaltung. Die intensive Beschäftigung von Jugendlichen mit Computerspielen und Internetangeboten nehme in der Regel nach einiger Zeit von selbst wieder ab, sagt der Kommissarische Direktor der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), Professor Martin Dietrich.

Rund vier Prozent aller Zehn- bis 17-jährigen nutzen Computerspiele in einer krankhaften Art und Weise.

Eine exzessive Nutzung digitaler Medien bedeute nicht gleich, dass eine Medienabhängigkeit vorliege. „Grundsätzlich gilt jedoch, dass sich die Nutzung digitaler Medien problematisch entwickeln kann – die Übergänge zur Abhängigkeit sind da fließend.“

International anerkannte Störung.

In dem weltweit anerkannten und etablierten Klassifikationssystem für psychische Störungen DSM-5 wird die „Internet Gaming Disorder“ anhand von neun diagnostischen Kriterien beschrieben, von denen mindestens fünf über eine Periode von zwölf Monaten vorliegen müssen. Dazu gehört, dass sich Betroffene gedanklich andauernd mit Internet- beziehungsweise Online-Spielen beschäftigen (1). Die Spiele werden so zur dominierenden Aktivität des alltäglichen Lebens. Wenn sie die Angebote nicht nutzen können, erleben die Betroffenen Entzugssymptome, sind gereizt, ängstlich oder traurig (2). Es kommt zudem zu einer Toleranzentwicklung mit dem Bedürfnis, zunehmend Zeit für Online-Spiele aufzubringen (3). Versuche, die Teilnahme an den Games zu beenden oder die Aktivität einzuschränken, sind erfolglos (4). Außerdem verlieren die Betroffenen das Interesse an früheren Hobbys oder Aktivitäten (5). Und obwohl sie um die psychosozialen Probleme wissen, nutzen sie die Computerspiele immer weiter (6). Sie täuschen Familienmitglieder, Therapeuten und andere Personen wie Kollegen oder Mitschüler über den Umfang ihrer Nutzung von Online-Spielen (7). Diese werden nicht zuletzt genutzt, um negative Emotionen wie das Gefühl von Hilflosigkeit, Schuld oder Ängstlichkeit zu beenden oder zu lindern (8). Schließlich gefährden die Betroffenen durch das Spielen wichtige Beziehungen, ihren Arbeitsplatz oder Karrierechancen (9).
 
Psychologin Laura Bottel hat als Mitglied des Beratungsteams bei OMPRIS schon mit vielen verzweifelten Menschen online oder im direkten Kontakt zu tun gehabt. Entscheidend zur Diagnose einer Computerspielsucht sei, dass ein Kontrollverlust vorliege. „Die Betroffenen merken, dass soziale Kontakte leiden, dass sich Konsequenzen in Beruf, Schule oder Studium zeigen und trotzdem wird immer weiter gespielt.“ Bei der krankhaften Nutzung des Internets wiederum geht es oft um Internetpornografie, die teilweise rund um die Uhr die Nutzer in den Bann zieht und teils sogar am Arbeitsplatz konsumiert wird. Aber auch die Sucht nach sozialen Netzwerkseiten, nach Internet-Shopping oder Streaming kommt immer häufiger vor.

Im Mai 2019 hat die Weltgesundheitsversammlung die elfte Revision der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten (ICD) beschlossen. Vorausgegangen war eine zwölfjährige Entwicklungsarbeit von 96 Mitgliedsstaaten. Die ICD-11 umfasst rund 55.000 Krankheiten, Verletzungen und Todesursachen. Die Neufassung, die am 1. Januar 2022 in Kraft tritt, katalogisiert auch Störungen, die bislang noch nicht als solche anerkannt sind. Dazu zählen etwa ein zwanghaftes Sexualverhalten sowie Video- und Onlinespielsucht. Letztere liegt laut ICD vor, wenn in der Regel für mindestens zwölf Monate das Spielen Vorrang vor anderen Aspekten des Lebens hat und es zu „erheblichen Beeinträchtigungen in persönlichen, familiären, sozialen, schulischen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen“ kommt. Trotz negativer Folgen wird das Spielen weiter fortgeführt oder sogar ausgeweitet.
 
Ein wesentlicher Grund für die Revision der ICD war der Wunsch, spezielle Sachverhalte differenzierter als bisher verschlüsseln zu können. Für Deutschland war das inzwischen aufgelöste Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) an der Weiterentwicklung beteiligt. 2020 ging es im Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) auf.

