Interview

„Der RSA bleibt ein lernendes System“

Das Bundesamt für Soziale Sicherung organisiert die Milliarden-Geldflüsse im Gesundheitswesen. Für BAS-Präsident Frank Plate steht die Konsolidierung der Finanzen der gesetzlichen Krankenversicherung und der Pflegeversicherung ganz oben auf der To- do-Liste der neuen Bundesregierung.

Herr Plate, die Corona-Krise hat auch Ihre Behörde in Atem gehalten. Sie mussten kurzfristig viele neue Aufgaben stemmen, darunter die Ausgleichszahlungen an die Krankenhäuser. Wie hat das geklappt?

Plate: Es galt, innerhalb kürzester Zeit über den Gesundheitsfonds neue und trotzdem sichere Zahlungswege zu installieren – und das alles mit Bordmitteln und dem vorhandenen Personal. Im Vergleich zu den Verfahren für Corona-Hilfszahlungen in anderen Bereichen hat das aber alles nahtlos funktioniert. Es gab keine Verzögerungen oder Störungen, obwohl zu dem Zeitpunkt etwa 90 Prozent unserer Beschäftigten im Homeoffice waren. Dieser Spagat ist uns dank sehr gut qualifizierter, motivierter und engagierter Mitarbeiter und einer passenden technischen Ausstattung gelungen. Wir pflegen eine entsprechende Vertrauenskultur. Unsere Erfahrungen mit Homeoffice oder Telearbeit waren schon vor der Krise gut. Das werden wir auch weiter fortsetzen.

Porträt von Frank Plate, BAS-Präsident

Zur Person

Frank Plate ist Jurist und seit 2015 Präsident des Bundesamtes für Soziale Sicherung in Bonn.

Das BAS hat in den vergangenen Jahren einen erheblichen Aufgabenzuwachs erfahren. Geht das auch mit mehr politischem Einfluss einher?

Plate: Als unabhängige Behörde nehmen wir unsere gesetzlichen Aufgaben neutral wahr. Wenn wir dabei Defizite feststellen, machen wir unsere Kritik geltend. Dann ist es natürlich hilfreich, wenn man auf politischer Ebene wahrgenommen wird. Im Sinne der Sache nehmen wir also gerne die Gelegenheit wahr, unsere Einschätzung zu gesetzlichen Vorgaben oder Regelungsmechanismen deutlich zu äußern. Indirekt sind wir damit durchaus politisch gewichtiger geworden. Es geht aber immer um eine rein fachliche Beurteilung.

Die GKV erhält 2022 rund 28,5 Milliarden Euro aus dem Haushalt des Bundes, davon 14 Milliarden als Sonderzuschuss. Kommen die Kassen damit gut durch das nächste Jahr?

Plate: Das ist in mehrfacher Hinsicht eine Blackbox. Nach wie vor können wir die Auswirkungen der Corona-Pandemie nicht abschätzen und damit auch nicht die Wirkungen der Leistungsgesetze, die zuletzt unter dem früheren Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, aber auch schon unter dessen Vorgänger Hermann Gröhe in Kraft getreten sind. Es werden ja zum Beispiel weiterhin viele Operationen zurückgestellt, und viele Untersuchungen finden nicht statt. Insofern war es für den GKV-Schätzerkreis im Oktober besonders schwierig, die Ausgabenentwicklung zu beurteilen. Für 2021 ist das trotzdem recht gut gelungen. Wir kommen damit über die Runden. Das gilt nach derzeitigem Stand auch für das nächste Jahr. Das schließt aber nicht aus, dass einzelne Kassen unterjährig ihren Zusatzbeitragssatz erhöhen müssen.

Aber es ist nicht erkennbar, dass dies massiv geschehen wird. Eine weitere Unwägbarkeit ist die RSA-Reform. Deren Wirkung wird sich erst im nächsten Jahr entfalten. Aber selbstverständlich besteht Handlungsbedarf in Sachen Konsolidierung der GKV-Finanzen. Der erhöhte Zuschuss ist ja eine einmalige Maßnahme, der Finanzbedarf aber bleibt dauerhaft.

Im Koalitionsvertrag der Ampelkoalition ist bereits die Rede von einem dynamischen Bundeszuschuss.