Bottel kann die Beweggründe der Betroffenen durchaus nachvollziehen. „Gerade bei den Spielen ist es eine komplett andere Welt, die dort aufgebaut wird.“ Und das Ganze läuft letztlich nicht ohne soziale Kontakte ab: „Der Spieler spricht durchaus mit anderen Menschen, man sieht sich nur nicht direkt und lebt mit diesen vielleicht nicht in einem Land.“ Das Spielen könne daher bis zu einem gewissen Grad spaßig sein. „Gerade für Personen, die vielleicht Schwierigkeiten haben, im realen Leben mit Menschen in sozialen Kontakt zu kommen, bietet es Möglichkeiten.“ Doch dadurch blieben die User eben immer weiter online und bewegten sich wie in einem Teufelskreis, der sich ziemlich lange selbst bestärke.

Flucht aus der realen Welt.

Es gibt viele Gründe, warum Menschen in parallele Welten streben. „Oft ist es die Flucht in andere, virtuelle Räume, um sich den Schwierigkeiten in der realen Welt nicht stellen zu müssen“, sagt Bottel. Ursächlich könnten Ausgrenzungserfahrungen in der Schule, einschneidende Ereignisse wie die Scheidung der Eltern oder Konflikte in der Familie sein. Beim Gaming gibt es laut Bottel aber auch viele „spielimmanente Faktoren“, die zu einer Abhängigkeit führen können. Zum einen ist da die „Unendlichkeit“, denn die Spiele finden eigentlich nie einen Abschluss. Außerdem hätten die Games immer mehr von Glücksspielen, wenn es etwa darum gehe, an eine gute Ausrüstung zu kommen. Aber auch die Interaktion und das „In-Konkurrenz-Treten miteinander“ trügen ihren Teil zum Abhängigkeitspotenzial bei. Manche Spiele werben laut Bottel sogar direkt damit, dass das Spielen süchtig macht.

Laut BZgA-Chef Dietrich begünstigen vor allem der Einfluss des Freundeskreises und die emotionalen Veränderungen in der Pubertät, dass Jugendliche sich vermehrt in die digitale Welt flüchten und diese Medien auch dysfunktional nutzen. „Die Grenzen zwischen unproblematischen und pathologischem Nutzungsverhalten verschwimmen, und die mit digitalen Medien verbrachte Zeit steigt unbemerkt.“  

Irgendwann stellen die Betroffenen wie Jens K. fest, dass sie seit vielen Jahren studieren, aber nicht vorankommen, die Schulnoten schlecht sind, es ihnen an echten Freunden mangelt, kaum noch reale Kontakte vorhanden sind – oft selbst zur eigenen Familie nicht. Bei der Arbeit treten Probleme auf, weil sie unkonzentriert sind und nicht mehr die geforderte Leistung erbringen – zum Beispiel als Folge durchgemachter Nächte vor dem Computer. Ein Tag-Nacht-Rhythmus existiert oft nicht mehr. Manche haben ihren Job bereits verloren oder der Partner hat sich getrennt. Irgendwann ist dann eine Grenze überschritten und die Betroffenen leiden zunehmend unter ihrer Abhängigkeit. Oftmals seien es enge Kontaktpersonen, die die Internetnutzer dazu drängten, sich Hilfe zu suchen – etwa Lebenspartner, Eltern oder Angehörige, erläutert Bottel. Eine Veränderung aus eigener Kraft ist für die meisten Betroffenen eine unüberwindbare Herausforderung.

Mangel an ambulanten Hilfen.

Immerhin: Aufgrund der offiziellen Anerkennung als psychische Störung durch die Weltgesundheitsorganisation im Klassifikationssystem ICD-11 (siehe Kasten „Neuer ICD enthält Online-Spielsucht“) und Medienbeiträge ist das Thema gesellschaftlich bekannter geworden. Mehr und mehr Suchtkliniken, psychosomatische Krankenhäuser und Rehakliniken böten eine stationäre Behandlung für Menschen mit Internetnutzungsstörungen an, sagt Dieris-Hirche. Mit weiteren Fachleuten aus diesem Wissenschaftssektor arbeitet der Arzt an einer ersten medizinischen S1-Leitlinie zur Behandlung von Computerspiel- und anderen Internetnutzungsstörungen. „Es geht also langsam bergauf.“

Ein Tag-Nacht-Rhythmus existiert bei den Gamern oft nicht mehr.

Allerdings gebe es im ambulanten Sektor bislang kaum therapeutische Angebote jenseits von Spezialsprechstunden an den Unis, gibt der Psychotherapeut zu Bedenken. Bei ihm in Bochum existieren zwei ambulante Gruppenpsychotherapien für Menschen mit einer Computerspiel-Störung sowie mit Online-Pornografiesucht. „Zudem versuchen wir durch Fortbildungen auch immer mehr niedergelassene ambulante Psychotherapeuten für das Thema zu gewinnen und Behandlungskonzepte zu vermitteln.“ Eine anerkannte und evidenzbasierte medikamentöse Behandlung gegen die Mediensucht gebe es noch nicht. Zumeist würden auf Wunsch Arzneimittel gegen begleitende Störungen wie Depressionen, ADHS oder soziale Ängste eingesetzt, berichtet Dieris-Hirche.

Doch die Hemmschwelle für Betroffene, Beratungs- und Hilfsangebote aufzusuchen, ist groß. Oft vergehen Jahre, bis sich ein Internetsüchtiger zu diesem Schritt entschließt. OMPRIS will deshalb einen niedrigschwelligen Zugang ermöglichen. Für die Teilnahme infrage kämen sowohl Menschen, die vielleicht nur einmal kritisch ihren Smartphonekonsum reflektieren und dezent reduzieren wollten, als auch süchtige Menschen, die bereits in ihrer Isolation vor dem PC gefangen seien, sagt Dieris-Hirche. Inhaltlich setzt das Programm auf bewährte Interventionen aus der Verhaltenstherapie, der Medienpädagogik und der motivierenden Gesprächsführung. Zudem ist eine Sozialberatung integriert, die bei Problemen wie Verschuldung, Arbeitslosigkeit, Wohnungssuche oder dem Wunsch nach einer Umschulung hilft.

Programm dient als Motivations-Boost.

„Es geht nicht darum, eine Therapie zu ersetzen, sondern darum, einen ersten Zugang zum Hilfesystem zu schaffen“, erläutert Bottel. OMPRIS sei gedacht als ein „Motivations-Boost“, um dann weiter an sich zu arbeiten. Daher steht am Ende oft die Weitervermittlung an spezialisierte Anlaufstellen in der Nähe des Betroffenen. Ausschlusskriterien für die Teilnahme gibt es kaum, auch eine Depression ist kein Hinderungsgrund. Bei Suizidgedanken wird jedoch nach einer anderen Hilfe gesucht. Die Teilnehmer sollen zudem mindestens 16 sein, bei nicht volljährigen Personen müssen die Eltern ihr Einverständnis geben.

Insgesamt betreuen bei OMPRIS vier speziell geschulte Beraterinnen und Berater, die an unterschiedlichen Orten sitzen, die Hilfesuchenden. Zu dem Wissenschaftsnetzwerk gehören Kliniken und Universitäten aus Bochum, München, Duisburg-Essen, Dießen und Mainz. Finanziert wird OMPRIS durch Gelder des Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses im Umfang von 1,35 Millionen Euro für drei Jahre. Die Beratung läuft noch bis Oktober nächsten Jahres. Das Projekt wird wissenschaftlich begleitet und ab April 2022 ausgewertet. Die Teilnehmer füllen dazu vor, während sowie nach der Therapie Fragebögen aus.

Tagesstruktur fehlt oft.

Für die Teilnehmer geht es zuerst darum zu schauen, wo der Leidensdruck liegt und wo sie hinwollen, wie Bottel erläutert. Oft muss eine Tagesstruktur neu aufgebaut werden. Für viele stellt sich auch die Frage, was mit der frei werdenden Zeit passieren soll: Was gibt es für Alternativen zur exzessiven Internetnutzung? Was haben sie früher gerne gemacht? Was sind die eigenen Lebensziele? „Wenn ein Internet- oder Computerabhängiger täglich zwölf oder sogar 14 Stunden spielt und das über Jahre, dann führt das dazu, dass viele Dinge des Alltags und des Erwachsenwerdens nicht stattfinden, wie zum Beispiel wichtige zwischenmenschliche Erfahrungen“, sagt Dieris-Hirche. Andere Experten warnen gar vor einem Stillstand in der psychosozialen Reifung von Jugendlichen.

Als Alternative zum Online-Konsum sollte es mehr Offline-Aktivitäten in Familien geben.

„Die Teilnahme hat mir dabei geholfen, mir meiner Gedanken, Gefühle, Reaktionen und meines Tagesablaufs bewusster zu werden“, beschreibt ein Teilnehmer die Effekte. „Wir haben eine bessere Tagesstruktur sowie alternative Aktivitäten erarbeitet, die ich schrittweise in mein Leben integrieren kann.“ Doch sei es seiner Ansicht nach in den wenigen Wochen nicht möglich, sich ganz sicher zu sein, nicht wieder in alte Verhaltensweisen zurückzufallen. Er wolle nun weiter an sich arbeiten und gehe einmal pro Woche zur Psychotherapie. Darüber hinaus stehe in ein paar Monaten ein Aufenthalt in einer Suchtklinik an. Schon seit vielen Jahren habe er mit einem Kontrollverlust aufgrund seiner Onlinesucht zu kämpfen.