Plate: Der Bundeszuschuss betrug bei seiner Einführung im Jahr 2004 noch eine Milliarde Euro und hat sich inzwischen zu einer wichtigen Säule der Finanzierung der GKV entwickelt. Eine Dynamisierung ist grundsätzlich zu befürworten, er sollte immer die finanzielle Entwicklung insgesamt berücksichtigen.

Ist es nicht ärgerlich, dass angesichts der angespannten GKV-Finanzsituation auch die Bundesbank „Verwahrentgelte“ für dort geparktes Geld der Sozialversicherungen nimmt?

Plate: Auch wir sehen es kritisch, dass Geld der Beitragszahler ins Säckel des Bundes fließt. Das wird auch zwischen den beteiligten Ministerien durchaus kontrovers diskutiert. Aber bisher hat das noch nicht zu entsprechenden Maßnahmen geführt. Wir legen Geld, das bei uns eingeht, für wenige Tage, maximal für zwei Wochen an, natürlich immer unter den vorgegebenen Sicherheitsaspekten. Wir können am Markt aber kein Geld in dieser Größenordnung unterbringen. Ein größerer Anteil bleibt deshalb auf unserem Konto bei der Bundesbank, die ein Verwahrentgelt erhebt. 2015 wurden erstmalig Zinsen fällig – rund 2,5 Millionen Euro, verteilt auf Geldinstitute und Bundesbank. 2018 und 2019 waren es jeweils über neun Millionen Euro, 2020 schon über zehn Millionen und bis Ende 2021 erwarten wir ein ähnliches Ergebnis.

Sie haben bereits das Stichwort RSA genannt. Mit dem im April in Kraft getretenen GKV-FKG wurde der morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich ein weiteres Mal reformiert. Ist jetzt erst mal Ruhe?

Plate: Der Wissenschaftliche Beirat ist in seinen 2017 und 2018 vorgelegten Gutachten zur Wirkung des RSA und zur regionalen Verteilungswirkung zu dem Ergebnis gekommen, dass der Morbi-RSA grundsätzlich geeignet ist, Wettbewerb herzustellen, diesen möglichst gerecht zu steuern und dass insbesondere die Zuweisungen relativ zielgenau sind. Aber es wurden eben auch Verwerfungen festgestellt. Darauf hat der Gesetzgeber mit dem Einbau unterschiedlicher Reformmodule reagiert, darunter vor allem die Einführung eines Vollmodells mit Berücksichtigung aller Krankheiten, einer Regionalkomponente und eines Risikopools. Wir gehen nach den vorliegenden Erkenntnissen davon aus, dass die Deckungsquoten des RSA in seiner neuen Form relativ genau sein werden, sodass es die geringsten Über- und Unterdeckungen in der Geschichte des RSA geben wird. Das heißt, der Ausgleich wird kassenbezogen gerechter. Je näher sich die Zuweisungen auf den Bedarf zubewegen, um so besser wird er. Es gilt aber weiterhin der Grundsatz des „lernenden Systems RSA“. Insofern ist der Wissenschaftliche Beirat mit der fortlaufenden Evaluation der Reformen beauftragt.

Es gibt bisweilen Kritik an unterschiedlichen Aufsichtsentscheidungen für bundesunmittelbare Krankenkassen und Kassen unter Länderaufsicht. Wie beurteilen Sie die Gemengelage?

Plate: Seit nach den Lahnsteiner Beschlüssen 1996 der Wettbewerb eingeführt wurde, hat diese föderalistische Gemengelage eine neue Bedeutung gewonnen. Letztlich ist das Wettbewerbsthema in all seinen Facetten das Haupttummelfeld für unterschiedliche Rechtsauffassungen. Wir widmen uns dem Thema Wettbewerb sehr intensiv und haben dazu ja auch einen Sonderbericht herausgegeben. Es gibt nach wie vor Bereiche, in denen es unterschiedliche Gesetzesauslegungen gibt. Ein Beispiel ist das zuletzt intensiv diskutierte Sportthema. Das BAS ist der Auffassung, dass es nicht Aufgabe der Kassen ist, den Profisport zu fördern. Andere Aufsichten sehen das anders. Politisch wäre diese Gemengelage aufgelöst worden, wenn Herr Spahn sich mit seinem Vorstoß für eine Bundesunmittelbarkeit der AOKs durchgesetzt hätte. Das war aber gegen den Widerstand der Länder nicht möglich. Herausgekommen ist ein Kompromiss, wonach in einem einheitlichen Wettbewerbsraum eine deutlich bessere Zusammenarbeit zwischen den Aufsichtsbehörden stattfinden soll.