OMPRIS als festes Angebot?

Laut Bottel haben mehr als 2.100 User den vor der Beratung notwendigen, frei zugänglichen Selbsttest absolviert (www.onlinesucht-hilfe.com). Im Durchschnitt waren sie 28 Jahre alt. Über 130 Betroffene sind anschließend in das Programm gestartet. Auch wenn die genaue Auswertung noch aussteht: Die Rückmeldungen der Teilnehmenden an das Beratungsteam seien zumeist sehr gut, sagt Dieris-Hirche. Die Beraterinnen und Berater hätten den Eindruck, dass innerhalb von vier Wochen einiges veränderbar sei. Der Projektleiter hofft, dass nach positiver Evaluierung OMPRIS in die Regelversorgung überführt werden kann, also zu einem dauerhaften Angebot wird. „Da sind wir in Verhandlungen mit Beteiligten aus dem Gesundheitswesen, aber da haben wir noch einiges an Arbeit vor uns.“ Für seine Kollegin Bottel zeigt sich bereits, dass per Webcam durchaus ein intensives Arbeiten möglich ist. Langfristig erhofft sie sich, dass die Vorteile von Telemedizin stärker Beachtung finden.  

Innovationsfonds fördert weitere Hilfen.

OMPRIS ist nicht das einzige Programm, das Computerspiel- und Internetsüchtigen helfen soll. Vom Innovationsausschuss des GBA gefördert wird beispielsweise noch das Projekt SCAVIS, das im Rahmen des betrieblichen Gesundheitsmanagements für internetbezogene Störungen sensibilisiert. Außerdem gibt es „Res@t“, eine Interventions-App gegen medienbezogene Störungen.

Auch die BZgA unterstützt Jugendliche mit dem Angebot www.ins-netz-gehen.de. Dort finden sie Informationen zum Thema, einen Selbsttest, das anonyme und kostenfreie Verhaltensänderungsprogramm „Das andere Leben“ sowie eine Beratungsstellendatenbank mit Unterstützungsmöglichkeiten vor Ort. Die Bundeszentrale bietet zudem eine telefonische Beratung an, die auch von Angehörigen in Anspruch genommen werden kann.

Eltern können gegensteuern.

Doch was können Eltern tun, damit die eigenen Kinder gar nicht erst zu Internet- oder Computerspiel-Junkies werden? Wichtig sei, dass sie Interesse an der Mediennutzung zeigten, sagt Dietrich. „Sie sollten das Gespräch mit ihrem Kind suchen, sich offen austauschen und auch ihre Sorgen und Ängste klar kommunizieren.“ Als Alternative zum Online-Konsum eigne sich eine gemeinsame Familienzeit mit Offline-Aktivitäten. „Diese stärkt nicht nur die Eltern-Kind-Beziehung, sondern schafft auch unvergessliche Erinnerungen“, betont der BZgA-Chef. „Gemeinsam aufgestellte Regeln, die für alle Familienmitglieder gelten, helfen darüber hinaus, auch das eigene Mediennutzungsverhalten im Blick zu behalten.“ Psychologin Bottel verweist in diesem Zusammenhang auf die Vorbildfunktion der Eltern. „Sie sollten selbst darauf achten, zu welchen Zeiten sie das Handy in der Hand haben oder andere Medien nutzen.“ Auch sie plädiert für „medienfreie Zeiten“ daheim.

Medienerziehung ab dem Grundschulalter.

Für Dieris-Hirche ist eine frühe aktive Medienpädagogik schon ab der Grundschulzeit unerlässlich. „Wichtig ist, dass Familien sich selber Konzepte geben, wie sie mit den Medien, die sich ja auch immer schneller verändern, umgehen wollen, welche Regeln es altersangemessen geben soll und wie eine Begleitung durch die Eltern aussehen soll.“ Die Aushandlung sei manchmal anstrengend und brauche eine „ordentliche Portion Konsequenz“ der Eltern, die sich auch noch einig sein müssten.

Der Wissenschaftler weiß, dass die Corona-Pandemie die Situation in den Familien massiv verschärft hat, da Kinder viel mehr Online-Medien nutzen mussten und das Internet oftmals auch als Babysitter hergehalten habe. „Ich hoffe, dass Kinder und Jugendliche nun langsam realweltliche Hobbys wiederentdecken, wieder Fahrradfahren, Sportvereine besuchen, Schwimmen lernen und mit anderen Kindern auf der Straße spielen“, so Dieris-Hirche.

Thorsten Severin ist Redakteur der G+G.
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