Gab es eine solche Abstimmung bisher denn nicht?

Plate: Bis dahin hat sozusagen jeder eher sein Ding gemacht. Man hat sich zweimal im Jahr zusammengefunden, um gemeinsame Rechtsauffassungen für bestimmte Themen zu finden. Aber dann wurde der Druck größer, den Wettbewerb besser in den Griff zu bekommen und Einheitlichkeit bei der Aufsicht herzustellen. Jetzt ist es so, dass wir uns mit neuen gesetzlichen Vorgaben regelmäßig treffen, fortlaufend gegenseitig über Satzungsgenehmigungen oder andere aufsichtsrechtliche Maßnahmen informieren, darüber diskutieren und dann versuchen, das zusammenzuführen. Der Austausch wird Corona-bedingt per Videokonferenz zurzeit erschwert.

Was wünschen Sie sich von der Ampelkoalition?

Plate: Neben einer Konsolidierung der GKV-Finanzen brauchen wir auch Sicherheit in der Pflegeversicherung. In diesem Jahr gab es ja erstmalig einen Bundeszuschuss zur Pflegeversicherung. Dennoch ist die Ausgabendeckungsquote gesenkt worden. Das System funktioniert zwar trotzdem, aber eine gesicherte Finanzierung muss auch hier her. Außerdem brauchen wir eine Reform des Vermögensrechts in der Sozialversicherung. Das haben wir bereits in der vorletzten Legislaturperiode angestoßen. Es gibt dazu sogar schon ausformulierte Gesetzgebungsvorschläge. Die Große Koalition wollte sich damit aber zum Schluss der Wahlperiode nicht mehr vertieft befassen, weil das ein schwieriges Feld ist.

Worum geht es bei diesem Thema?

Plate: Die Regelungen, nach denen die Sozialversicherungen ihre Gelder verwalten und anlegen dürfen, stammen aus den 1970er-Jahren. Sie entsprechen schon lange nicht mehr der Situation auf den Finanzmärkten. Im Vermögensrecht sind die Wertpapierformen, wie es sie heute gibt, überhaupt nicht abgebildet. Das muss dringend angepasst werden, um unter Berücksichtigung der notwendigen Sicherheit mehr Anlage- Spielräume zu erschließen und das Portfolio auf das moderne Finanzgeschäft umzustellen. Die Zuständigkeit liegt federführend beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales, weil das Vermögensrecht nicht nur für die GKV gilt, sondern auch für die Renten- und die Unfallversicherung. In der Rentenversicherung werden für die Nachhaltigkeitsrücklage auch sehr hohe Beträge angelegt. Wir suchen alle händeringend nach Anlagemöglichkeiten, um bessere Renditen zu erzielen, aber dennoch die Sicherheit der Gelder zu gewährleisten.

Ist das auf dem Finanzmarkt derzeit überhaupt möglich?

Plate: Die Finanzkrise 2008 hat auch die Sozialversicherungen getroffen. Da ist noch mal das Bewusstsein dafür geschärft worden, wie gut und sicher Anlagen sein müssen. Bei der jüngsten Krise um die Pleite der Greensill-Bank hat sich herausgestellt, dass es tatsächlich einen Lerneffekt gegeben hat. Alle haben sich an die Anlagevorschriften gehalten und Klumpenrisiko vermieden, also möglichst nicht viel oder alles an einer Stelle anzulegen und so einen möglichen Verlust so gering wie möglich zu halten. Hinzu kommt: Aktuell überlegen die Banken, die Sozialversicherungen als Körperschaften öffentlichen Rechtes aus der Einlagensicherung herauszunehmen. Wenn das geschieht, muss natürlich das gesamte System darauf schauen, ob und wie Anlagen noch besser gesichert und verteilt werden müssen – ein schwieriges Geschäft.

Thomas Rottschäfer führte das Interview. Er ist freier Journalist mit Schwerpunkt Gesundheitspolitik.
Bildnachweis: Bundesamt für Soziale Sicherung